47

Am Sonntagabend gehe ich spät ins Bett, weil ich so aufgeregt bin, wieder an die Akademie zurückzukehren, endlich Antworten zu bekommen. Morgen ist Montag, was bedeutet, dass ich Kilian in unserem Werkstattseminar wiedersehen werde. Und genau dann werde ich ihn fragen, was das zu bedeuten hat.

 

Irgendwann in der Nacht wache ich auf, weil mein Hals brennt. Wahrscheinlich habe ich seit Ewigkeiten nichts mehr getrunken. Verzweifelt suche ich in meinem Zimmer nach Wasser, taumle durch die Dunkelheit, und als ich endlich den Lichtschalter finde und mein Zimmer so hell wie seit Tagen nicht mehr erstrahlt, muss ich die Augen zukneifen. Als ich sie wieder öffne, brennen sie wie Feuer. Genauso hat es sich angefühlt, wenn Reiner mich endlich aus dem dunklen Keller gelassen hat. Nur dass ich dann die Wärme der Sonne auf meiner Haut gespürt habe, das Licht sanfter, weicher als das harsche Leuchten der Glühbirne über mir war. Und warm ist es auch nicht, vielmehr eiskalt, als hätte ich mein Fenster offen gelassen. Alle Wasserflaschen, die hier herumstehen, sind leer. Überhaupt sieht mein Zimmer im harten Licht

Im Badezimmer fülle ich eine der leeren Flaschen auf und vermeide es, in den Spiegel zu blicken. Wahrscheinlich sehe ich nach dem Unfall vor zwei Wochen und den letzten Tagen des Wahnsinns mehr tot als lebendig aus. Darüber will ich jetzt nicht auch noch nachdenken, weil ich dann wirklich gar nicht mehr schlafen kann. Allein die Aufregung, Kilian endlich zur Rede zu stellen, lässt mein Herz schneller schlagen und vertreibt die Müdigkeit aus meinen geschundenen Knochen.

Darum kannst du dich auch morgen noch kümmern, sage ich mir, während eiskaltes Wasser meine Kehle hinabrinnt und das Brennen in meinem Hals löscht.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer fällt mein Blick auf Maras Skizzenblock, der auf dem Wohnzimmertisch liegt. Das Gesicht, das mir im Mondlicht von der aufgeschlagenen Seite entgegenblickt, ist mir mittlerweile fast so vertraut wie mein eigenes. Kilian.

Langsam setze ich mich auf das Sofa und betrachte Kilians Porträt. Mara hat ihn fast genauso glorreich dargestellt, wie ich ihn gesehen habe, kurz nachdem ich mit dem Auto zusammengeprallt bin. Er wirkt durchscheinend und von einem seltsamen Licht umgeben, das seine dunklen Augen schimmern lässt. Mara hat Wasserfarben benutzt und es so aussehen lassen, als wäre um ihn herum ein ganzes Kerzenmeer erleuchtet. Vorsichtig fahre ich mit dem Finger seine Gesichtszüge nach, als wäre nicht Papier vor mir, sondern er selbst. Sie hat ihn perfekt getroffen, er ist so wunderschön, dass es mir die Sprache verschlägt.

Im nächsten Moment kämpft sich eine Erkenntnis mit aller Macht in mein Bewusstsein: Ich bin nicht die Einzige, die glaubt, dass etwas mit Kilian nicht stimmt. Mara sieht sie auch, diese seltsame Aura, die ihn umgibt. Kilian sieht aus wie ein Engel. Es fehlen nur noch die Flügel, dann wäre das Bild perfekt. Ich schlucke. Bilde ich mir das alles nur ein? Ist das ein Schachzug meines Unterbewusstseins, um mir die Angst vor morgen zu nehmen, die Angst vor der Konfrontation mit Kilian?

Weil ich keine Ahnung habe, was ich damit anfangen soll, beschließe ich, Mara am nächsten Tag darauf anzusprechen. Dieses Bild sieht so aus, als hätte sie fast genauso viel Zeit damit verbracht, Kilian anzustarren wie ich. Es ist so detailliert und genau, dass

Es wird Zeit, dass ich endlich hier herauskomme und einen Blick auf die Vorlage für Maras Bild erhasche, um das Puzzle fertigzustellen.