Statt nach Hause zu fliehen, schlage ich einen anderen Weg ein und gehe zu Sophie ins Altenheim. Ich fürchte, dass Kilian mir vor dem Wohnheim auflauern könnte. Also muss eine Alternative her, und ich bin froh, noch einen Anlass zu haben, unter der Woche etwas Zeit mit meiner Großmutter zu verbringen.

»Lenora, was machst du denn hier?«, fragt Sophie überrascht. Ich weiß nicht, ob es eine gute oder schlechte Idee ist, ihr alles zu erzählen, aber sie ist im Moment die Einzige, der ich genug vertraue, um mit ihr darüber zu sprechen.

Während ich ihr von Kilian erzähle, kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Und Sophie ist für mich da, nimmt mich in den Arm und zieht mich eng an sich, lässt mich nicht los. Es fühlt sich so verdammt gut an, endlich jemanden zu haben, der sich wirklich für mich interessiert, sich um mich kümmert – und nicht die vollkommene Zerstörung meiner Seele im Sinn hat.

»Ich bin froh, dass du mir so vertraust und mit deinen Problemen zu mir kommst«, sagt sie irgendwann, als ich längst keine Worte mehr habe, ihr zu beschreiben, was in mir vorgeht. Und dennoch: Sophie weiß nicht annähernd alles über die Dunkelheit in meiner

Ich nicke, bin auch froh, dass ich sie habe und ihr wenigstens einen kleinen Teil meines Leids klagen kann. Viel kann Sophie nicht für mich tun, aber allein ihre feste Umarmung und die Wärme, die sie ausstrahlt, helfen mir, mich zu beruhigen. Warum habe ich nicht schon viel früher nach ihr gesucht?

»Ich weiß, dass dir das im Moment nicht weiterhilft, aber Kilian ist es nicht wert, dass du dich so aufregst. Manchmal muss man einfach einen Schlussstrich ziehen, wenn es zu kompliziert wird, aber manchmal lohnt es sich auch zu kämpfen. Du musst in dich hineinhören und herausfinden, was auf Kilian zutrifft. Loslassen oder kämpfen?«

Deswegen habe ich meine Großmutter so fest in mein Herz geschlossen. Sie weiß immer, was sie sagen muss, damit ich mich besser fühle. Okay, das hat nicht wirklich dazu beigetragen, dass das ganze Kilian-Drama vergessen und vergeben ist, aber ich weiß immerhin, was der nächste Schritt ist, auch wenn der alles andere als leicht sein wird. Und es hat sowieso gutgetan, einmal laut auszusprechen, was seit gestern in mir vorgeht.

»Ich versteh einfach nicht, was er von mir will. Einmal ist er aufgeschlossen und unglaublich lieb, und dann macht er wieder dicht und schiebt mich von sich weg«, sage ich und habe das Gefühl, dass ich mich wiederhole wie eine hängen gebliebene Schallplatte.

Sophie hört sich alles geduldig an, den Arm tröstend

»Vielleicht solltest du Kilian sagen, was in dir vorgeht. Ich weiß, dass das nicht leicht ist, aber Ehrlichkeit bringt einen meistens weiter«, fällt mir Sophie irgendwann ins Wort.

Die Wut wallt wieder in mir auf und vertreibt die Verzweiflung, die mich seit gestern lähmt. Und dann fällt mein Blick auf ihn. Er steht draußen auf dem Friedhof, perfekt platziert, so dass ich ihn vom Sofa aus sehen kann. Und diesmal kümmert er sich nicht um verwahrloste Gräber, an die sich sonst kein Mensch mehr erinnert, sondern starrt stur zu uns hoch, als könnte er uns hier in Sophies Zimmer sitzen sehen. Wartet er etwa auf mich?

»Wenn man vom Teufel spricht«, höre ich Sophie murmeln und zucke bei dem Wort Teufel zusammen. Vielleicht ist er das ja. Vielleicht ist er gar kein Todesengel, kein friedfertiger Seelenführer, sondern irgendein Monster, das man ausgeschickt hat, um mich zu quälen.

»Geh zu ihm, Lenora. Sprich mit ihm«, sagt Sophie, und wieder bin ich überrascht über ihren grenzenlosen Optimismus. Wo nimmt sie ihn bloß her? Kann sie mir davon mal ein Stück abgeben?

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich schaffe das nicht«,

Nein, am liebsten würde ich mich hier für immer verstecken und darauf warten, dass die Winters weiterziehen, Dunkelfelsen hinter sich lassen und ein anderes gigantisches Anwesen weit weg von hier beziehen, um dort die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits zu befördern.

»O nein, meine Liebe. Du wirst dich nicht hier verstecken. Geh jetzt. Komm erst wieder zurück, wenn du das geklärt hast, hörst du?« Sophie sieht mich mit dem strengen Blick an, den sie sicher auch bei ihren Studenten eingesetzt hat, als sie noch an der Akademie unterrichtet hat. »Und vergiss nicht: Ich kann euch beide sehen.«