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Als wir das alte Theater betreten, das den Schauspielstudenten als Übungsort dient, fällt mein Blick sofort auf Kilian, der in einer der Ecken auf mich wartet. Ich verabschiede mich von Alicia und Mara und gehe zu ihm, um ihn zu begrüßen. Stürmisch nimmt er mich in seine Arme und küsst mich, als hätten wir uns seit

Wir ziehen uns in eine ruhigere Ecke zurück, lassen uns nebeneinander auf ein Sofa nieder und reden über die Ereignisse des Tages. Ich erzähle ihm von Mara und ihrem Schwarm und dass Alicia die beiden auf dieser Party miteinander verkuppeln möchte. Kilian ist darüber sehr amüsiert und hofft für Mara, dass es klappt. Seit meinem Unfall und dem Beginn unserer Beziehung haben sich meine Mitbewohnerinnen mit Kilian ziemlich gut angefreundet. Es ist wirklich erstaunlich, wie er mit allen Menschen auskommt. Nicht nur mit Sophie oder den Lehrern, sondern auch mit den beiden Mädels und allen anderen. Auch hier auf der Party begrüßen ihn die meisten mit einem Lächeln oder ein paar freundlichen Worten. Es scheint, als kenne er die gesamte Studentenschaft am Campus. Hin und wieder werfe ich einen Blick auf Alicia und Mara, die noch immer nach dem Musiker suchen. Zumindest Alicia tut das, während Mara so aussieht, als würde sie am liebsten davonlaufen.

Das gesamte Foyer des alten Theaters ist ein einziger Trubel, überall stehen Studierende, Lehrer und Angestellte der Akademie. Die meisten halten ein Glas mit Sekt oder Punsch in den Händen, unterhalten sich oder tanzen. Ich bin froh, dass wir einen der wenigen

»Das sieht nicht gut aus«, sage ich zu Kilian. Ich löse mich langsam aus seiner Umarmung, um Alicia davon abzuhalten, noch mehr zu trinken, aber schon im nächsten Moment ist sie wieder im Getümmel verschwunden. Ich habe keine Ahnung, was vorgefallen ist, dass sie sich derartig betrinkt, aber es muss irgendetwas Schlimmes gewesen sein. Vielleicht hat sie von René eine Abfuhr bekommen?

Ich stehe auf und blicke mich nach ihr um, kann sie aber nirgends sehen. »Ich glaube, ich geh mal lieber nach ihr suchen, nicht dass sie noch etwas Dummes anstellt.«

Kilian nickt und folgt mir durch die Menge. Wir halten uns fest an den Händen, damit wir uns nicht verlieren. Wenigstens dauert es nicht lange, bis wir Alicia entdeckt haben. Sie steht mitten auf der Tanzfläche und bewegt sich, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie schmeißt sich an die wenigen Jungs ran, die um sie herumstehen, und ist kurz davor, sich ihres Oberteils zu entledigen. Ich will schon eingreifen, doch Kilian hält mich zurück und deutet auf einen Typen, der mir bekannt vorkommt. Langsam bahnt er sich einen Weg durch die Tanzenden und Gaffer. Als der Typ ins Licht

»Was macht der denn hier?«, frage ich laut und fürchte bereits, dass er Alicias Situation ausnutzen könnte. Meine Sorge ist allerdings unbegründet. Bad Boy starrt die anderen Typen nieder, wobei er Alicia vorsichtig, ganz vorsichtig einen Arm um die Schulter legt und sie an sich zieht. In seinem Blick liegt nicht die Begierde, wie in denen der anderen, sondern Sorge. Eine Seite, die mir neu an ihm ist. Ich folge ihm und Alicia, Kilian immer in meinem Rücken. Irgendwo hat Bad Boy ihre Jacke gefunden, legt sie Alicia um und bringt sie zum Ausgang. Sie macht es ihm dabei wirklich nicht leicht, protestiert und kämpft gegen seinen Griff an. Bad Boy bleibt allerdings hartnäckig und schafft es schließlich, Alicia nach draußen zu bringen.

Ich folge den beiden in die kalte Nachtluft, weil ich Bad Boy nicht traue. Wehe er versucht, Alicias Situation auszunutzen!

»Hey! Such dir gefälligst eine andere«, rufe ich ihm über den Vorplatz des Theaters zu und beschleunige meine Schritte, um ihn einzuholen.

