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Bevor wir Sophie im Altenheim besuchen, um ihr unsere Texte für die Lesung zu zeigen, gehen wir ins nächstgelegene Café, um eine engere Auswahl zu treffen. Dafür tauschen wir unsere Laptops und gehen

»Da seid ihr! Wir haben euch schon gesucht«, ruft Clara und lässt sich ungefragt auf einen der freien Stühle an unserem Tisch sinken. Kilian hebt nun ebenfalls den Blick und lächelt sie zur Begrüßung freundlich an. Er strahlt regelrecht, wirkt erleichtert. Wahrscheinlich ist es ein gutes Zeichen, dass sich die beiden zu uns setzen, nachdem sich Kilians Familie

»Wir haben gehört, dass ihr für die Lesung ausgewählt wurdet. Herzlichen Glückwunsch«, sagt Felix und lässt sich neben Clara nieder. An der Akademie gibt er sich als Kilians und Claras Cousin aus, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass sie nicht miteinander verwandt sind.

Kilian nickt ihnen zu und erzählt den beiden von meiner Begegnung mit Professor Johannsen und unserem Vorhaben, im Altenheim eine kleine Probelesung zu veranstalten, um mich auf den Ernstfall vorzubereiten. Es ist mir unangenehm, dass er so offen über meine Ängste spricht. Bisher sind die Winters mir gegenüber sehr reserviert gewesen. Deshalb frage ich mich, was passiert sein muss, dass Kilians Familie sich überhaupt in meine Nähe wagt. Ich habe mich in den letzten Wochen so daran gewöhnt, dass es nur uns beide gibt, dass ich fast schon gekränkt bin, mit welcher Selbstverständlichkeit sie auf einmal an unserem Gespräch teilnehmen. Als wäre es das Normalste auf der Welt, als hätte es etwas anderes nie gegeben.

»Sorry, wenn ich euch unterbreche, aber was ist hier los?«, frage ich schließlich, nachdem ich all meinen Mut zusammengekratzt habe.

Sofort richtet sich Claras Blick auf mich, und ein glückliches Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

Ich spüre, wie Kilian mich ansieht. Sofort stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Aus irgendeinem Grund weiß ich, dass er nicht möchte, dass ich diesen Moment des Friedens zerstöre, aber ich muss das jetzt einfach loswerden.

»Na ja, sonst wart ihr immer sehr distanziert«, sage ich und werfe Kilian einen Blick zu, suche nach Hilfe, doch er zuckt bloß mit den Schultern.

»Ach so, das meinst du«, sagt Clara und lacht.

Was gibt’s da zu lachen? Verwundert schaue ich sie an, doch sie reagiert nicht auf meine stumme Frage.

»Es ist zwar nicht leicht für uns, einer zerstörten Seele so nah zu sein, aber langsam gewöhnen wir uns daran«, sagt Felix, was ihm einen finsteren Blick von Kilian einbringt. Felix hebt entschuldigend die Hände in die Höhe und schüttelt den Kopf. »Ist doch wahr. Es ist wirklich nicht einfach.«

»Ich weiß nicht, wie du das die ganze Zeit machst, Kilian, aber wir kommen damit klar, euch beide zusammen zu sehen. Zumindest für eine gewisse Zeit. Und außerdem ist es nicht mehr ganz so schlimm wie am Anfang«, sagt Clara und schenkt mir wieder eines dieser Lächeln, die ich nicht ganz zuordnen kann. Was ist hier los?

Ich wende mich Kilian zu, schaue ihn fragend an.

»Du hast es ihr nicht erzählt, Kilian?«, fragt Felix und klingt dabei ernsthaft überrascht.

»Der Zustand deiner Seele hat sich stark verändert, Lenora. Seit ihr zusammen seid, heilt sie, was echt ein Wunder ist«, sagt Clara und strahlt bis über beide Ohren, als könnte sie dieses Wunder tatsächlich sehen. Das tut sie wahrscheinlich auch.

»Das muss Schicksal sein«, sagt Felix und lächelt. Kilian hat mir bereits erzählt, dass Felix fest daran glaubt, dass das Schicksal die Macht ist, die alles antreibt, die unseren Handlungen zugrunde liegt und unsere Hand führt. Ich bin mir da nicht so sicher. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es eine höhere Macht gibt, die für alles, was passiert, verantwortlich ist. Warum gibt es dann so viel Krieg in der Welt? So viel Tod? Ganz sicher nicht, damit die Seelenführer genug zu tun haben.

»Nein, wir haben das doch schon besprochen, Felix. Ich glaube eher, dass das Liebe sein muss«, sagt Clara und strahlt nur noch breiter.

Ihre Worte bringen mich vollkommen aus der Bahn. Liebe hat sie gesagt. Ich schlucke und sehe Kilian an. Entweder hat er sie nicht gehört, oder es interessiert ihn nicht, was sie gerade gesagt hat. Aber ein einziges Wort wiederholt sich wie Tausende Chöre in meinem Kopf.

Liebe. Liebe. Liebe.

Hoffentlich sehen die anderen mir nicht an, wie

»Ähm, ich glaube, ich muss noch mal ins Wohnheim zurück. Da liegt noch ein Text, den ich vielleicht für die Lesung nutzen möchte«, sage ich, klappe meinen Laptop zu und springe auf. Ich werfe den dreien einen letzten Blick zu, ehe ich aus dem Café eile. Ich weiß, dass meine Reaktion überstürzt ist, aber ich kann Kilian einfach nicht in die Augen sehen, wenn ich über etwas so Bedeutendes nachdenke.

Liebe.

Ist es das wirklich zwischen uns?