Einige Tage später habe ich die Ereignisse im Altenheim erfolgreich verdrängt beziehungsweise sie mir von der Seele geschrieben. Die Seiten habe ich aus meinem Notizbuch gerissen und unter meine Matratze gestopft, damit Kilian sie nicht findet und sich noch mehr Sorgen um mich und meine lädierte Seele macht. Im Nachhinein ist das eine ziemlich blöde Idee gewesen, denn immer wenn ich im Bett liege, kriechen die Erinnerungen an jenen Tag von den Blättern hinauf in meinen Kopf. Aus der schwarzen Tinte bilden sich Albtraumgestalten und schließlich ein furchteinflößender Schatten Manuels, der sich über mich beugt und mir die Seele raubt. Die Albträume sind also nicht besser geworden, aber damit komme ich klar. Seit ich sieben bin, sind sie mein ständiger Begleiter.
Ich habe gerade eine weitere Vorlesung Erzähltheorie hinter mich gebracht, was mit einiger Anstrengung verbunden und nur mit viel Kaffee zu schaffen war, sonst wäre ich tatsächlich eingeschlafen. Ich kann mir ein Gähnen kaum verkneifen, zwinge mich aber zu einem Lächeln, als Professor Johannsen um die Ecke kommt. Sein Gesicht hellt sich bei meinem Anblick schlagartig auf.
»Frau Hagen, ich habe bedeutende Neuigkeiten für Sie«, sagt er und schenkt mir ein freudiges Lächeln. Er macht eine dramatische Pause, als würde er erwarten, dass ich ihn danach frage, doch als das ausbleibt, fährt er endlich fort: »Ihr letzter Text hat mich sehr beeindruckt. Ich habe ihn für die Lesungen auf dem Winterfest eingereicht, und er wurde ausgewählt, um vorgetragen zu werden. Am Anfang des Semesters hatte ich ja meine Zweifel bei Ihnen und Ihrem Partner, aber Sie beide haben sich wirklich gemacht. Auch Herr Winter wird mit einem Text vertreten sein.«
Wie bitte, was?
Ich blinzle und versuche angestrengt, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Es dauert eine Weile, bis mein müdes Gehirn anspringt und die Worte Ihr Text, Winterfest und Lesung in einen sinnvollen Zusammenhang bringt.
Erschrocken zucke ich zusammen. Ich bei einer Lesung? Hab ich jetzt Halluzinationen?
Kilian und Sophie haben die vergangenen Tage beide weiter versucht, mich davon zu überzeugen, an den Vorauswahlen für die Lesung teilzunehmen. Auch Alicia und Mara haben mich dazu gedrängt, weil auch sie ihre Ergebnisse des letzten Semesters auf dem Fest präsentieren werden. Aber jetzt tatsächlich zu wissen, dass ich ebenfalls etwas zu den Darbietungen beitragen soll, überwältigt mich.
»Sagen Sie schon etwas, Frau Hagen. Das ist doch ein Grund zur Freude«, sagt Professor Johannsen.
Ich nicke und zwinge mich zu einem Lächeln, auch wenn ich weiß, dass es wahrscheinlich wenig überzeugend aussieht. Ich bin schon jetzt so aufgeregt, dass es an ein Wunder grenzt, dass ich überhaupt noch stehe.
»Sie werden das großartig machen, Frau Hagen!«, fügt Professor Johannsen hinzu und klopft mir aufmunternd auf die Schulter.
Ich bin überrascht über seine Einschätzung, schließlich hat er bisher alle meine Texte gnadenlos zerrissen. Allein der Gedanke an seine Kritik reicht, um mich taumeln zu lassen. Am Ende hat mir das zwar geholfen, meine Texte zu verbessern, aber ich träume noch heute davon, wie er mir vorbetet, was ich alles falsch gemacht habe.
