Tag zwei meines neuen Lebens beginnt für mich mit Kopfschmerzen und dem nervtötenden Sirren des Weckers. Es ist bereits neun Uhr morgens, die Sonne hat sich durch dicke Herbstwolken geschoben und dringt nun durch den Vorhang in mein Zimmer. Langsam setze ich mich auf. Keine gute Idee. Mein Kopf tut nur noch mehr weh. Für jemanden, der Lärm sonst nur durch das Brüllen seines Stiefvaters gewohnt ist, war der gestrige Abend ziemlich anstrengend. Es ist so viel passiert, Gutes wie Schlechtes. Und die Nacht ist viel zu kurz gewesen, um das alles zu verarbeiten. Da hilft heute nur eines: Augen zu und durch. Und Kaffee. Kaffee hat noch nie geschadet.

Der Wecker klingelt ein zweites Mal, gerade als ich darüber nachdenke, mich noch für eine halbe Stunde umzudrehen. Die Einführungsveranstaltung für meinen Kurs beginnt schließlich erst um halb elf. Allein der Gedanke daran, meine Kommilitonen näher kennenzulernen, lässt die Nervosität von gestern wieder hochkommen. Mir wird ganz flau im Magen, während die Aufregung durch meine Adern fährt und das letzte bisschen Müdigkeit aus meinem Körper vertreibt. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich seufze und schiebe die Bettdecke von mir. Sofort beginne ich zu

Denk nicht mehr daran.

Ich setze mich auf, so dass meine Füße den blanken Holzfußboden berühren. Die Kälte durchfährt mich wie ein eisiger Blitz und vertreibt glücklicherweise die Erinnerung an meine Vergangenheit. Mein Kopf schmerzt wie von vielen kleinen Nadeln, die mir in die Stirn gebohrt werden, aber ich ignoriere es. Darin bin ich über die Jahre hinweg richtig gut geworden. Langsam stehe ich auf. Als Erstes schiebe ich die Vorhänge beiseite, um das schwache Sonnenlicht ins Zimmer zu lassen, schließe die Augen und verbanne die Erinnerungen an mein altes Leben aus meinem Kopf. Sofort geht es mir besser. Als ich meine Augen wieder öffne, fällt mein Blick auf den Waldrand. Von meinem Zimmer aus kann ich den Weg sehen, den ich gestern entlanggelaufen bin. Fast erwarte ich, dass

Denk nicht mehr daran.

 

Schnell wende ich mich vom Fenster ab und trete auf meinen Sessel zu. Vor der Party habe ich mir bereits Klamotten für heute herausgelegt. Ich schnappe mir den kleinen Stapel und verziehe mich hinter den altmodischen Paravent. Der stammt sicherlich noch aus der Zeit, als das Haus privat genutzt worden ist. Er ist wunderschön, altes Holz bemalt mit kleinen Blüten, die über die Jahrzehnte hinweg verblasst sind. Vielleicht kann Mara ihnen ja neues Leben einhauchen. Im Moment wirken sie ein wenig trist und leblos, genau wie ich mich fühle. Und trotzdem sind sie schön auf ihre eigene Weise. Als ich mich zum Spiegel umdrehe, erstarre ich. Vor mir steht eine Fremde, eine Lenora, die ich vor einem Jahr in einem dunklen, kalten Keller zurückgelassen habe. Ihre Haut ist blass, die Augen von dunklen Schatten umgeben und die Lippen aufgesprungen. Ich hebe die Hand, und sie tut es mir gleich. Das bin ich, fährt es mir durch den Kopf.

Spiegel-Lenora und ich schütteln erschrocken den

»Ich bin nicht mehr wie du«, sage ich leise, ehe ich das kleine Schminkkästchen nehme, das mir Helli zum Geburtstag geschenkt hat. Wenn man mit Schminke Menschen wie Tote aussehen lassen kann, dann funktioniert es sicher auch andersherum. Tot bin ich zwar nicht, aber manchmal fühlt es sich so an. Dunkel und leer. Trostlos. Als wäre ich längst zerbrochen.

»Das bin nicht mehr ich«, sage ich, lauter, entschlossener. Zum ersten Mal seit meiner Flucht glaube ich mir. Das sind nur die Reste von einem überwältigenden Abend, von zu viel Lärm und zu viel Leben.

 

Zehn Minuten später bin ich einigermaßen zufrieden mit meinem Aussehen, fast schon stolz, schließlich schminke ich mich sonst fast nie, aber wenigstens sind die Augenringe jetzt weg. Mein dunkles Haar ist ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden, so dass es mich später nicht beim Schreiben stören wird. Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Die alte Lenora ist verschwunden. Wenn ich jetzt noch lächeln könnte, wäre die Lüge perfekt. Aber ich bin noch zu ausgelaugt von gestern, um es einigermaßen überzeugend hinzubekommen.

»Guten Morgen, Langschläferin!«, begrüßt mich Alicias fröhliche Stimme, als ich das Wohnzimmer betrete. Sie sitzt mit einem Reclamheftchen in den

Ich zucke mit den Schultern und mustere sie genauer. Sie ist gestern nicht mit uns nach Hause gekommen, und selbst bei uns war es weit nach Mitternacht. Wie kann Alicia so guter Laune sein, wenn sie kaum geschlafen hat?