»Wie bitte?«, fragt er und dreht sich zu mir um, die Hand noch immer um Alicias Schultern geschlungen. Erst da fällt mir auf, dass sie nicht ihren Designermantel trägt, sondern eine dicke Winterjacke, die ihr viel zu groß ist. Bad Boy steht nur in seinem Hemd in der Kälte.

»Tue ich nicht, aber ich hatte auch nicht vor, sie abzuschleppen, falls es das ist«, entgegnet er und verschränkt die Arme vor der Brust. Mit den Händen reibt er sich über die Oberarme und wirft mir einen flehenden Blick zu. »Ich wollte sie einfach nur nach Hause bringen, bevor irgendein Arschloch sie ausnutzt.«

Jedes sogenannte Arschloch hätte vermutlich etwas Ähnliches gesagt, aber in Bad Boys Stimme schwingt eine Ehrlichkeit mit, die mich an meiner Befürchtung zweifeln lässt.

»Lenora.« Kilians Stimme lässt mich herumwirbeln. Er kommt mit unseren Jacken auf mich zu, doch seine Aufmerksamkeit gilt alleine dem Bad Boy. Ich kenne diesen Blick, Kilian hat ihn oft genug bei mir angewendet, um in meine Seele schauen zu können. Er wirkt hoch konzentriert, die Stirn liegt in Falten, doch er entspannt sich, als er uns schließlich erreicht.

»Ich glaube, bei Ben ist Alicia in den besten Händen«, sagt er schließlich und nickt Bad Boy zu.

Vertrau mir, scheint sein Blick zu sagen, als ich ihn fragend ansehe.

»Kennen wir uns?«, fragt Bad Boy Ben verwirrt und blickt zwischen mir und Kilian hin und her.

»Kilian Winter. Ich bin Claras Bruder«, stellt sich Kilian mit einem freundlichen Lächeln vor und reicht

»Kann ich sie jetzt nach Hause bringen, oder muss ich erst noch alle ihre Freunde kennenlernen?«, fragt Ben und legt Alicia wieder einen Arm um die Schulter, um sie davon abzuhalten, auf die Straße zu rennen.

»Vielleicht sollten wir mitkommen«, sage ich, weil ich Ben noch nicht ganz über den Weg traue. Aber was ist dann mit Mara? Ich kann sie doch nicht einfach alleine hier zurücklassen.

»Ich glaube, sie ist dahinten«, sagt Kilian, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er deutet auf eine der Bänke vor dem Theater. Ich erkenne sofort Maras blaue Haare im Licht der Straßenlaterne und bin etwas verdattert, sie eng umschlungen mit Toni dort sitzen zu sehen. Auf seinem Schoß wohlgemerkt, und es geht dabei ziemlich zur Sache.

»Chapeau, Schicksal«, murmelt Kilian, während er die beiden kopfschüttelnd betrachtet. »Und ich dachte, sie kommen nie zusammen.«

Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu, doch schüttelt er bloß den Kopf und nickt in Richtung der Straße. Schweigend folgen wir Ben und Alicia zurück ins Wohnheim, wobei Kilian mir leise versichert, dass ich dem Bad Boy trauen kann.

»Woher willst du das wissen?«, frage ich ihn und

Ben und Alicia erreichen das Wohnheim etwas früher als wir, weil wir den Spaziergang zurück genießen wollten und uns Zeit gelassen haben. Als ich die Tür zu unserem Apartment aufschließe, kommt Ben gerade aus Alicias Zimmer, die Winterjacke, die sie vorhin anhatte, in der Hand.

»Sie schläft«, flüstert er uns zu und bedeutet uns, leise zu sein. Offenbar hat Kilian recht mit seiner Einschätzung, denn Ben klopft ihm kurz auf die Schulter, ehe er die Wohnung verlässt und leise die Tür hinter sich schließt.

»Ich geh dann auch mal«, sagt Kilian in einem Tonfall, dem man anhört, dass er genau das Gegenteil tun will, dass ich ihn zurückhalten soll. Und das tue ich. Ich will nicht allein sein heute Nacht. Nie wieder, wenn ich ehrlich bin.

»Das Schicksal hat auch noch etwas für uns geplant«, sage ich mit einem breiten Grinsen und ziehe ihn an mich, um ihn zu küssen. Ich spüre, wie er lächelt und die Tür hinter sich zuwirft. Er hebt mich

»Ein Hoch auf das Schicksal«, flüstert er und küsst meinen Hals.