Professor Johannsen verabschiedet sich mit einem Kopfnicken und ist schon im nächsten Moment um die Ecke verschwunden, lässt mich allein mit meiner wachsenden Nervosität. Ich stoße den Atem aus, versuche, den ersten Schock zu verdauen. Es ist natürlich nichts im Vergleich dazu zu sehen, wie eine Seele ins Jenseits befördert wird, oder dabei zu sein, wie jemand stirbt. Aber trotzdem … Ich habe Angst, meine Texte vor völlig fremden Menschen vorzulesen. Was ist, wenn dem Publikum mein Text nicht gefällt? Wenn es mich auslacht oder mich kritisiert?
Eines ist für mich klar: Der Tag ist gelaufen. Ich würde jetzt nichts lieber tun, als nach Hause zu gehen, mich in hundert Decken zu hüllen und nie mehr aus diesem schützenden Kokon herauszukommen. Nur eine Sache hilft mir dabei, überhaupt noch aufrecht zu stehen: der Gedanke an Kilian.
Am Mittag treffe ich mich mit ihm in der Mensa, wo wir gemeinsam essen und er natürlich meine schlechte Laune bemerkt. Als er mich darauf anspricht, will ich ihm erst nichts erzählen. Ich weiß nicht, ob er schon gehört hat, dass er bei einer der Lesungen dabei sein wird. Offenbar nicht, sonst hätte er mir längst davon erzählt. Doch genau wie Sophie hat auch Kilian etwas an sich, das mich schließlich doch dazu bringt, mit der Wahrheit herauszurücken, auch wenn ich beim bloßen Gedanken an die Lesung keinen Bissen mehr herunterbekomme.
»Aber das ist doch wunderbar! Jetzt sehen endlich mehr Leute, was für ein Talent du hast«, ruft Kilian begeistert und greift nach meinen Händen. Sofort beruhige ich mich. Es ist fast wie Magie, nur besser. »Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, aber du bist gut, Lenora. Mach dir deswegen keinen Kopf.«
Er hat leicht reden. Anscheinend hat er überhaupt keine Probleme damit, seine Texte vor Publikum vorzutragen. Ob es daran liegt, dass ihm die Mädchen scharenweise hinterherrennen und ihn anhimmeln für das, was er schreibt? Oder daran, dass er einfach schon so viele Leben hinter sich hat und sich deswegen viel sicherer fühlt?
Ich weiß es nicht, aber ich bewundere ihn dafür und wünschte, ich hätte dasselbe Talent für öffentliche Auftritte. Das letzte Mal, als ich etwas in dieser Größenordnung gemacht habe, habe ich mir zehn Minuten vor meinem Auftritt die Seele aus dem Leib gekotzt. Okay, natürlich nicht wortwörtlich, sonst wäre damals schon ein Seelenführer gekommen, um meiner jämmerlichen Existenz in dieser Welt ein Ende zu bereiten.
»Wie wär’s, wenn wir ein bisschen üben. Wir könnten eine Probelesung veranstalten. Im Altenheim vielleicht? Dann hat Sophie auch etwas davon«, schlägt Kilian vor, was meine Laune wirklich nicht verbessert. Die Hälfte der Bewohner des Altenheims würden zwar nicht mitbekommen, was ich da tue, aber trotzdem graut es mir bei dieser Vorstellung.
Ich schlucke und schiebe den Teller weg, damit kein Unfall passiert. Allein der Geruch des Essens macht es mir schwer, nicht zu würgen.
»Hey, mach dir keine Gedanken. Ich bin immer bei dir«, versucht Kilian, mich zu beruhigen, als er meine anhaltende Unruhe bemerkt. Vorsichtig greift er nach meiner Hand, drückt sie fest und sucht meinen Blick. In seinen Augen liegt so viel Gefühl, dass ich für einen Moment überwältigt bin.
Ich spüre, wie die Anspannung langsam von mir abfällt. Gänzlich verschwindet sie allerdings nicht. Ich bin einfach zu nervös, wenn ich meine Texte vor Publikum vortragen muss. Das macht mich verwundbar, verletzlich, und ich habe mir geschworen, mich nie wieder so zu fühlen. Aber ich darf diese Chance nicht ungenutzt lassen.