Den Großteil des nächsten Tages verbringe ich in der Bibliothek, um weiter an meiner Hausarbeit zu feilen. Gerade sitze ich an einem besonders kniffligen Part, als mich ein Ruck durchfährt. Sofort habe ich eine Gänsehaut, und das altvertraute Herzrasen ist zurück. Ich brauche mich gar nicht umzudrehen, als sich mir Schritte nähern. Ich weiß längst, dass es Kilian ist. Mittlerweile ist mir sein Gang so vertraut wie alles andere an ihm. Es ist schon seltsam, dass wir uns erst seit so kurzer Zeit kennen und ich doch das Gefühl habe, als wären wir schon viel länger zusammen.
»Du hast es gesehen, nicht wahr?«, fragt er, ohne mich zu begrüßen, als er sich neben mir niederlässt. Seine Stimme klingt erschöpft. Ich nehme an, dass seine Aufgabe äußerst kraftraubend war.
Zur Antwort nicke ich und klappe meinen Laptop zu, um mich Kilian zuzuwenden. Er nimmt meine Hand und drückt sie fest. Es ist sein Zeichen, um mir zu sagen, dass wir okay sind, dass ich keine Angst mehr um ihn haben muss.
»Es wäre besser gewesen, wenn du meinem Rat gefolgt wärst, aber so ist es vielleicht leichter zu erklären, was ich tun muss, sobald jemand stirbt«, sagt er leise.
Wieder nicke ich.
»Ich kann verstehen, wenn das die Dinge zwischen uns ändert«, fügt Kilian nach langem Schweigen hinzu und blickt mich unsicher an.
Ich runzle verwundert die Stirn und reiße mich von ihm los. Was soll das denn jetzt wieder heißen? Hat er etwa Angst, dass ich deswegen schreiend vor ihm weglaufe? Er ist doch kein Monster nur eben … anders als normale Menschen.
Mit beiden Händen greife ich nach seinen und schüttle den Kopf. Fest schaue ich Kilian in die Augen, warte, bis ich seine volle Aufmerksamkeit habe, und dann schenke ich ihm ein Lächeln. Es erreicht nicht meine Augen, aber er soll sehen, dass sich unter keinen Umständen etwas zwischen uns ändern wird. Nicht in tausend Leben.
»Eine Vorwarnung wäre gut gewesen, aber jetzt weiß ich wenigstens, was passiert«, sage ich schließlich, auch wenn es mich Überwindung kostet. Ich werde noch einige Zeit brauchen, um den Anblick zu verarbeiten. Der Todeskuss, die Seele, ihre Risse und dunklen Stellen. Sofort überzieht eine Gänsehaut meine Arme, und ich bin froh, dass ich mich heute Morgen für meine Strickjacke entschieden habe, deren Ärmel mit jeder Wäsche länger zu werden scheinen.
Kilian stößt geräuschvoll den Atem aus und wirkt plötzlich erleichtert. Er strahlt mich an wie die Sonne selbst, was mir das Herz erwärmt und für einen Moment all die dunklen Gedanken vertreibt, die diese Begegnung mit dem Tod mit sich gebracht hat.
»Du hast keine Ahnung, wie froh ich darüber bin«, sagt er und beugt sich über mich, um meine Stirn zu küssen. »Danke.«
Ich erschaudere unter seiner Berührung und wünsche mir, dass wir uns auf ewig so nah sein können. Aber es wird immer Tage geben, an denen Kilian nicht unter den Lebenden weilt. Tage, die ich allein verbringen muss. Das weiß ich, und trotzdem kann ich den Gedanken, auch nur eine Sekunde von ihm getrennt zu sein, kaum ertragen. Es stimmt anscheinend, was man sagt: Manchmal merkt man erst dann, wie viel jemand einem bedeutet, wenn dieser Jemand auf unbestimmte Zeit von der Bildfläche verschwindet.
»Manuel war im Altenheim. Kurz nachdem du verschwunden bist«, sage ich nach einer Weile, auch wenn es unseren Moment zerstört. Ich muss es einfach loswerden. Irgendwie macht Manuel mir Angst.
Kilian löst sich von mir und nickt.
»Alle Seelenführer im Umkreis mehrerer Kilometer werden von Sterbenden angezogen. Wer als Erster ankommt, bringt die Seele zurück. Wahrscheinlich ist Manuel ganz in der Nähe gewesen, auch wenn ich noch immer nicht verstehe, warum er überhaupt in Dunkelfelsen ist«, sagt Kilian und runzelt die Stirn.
Es beunruhigt mich, dass er den Grund für Manuels Anwesenheit noch immer nicht kennt. Wäre es nicht logisch, dass wandernde Seelenführer bei den ortsansässigen unterkommen, schließlich ist das Haus der Winters groß genug. Aber dem ist offenbar nicht so, was alles nur noch merkwürdiger macht. Noch unheimlicher.
»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Von Manuel geht keine Gefahr für uns aus«, sagt Kilian, als könnte er meine Gedanken lesen.
Schon die ganze Zeit habe ich Angst, dass es nicht Kilian ist, der das nachholt, was am Tag meines Unfalls eigentlich unvermeidlich gewesen wäre. Ich habe schon ein paar Albträume gehabt, in denen ich von Manuel ins Jenseits befördert worden bin, nicht von Kilian. Nur Kilian zuliebe schiebe ich diese düsteren Gedanken beiseite. Er hat mit seinen Aufgaben als Seelenführer und der Bürde, die diese mit sich bringen, schon genug zu schaffen. Da muss er sich nicht auch noch mit meinen irrationalen Ängsten herumschlagen.
Außerdem habe ich mir geschworen, jeden einzelnen Moment mit Kilian zu genießen. Ich weiß nicht, wann er das nächste Mal verschwindet und wie lange er dann fort sein wird. Das macht jeden Augenblick so kostbar, so wichtig.
Also verbanne ich Manuel und all meine Bedenken aus meinem Kopf, schiebe sie weit fort, hinein in einen tiefen Abgrund, in dem all die Erinnerungen an meine Zeit bei Reiner lauern, um mich auf das wirklich Wichtige in meinem Leben zu konzentrieren. Das Schreiben und Kilian.