»Komm schon, Belle. Irgendwann müssen wir miteinander sprechen.« Alicia legt das Heftchen weg und verschränkt die Arme vor der Brust.

Ich seufze. »Wir waren müde und hatten keine Lust mehr. Partys sind nicht so mein Ding«, murmle ich auf dem Weg zum Badezimmer. Mein Kopf sticht noch immer wie Hölle, aber eine kleine Ibuprofen wird das schon wieder richten.

»Hey, Belle! Kannst du leise sein, wenn du im Bad bist?« Alicias Stimme ist plötzlich nicht mehr ganz so fröhlich.

Überrascht drehe ich mich zu ihr um.

»Ich will bloß nicht, dass du ihn aufweckst.« Sie deutet auf ihr Zimmer, das direkt ans Bad angrenzt. Ihn?

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!« Ihr zuliebe versuche ich, leise zu sprechen, aber meine Fassungslosigkeit kann ich trotzdem nicht verbergen. Sie ist nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier und hat sich schon einen Typen angelacht? Na, das kann ja heiter werden.

»Bitte, Belle.« Sie legt die Hände aufeinander wie zum Gebet und schiebt die Unterlippe vor. Ich frage

Eine halbe Stunde später sitze ich in der Gemeinschaftsküche vor einem leeren Teller und versuche, mein Frühstück bei mir zu behalten. Die Aufregung ist wieder zurück, stärker noch als zuvor. Ich schlucke und zwinge mich, aufzustehen und abzuräumen.

Es wird alles gut, wiederhole ich innerlich wieder und wieder, während meine Hände zittern, als ich den Teller in die Spülmaschine stelle. Es wird alles gut.

Mein Blick fällt auf die Uhr über der Tür. Ihr Ticken ist unverhältnismäßig laut und steigert meine Nervosität bis ins Unermessliche. Es wird Zeit zu gehen. Dank Google Maps weiß ich zwar, dass es bis zu meinem Unterrichtsgebäude nicht weit ist, aber ich habe trotzdem Angst, zu spät zu kommen. Ich habe immer Angst, zu spät zu kommen. Mein Stiefvater hat dafür gesorgt, dass ich mich davor fürchte.

Ich werfe mir meinen Mantel über, heute soll es kalt werden, und greife nach meiner Tasche.

Es wird alles gut. Ich nicke, wie um mich zu bestärken, auch wenn es nichts hilft, und öffne die Tür zum Gang. Jeder einzelne Schritt in Richtung Haustür kostet mich große Anstrengung. Ich hasse es, die Neue zu sein, auch wenn ich heute nicht die Einzige bin.

Es wird alles gut.

Ich überwinde das letzte bisschen Furcht, schiebe meine Aufregung beiseite und laufe los. Es ist nicht schwer, sich hier zurechtzufinden, weil es überall kleine Wegweiser aus Holz gibt. Auf einem von ihnen prangt in Großbuchstaben EICHENDORFF-HAUS. Da muss ich hin.

Der erste richtige Tag meines neuen Lebens liegt vor mir. Und dann wird mein größter Albtraum seit gestern Morgen wahr: Der grimmige Waldschrat sitzt auf der Treppe zum Eichendorff-Haus, ein Notizbuch in den Händen.

Ich bleibe stehen, will schon wieder umdrehen, einen anderen Eingang suchen, bevor er mich sieht, aber es ist zu spät. Er zuckt zusammen, als hätte ich ihm einen Stromschlag verpasst, und blickt auf. Wieder kneift er die Augen zu Schlitzen zusammen, um mich anzustarren. Dann spuckt er aus und ballt die Hände zu Fäusten.

Was bildet sich der Kerl eigentlich ein? Glaubt er, dass ihn dieses mysteriöse Gehabe irgendwie interessanter macht? Was zur Hölle habe ich ihm getan?

Wütend setze ich mich in Bewegung, spüre, wie da wieder dieses Gefühl in mir erwacht, das mich gestern dazu getrieben hat, sechs Seiten meines

Für einen Moment begegnen sich unsere Blicke, verschmelzen. Ich schnappe nach Luft, zwinge mich weiterzugehen, lasse ihn aber nicht aus den Augen. Als ich die Tür erreiche und nicht gleich beim ersten Mal aufbekomme, peinlich!, wende ich mich schließlich ab, spüre ihn aber noch immer deutlich hinter mir. Er ist wie der Schatten, der mich manchmal durch meine Träume jagt, auch wenn der Waldschrat jetzt von einem seltsamen Strahlen umgeben ist. Selbst wenn er nicht zu sehen ist, weiß ich, dass er da ist und nur darauf wartet, dass ich einen Fehler mache. Ich werfe mich regelrecht gegen die Tür und unterdrücke einen erleichterten Aufschrei, als sie sich endlich öffnet und ich ins warme Innere des Unterrichtsgebäudes flüchten kann. Ich eile, so schnell ich kann, den Gang entlang und spüre, wie dieses intensive Gefühl abebbt, das mich in der Gegenwart dieses Typen befällt, bis es lediglich eine Erinnerung ist. Ein Echo von dem, was ich eben noch gespürt habe.

Und dann ist sie wieder da. Die Neugier auf mein neues Leben an der Akademie, ist zu neuem Leben erwacht, kaum dass mein Blick an einem weiteren Wegweiser hängenbleibt.

Es wird alles gut, sage ich mir, ehe ich meinen Weg zu meinen Kommilitonen antrete.