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Während ich den Nachmittag nutze, um meine Sachen auszupacken und mich in meinem neuen Zimmer einzurichten, füllt sich das Haus mit Leben. Irgendwie wünsche ich mir die Stille vom Morgen zurück, als noch niemand durch die altehrwürdigen Flure dieses Wohnheims gelaufen ist.

Das ist doch gut, rede ich mir ein, als es um mich herum lauter wird. Durch das geöffnete Fenster höre ich, wie sich Studenten und Eltern miteinander unterhalten, wie sie darüber diskutieren, wo was hingestellt werden soll. Ich höre sie schluchzen, wenn es Zeit wird, Abschied zu nehmen. Fast kann ich ihre Tränen auf meinen Wangen spüren. All das werde ich nie haben. Nicht so wirklich zumindest. Der Abschied von meinem Vater ist recht kurz verlaufen, schließlich kennen wir uns noch nicht so lang. Ich glaube, er ist froh, mich los zu sein. Nun wird bei ihm im Haus wieder eine bessere Stimmung einziehen. All das Drama ist vergessen, für ihn zumindest.

Denk nicht mehr daran.

»Ich bin hier, wer noch?«, ruft eine Stimme aus dem Wohnzimmer. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, auch wenn ich sie niemandem zuordnen kann. Offenbar ist auch meine zweite Mitbewohnerin eingetroffen. Bis auf die Koffer und Malutensilien habe ich von der ersten noch nicht viel gesehen. Nur gehört. Einen ziemlich fiesen Streit zwischen ihr und ihren Eltern; ein Streit von der Sorte, wie ich ihn nie hatte. Zum Glück.

»Wo sind meine Bitches? Na kommt schon raus, ich werde euch schon nicht beißen.«

Ihre Bitches? Die hat sie ja wohl nicht mehr alle!

Schritte nähern sich meiner Tür. Anscheinend trägt meine Mitbewohnerin ziemlich hohe Schuhe. Na,

Schwungvoll öffne ich die Tür und trete hinaus ins Wohnzimmer, das erfüllt ist vom Duft neuer Lederkoffer und von Parfüm.

Mit einer theatralischen Drehung wendet sich meine neue Mitbewohnerin mir zu und schenkt mir ein strahlendes Lächeln. Ich erstarre.

»Alicia Steinberg?«, fragt da eine andere Stimme ungläubig. Alicia Steinbergs Gesicht hellt sich auf, sie legt ein breites Lächeln wie aus einer Zahnpastawerbung auf: perfekte Zähne, strahlend weiß, blendend schön. Dann dreht sie sich zu unserer dritten Mitbewohnerin um.

»Ganz genau, meine Liebe«, flötet sie. »Ich liebe deine Haare! So rebellisch. Gefällt mir. Es muss Stunden gedauert haben, die so hinzubekommen. Fabelhaft!«

Alicia wickelt sich eine Strähne des dunkelblau gefärbten Haares unserer Mitbewohnerin um die Finger, hält sie prüfend ins Licht, ehe sie sich wieder mir zuwendet.

Noch immer trägt sie ihr Zahnpastalächeln, das einfach nur falsch sein kann. Niemand zeigt beim Lächeln so viele Zähne. Mit falschen Schlangen kenne ich mich nur zu gut aus, auch wenn sie nie das Schlimmste in meinem Leben waren. Die wirkliche Gefahr hat immer daheim gelauert, hinter einem riesigen Eichenschreibtisch mit blitzenden blauen Augen und einer

Na vielen Dank auch, dass mir nichts erspart bleibt!

Es wird ziemlich schwer werden, mich hier an der Akademie vor meiner Mitbewohnerin zu verstecken, geschweige denn ihr aus dem Weg zu gehen. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, lässt sie von unserer Mitbewohnerin ab und nimmt nun mich in Augenschein. Wenn es irgend möglich ist, verbreitert sich ihr Lächeln noch mehr.

