Am Sonntagabend gehe ich spät ins Bett, weil ich so aufgeregt bin, wieder an die Akademie zurückzukehren, endlich Antworten zu bekommen. Morgen ist Montag, was bedeutet, dass ich Kilian in unserem Werkstattseminar wiedersehen werde. Und genau dann werde ich ihn fragen, was das zu bedeuten hat. Ich muss es einfach tun, auch auf die Gefahr hin, dass er mich einweisen lässt. Wäre ja nicht das erste Mal für mich … Knapp ein Jahr nachdem meine Mutter Reiner geheiratet hat, hat er mich in die Kinderpsychiatrie gefahren und so lange auf seine Kollegen eingeredet und dabei irgendwelche Symptome beschrieben, dass sie mich dortbehalten haben. Meine Mutter wusste davon nichts und durfte mich erst zwei Tage später wieder abholen, weil keiner der Psychologen etwas Ungewöhnliches an mir hat feststellen können. Das hätte meiner Mutter zu denken geben sollen, aber damals war sie regelrecht blind vor Liebe.
Irgendwann in der Nacht wache ich auf, weil mein Hals brennt. Wahrscheinlich habe ich seit Ewigkeiten nichts mehr getrunken. Verzweifelt suche ich in meinem Zimmer nach Wasser, taumle durch die Dunkelheit, und als ich endlich den Lichtschalter finde und mein Zimmer so hell wie seit Tagen nicht mehr erstrahlt, muss ich die Augen zukneifen. Als ich sie wieder öffne, brennen sie wie Feuer. Genauso hat es sich angefühlt, wenn Reiner mich endlich aus dem dunklen Keller gelassen hat. Nur dass ich dann die Wärme der Sonne auf meiner Haut gespürt habe, das Licht sanfter, weicher als das harsche Leuchten der Glühbirne über mir war. Und warm ist es auch nicht, vielmehr eiskalt, als hätte ich mein Fenster offen gelassen. Alle Wasserflaschen, die hier herumstehen, sind leer. Überhaupt sieht mein Zimmer im harten Licht der Lampe aus wie eine Müllhalde, mit dreckigem Geschirr, leeren Flaschen und Klamotten überall. Es ist wirklich unglaublich, in was mich diese Besessenheit, Antworten zu finden, verwandelt hat. Eine vollkommen Wahnsinnige, die sich nicht mehr aus ihrer Höhle traut. Jetzt muss es sein, weil mir der Hals brennt, als wäre ich mehrere Tage durch die Trockenheit der Wüste gewandert. Ich gebe mir Mühe, leise durch das Wohnzimmer zu laufen, um Mara und Alicia nicht zu wecken. Aber ich bin noch immer so neben der Spur, dass ich mehrmals gegen irgendwelche Möbel stoße.
Im Badezimmer fülle ich eine der leeren Flaschen auf und vermeide es, in den Spiegel zu blicken. Wahrscheinlich sehe ich nach dem Unfall vor zwei Wochen und den letzten Tagen des Wahnsinns mehr tot als lebendig aus. Darüber will ich jetzt nicht auch noch nachdenken, weil ich dann wirklich gar nicht mehr schlafen kann. Allein die Aufregung, Kilian endlich zur Rede zu stellen, lässt mein Herz schneller schlagen und vertreibt die Müdigkeit aus meinen geschundenen Knochen.
Darum kannst du dich auch morgen noch kümmern, sage ich mir, während eiskaltes Wasser meine Kehle hinabrinnt und das Brennen in meinem Hals löscht.
Auf dem Weg zurück in mein Zimmer fällt mein Blick auf Maras Skizzenblock, der auf dem Wohnzimmertisch liegt. Das Gesicht, das mir im Mondlicht von der aufgeschlagenen Seite entgegenblickt, ist mir mittlerweile fast so vertraut wie mein eigenes. Kilian. Immer wieder Kilian. Überall wo ich hingehe, scheint er mir zu folgen.
Langsam setze ich mich auf das Sofa und betrachte Kilians Porträt. Mara hat ihn fast genauso glorreich dargestellt, wie ich ihn gesehen habe, kurz nachdem ich mit dem Auto zusammengeprallt bin. Er wirkt durchscheinend und von einem seltsamen Licht umgeben, das seine dunklen Augen schimmern lässt. Mara hat Wasserfarben benutzt und es so aussehen lassen, als wäre um ihn herum ein ganzes Kerzenmeer erleuchtet. Vorsichtig fahre ich mit dem Finger seine Gesichtszüge nach, als wäre nicht Papier vor mir, sondern er selbst. Sie hat ihn perfekt getroffen, er ist so wunderschön, dass es mir die Sprache verschlägt.
Im nächsten Moment kämpft sich eine Erkenntnis mit aller Macht in mein Bewusstsein: Ich bin nicht die Einzige, die glaubt, dass etwas mit Kilian nicht stimmt. Mara sieht sie auch, diese seltsame Aura, die ihn umgibt. Kilian sieht aus wie ein Engel. Es fehlen nur noch die Flügel, dann wäre das Bild perfekt. Ich schlucke. Bilde ich mir das alles nur ein? Ist das ein Schachzug meines Unterbewusstseins, um mir die Angst vor morgen zu nehmen, die Angst vor der Konfrontation mit Kilian?
Weil ich keine Ahnung habe, was ich damit anfangen soll, beschließe ich, Mara am nächsten Tag darauf anzusprechen. Dieses Bild sieht so aus, als hätte sie fast genauso viel Zeit damit verbracht, Kilian anzustarren wie ich. Es ist so detailliert und genau, dass es beinahe wie ein Foto wirkt. Kilian so zu sehen, mit diesem schiefen Lächeln und den strahlenden Augen, ist merkwürdig. Wie er die Hand nach mir ausstreckt, als könne er jeden Moment aus dem Bild steigen. Ich habe ihn selten lachen sehen, die meisten unserer Begegnungen waren von Hass und Misstrauen geprägt. Auf Maras Bild kommt er mir fast wie ein Fremder vor, dennoch ist mir sein Strahlen so vertraut. Mit einem Mal ist mir diese seltsame Nähe unangenehm. Der echte Kilian hat sich für sein Verhalten mir gegenüber nämlich nicht entschuldigt und wird sicher genauso weitermachen wie bisher: mich ignorieren oder mir seinen Todesblick zuwerfen, wann immer sich unsere Wege kreuzen. Zumindest erwarte ich das, weil ich mir noch immer nicht sicher bin, ob sein Besuch im Krankenhaus tatsächlich real gewesen ist. Vermutlich ist er noch dasselbe Arschloch, das Dinge über mich erzählt hat, die ich niemals freiwillig mit meinen Kommilitonen geteilt hätte. Und das kann ich ihm nicht verzeihen. Nicht, solange ich nicht weiß, was ihn dazu bewogen hat. Und genau das werde ich morgen herausfinden. Ich will endlich Antworten auf all die Fragen, die mich seit Tagen herumwandeln lassen wie ein Zombie.
Es wird Zeit, dass ich endlich hier herauskomme und einen Blick auf die Vorlage für Maras Bild erhasche, um das Puzzle fertigzustellen.