Während Frau Doktor Winter mich untersucht, denke ich über das nach, was Sophie mir über meinen Unfall erzählt hat. Sehr langsam kommen die Erinnerungen daran zurück. Die Scheinwerfer, die so plötzlich aufgetaucht sind, das Geräusch des Aufpralls, der Schreck und dann der Schmerz, als wäre jeder einzelne Knochen meines Körpers gebrochen. Und dann Kilian, wie er mir über die Wange streicht.
Kilian?
»Kann ich von den Medikamenten Wahnvorstellungen bekommen?«, frage ich, was Doktor Winter innehalten lässt. Sie dreht sich um und bedeutet meiner Großmutter und meinen beiden Mitbewohnerinnen, den Raum zu verlassen. Erst dann lässt sie sich auf einen Hocker neben meinem Bett sinken und greift nach meiner Hand. Ihre Berührung ist so sanft, dass ich sie kaum spüre. Der erwartete Schmerz bleibt aus.
»Was meinen Sie denn zu sehen?«, fragt sie und klingt dabei ein bisschen so wie der Psychologe, den ich vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal getroffen habe. Der Psychologe, der später zu meinem schlimmsten Albtraum geworden ist. Reiner.
»Kilian, aber mit durchscheinendem Körper. Und er hat sich über mich gebeugt und über meine Wange gestrichen, und er sah so traurig aus, und ich weiß nicht, was das soll. Ich verstehe das einfach nicht!«, brabbele ich und habe keine Ahnung, warum ich ihr das alles erzähle. Muss wohl auch an den Medikamenten liegen. In nüchternem Zustand und unter normalen Umständen hätte ich es ihr garantiert nicht anvertraut. Ich kenne sie ja kaum fünf Minuten. Und warum himmele ich überhaupt einen Typen an, der mich eigentlich nicht ausstehen kann? Es ist mir fast peinlich, dass ich in den letzten Momenten des Bewusstseins nach dem Unfall an Kilian gedacht habe. Ausgerechnet an ihn!
Ich meine, Doktor Winter zusammenzucken zu sehen, in ihrem Blick mischt sich Entsetzen mit Panik, aber schon in der nächsten Sekunde hat sie sich wieder gefasst. Wahrscheinlich wieder eine Wahnvorstellung meinerseits. Sie lächelt noch immer, aber irgendetwas in ihrem Blick verrät mir, dass da mehr ist. Dass irgendetwas nicht stimmt.
»Sie haben sich den Kopf angeschlagen, Frau Hagen. Da bildet man sich manchmal solche Dinge ein«, sagt sie mit diesem Lächeln, als wäre ich ein dummes Kind, als würde sie mir etwas ganz bewusst verschweigen.
»Nein, ich bin mir sicher, dass er da war. Er sah so echt aus. So wie all die anderen Schattenmenschen«, sage ich und hätte mich selbst ohrfeigen können. Warum erzähle ich ihr das? Wenn ich weiterhin von Schattenmenschen spreche, lässt sie mich einweisen. Und das war’s dann mit meinem Studium und dem neuen glücklichen Leben … Anscheinend soll Kilian recht behalten.
»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Hagen. In Ihrem Zustand sollten Sie sich nicht aufregen«, sagt Doktor Winter und greift wieder nach meiner Hand. Ich ziehe sie weg, auch wenn alles in meinem Körper vor Schmerz aufschreit.
»Ich will ihn sehen. Ich muss mit Kilian sprechen. Er ist doch Ihr Sohn, oder nicht? Können Sie ihn nicht hierherholen?«, frage ich sie, und dieses Mal bin ich froh, dass ich es gesagt habe. Ich will ihn wirklich sehen und ihn zur Rede stellen. Nicht nur wegen dem, was kurz nach meinem Unfall passiert ist. Vielleicht habe ich mir das wirklich nur eingebildet, aber vor allem muss ich mit ihm über diesen Text sprechen, den er über mich geschrieben hat. Ich muss wissen, ob er mich wirklich gegoogelt hat. Und wieso er vor dem ganzen Kurs hat vorlesen müssen, was er dabei herausgefunden hat.
»Das halte ich für keine gute Idee. Zu viel Aufregung wird Ihnen nicht guttun«, sagt Doktor Winter und steht langsam auf. Sie wirkt so, als befände sie sich in einem Käfig mit einem wilden Tier, einer Löwin, die bei der kleinsten Bewegung auf sie losgehen könnte. Und so fühle ich mich im Moment auch, auch wenn jede einzelne Bewegung furchtbar schmerzt. Ob wirklich nichts gebrochen ist?
»Ich werde die Schwester anweisen, Ihnen etwas zur Beruhigung zu geben. Sie brauchen jetzt Schlaf, am besten schicke ich Ihre Familie nach Hause«, sagt sie und verlässt mein Zimmer. Ich habe gar keine Chance zu protestieren, und als in den nächsten paar Minuten die Tür wieder aufgeht, hoffe ich vergebens, dass es meine Großmutter ist. Stattdessen kommt eine junge Frau in Schwesternkluft herein, eine Spritze schon in der Hand. Weil ich Nadeln schon immer gehasst habe, versuche ich auszuweichen, doch die Schwester hat einen anderen Plan. Statt in meine Haut jagt sie die Spritze direkt in die Infusion, die über einen Katheter mit meiner Hand verbunden ist. Ich will danach greifen, will es rausreißen, fürchte mich aber gleichzeitig vor den Schmerzen. Also lass ich es passieren, auch weil ich den strengen Blick der Schwester auf mir spüre. Ich will nicht noch mehr Leuten hier Grund dazu geben zu glauben, dass ich verrückt bin. Also lege ich den Kopf zur Seite und beobachte die Infusion dabei, wie sie langsam in meine Hand läuft. Und irgendwann spüre ich, wie ich wieder in diesen schwerelos leichten Zustand zurückkehre, aus dem ich vor einer Viertelstunde erst erwacht bin. Und dann sind das Krankenhaus, die Schwester und meine Schmerzen wieder verschwunden.