»Look at you, darlin’! Du rockst den sexy Bibliothekarinnen-Look, Mädchen.« Alicia Steinberg klatscht begeistert in die Hände und mustert mich von oben bis unten. Ich drücke meine Fingernägel fest in meine Handinnenflächen. »Oh, ich habe das Gefühl, dass wir viel Spaß miteinander haben werden, Ladys.«

Wieder erklingen Schritte im Flur. Ein in Anzug gekleideter Mitfünfziger erscheint, schwer schnaufend, mit mehreren Koffern im Schlepptau.

»Das waren die letzten, Fräulein Steinberg. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

Mir klappt die Kinnlade runter. Hat sie sich etwa einen Bediensteten mitgebracht? Wo soll der denn bitte wohnen? In ihrem Kleiderschrank? Halt, bei der Anzahl an Koffern wird da wohl kaum Platz für etwas anderes sein.

»Nein, das wäre alles. Gute Fahrt, Bernhard«, zwitschert Alicia und winkt dem Mann freundlich zu.

Ich zwicke mir in den Arm. Das kann doch bloß ein Traum sein! Bitte sag mir, dass das ein Traum ist.

»Also, wer seid ihr, und was sind die besten Kleider, die ihr mitgebracht habt?«, fragt Alicia, als wäre nichts geschehen.

Shit, kein Traum.

Ganz ruhig.

»Alicia Steinberg …«, sagt das Mädchen mit den blauen Haaren und starrt unsere Mitbewohnerin noch immer völlig verdattert an. Wahrscheinlich sehe ich selbst nicht viel besser aus. Das alles ist so surreal, dass ich keine Ahnung habe, was ich denken soll. Vor ein paar Tagen noch habe ich Alicia im Fernsehen gesehen. An der Seite ihres Bruders Caspar, den meine Schwester Helena so anbetet. Und jetzt steht sie hier vor mir? Unmöglich.

»Mund zu, es zieht, Blue«, sagt Alicia, während sie von mir zu unserer Mitbewohnerin und wieder zurückblickt. »Muss man euch wirklich alles aus der Nase ziehen?«

Mit geschürzten Lippen verschränkt sie die Arme vor der Brust. Ich kann nicht anders. Ich muss lachen.

»Wow, okay … Habe ich irgendwas zwischen den Zähnen, oder was ist hier los?« Plötzlich verschwindet das Selbstbewusstsein aus ihrem Blick. Sie hat ihre aufrechte Haltung verloren und wirkt plötzlich seltsam verloren. Dann gewinnt sie wieder ihre

»Das Studium an der Akademie ist eine lange Familientradition, Blue«, erklärt Alicia dann und seufzt genervt. Man hört, dass sie all ihr Schauspieltalent dafür aktivieren muss. »Ich will mich nicht wiederholen müssen: Name und beste Kleider? Hopp, hopp!« Sie wedelt mit der Hand in der Luft umher.

»Nur damit eines klar ist, Mädchen. So sprichst du nicht mit mir«, stoße ich hervor, mache auf dem Absatz kehrt und knalle meine Zimmertür hinter mir zu. Nie hätte ich gedacht, dass sich das so gut anfühlen würde.

»Du kommst da sofort wieder raus, L. Hagen. Ich habe einen Ruf zu wahren, und ihr zwei werdet mich heute Abend zur Willkommensparty begleiten. Das wird die beste Nacht unseres bisherigen Lebens«, höre ich Alicia durch die geschlossene Tür.

»Ist das dein Ernst? Du bist fünf Minuten hier und bist schon zu einer Party eingeladen?«, frage ich.

»Ich brauche keine Einladung, Belle. Wie unser kleines blaues Vöglein schon so lautstark verkündet hat, bin ich Alicia Steinberg. Also, Kleider raus, Partymodus an und ab dafür, Mädels!«

Eine Party ist wirklich das Letzte, was ich heute

Wieder fällt mein Blick auf die Broschüre der Akademie.

Jede Sekunde zählt.

»Ach, scheiß drauf!«, murmle ich und reiße meinen Kleiderschrank auf. Die letzten Jahre über habe ich so viel Zeit hinter verschlossenen Türen verbracht. Es wird Zeit, dass ich endlich lebe.