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Nach dieser magischen Nacht verbringen wir den gesamten Samstag zusammen, lesen oder unterhalten uns und verlassen das Bett nur, wenn es wirklich nötig ist. Am Nachmittag wird Kilian allerdings unruhig. Er sieht plötzlich wieder genauso aus wie vor ein paar Tagen im Altenheim, als der alte Mann gestorben ist. Abwesend, unkonzentriert. Als wäre er lieber woanders als bei mir. Er zuckt zusammen, als ich ihn schließlich darauf anspreche.

»Ich glaube, bald wird irgendetwas Schlimmes passieren. Ich kann es spüren«, flüstert er und sieht dabei so erschrocken aus, dass ich nicht anders kann, als ihn in meine Arme zu ziehen und ihn fest an mich zu drücken, so wie er es sonst bei mir tut. Eine dunkle Vorahnung schleicht sich in meinen Kopf. Der Tod ist in den seltensten Fällen etwas Gutes. Zumindest nicht für diejenigen, die zurückbleiben und lernen müssen, mit dem Verlust zu leben.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich zu meiner Familie zurückkehre. Dann bin ich bei ihnen, wenn es losgeht«, sagt er und löst sich behutsam aus meiner Umarmung. Sein Blick ist fragend, als erwarte er, dass ich ihn zurückhalte, doch ich nicke bloß. Wahrscheinlich hat er recht. Es ist besser, wenn er zu seinen Partnern zurückkehrt und mit ihnen gemeinsam wartet – auf das, was auch immer passieren wird.

»Sei vorsichtig«, sage ich, obwohl es sich bisher nicht so angehört hat, als wäre seine Arbeit besonders gefährlich. Aber wer weiß, was er mir alles nicht erzählt hat, um mich oder meine Seele zu schützen?

Kilian lächelt und drückt mir einen sanften Kuss auf die Lippen, ehe er einfach so vor mir verschwindet. Daran habe ich mich noch immer nicht gewöhnt, auch wenn es schon ein paarmal vorgekommen ist. Ich spüre ein Knistern in der Luft, als wäre noch immer ein Teil von ihm da, ein schwaches Leuchten flimmert noch in der Luft, dort, wo er gerade noch gestanden hat, doch löst es sich in Sekundenschnelle auf. Ich seufze leise und ziehe die Decke fester um mich, weil ich mich plötzlich furchtbar allein fühle. Langsam kehren meine Ängste und Zweifel zu mir

Die nächsten Stunden ohne ihn nutze ich, um noch ein paar der Texte durchzugehen, die ich vielleicht bei der Lesung vortragen könnte. Ich bin mir noch immer unsicher und habe keine endgültige Auswahl getroffen, aber vielleicht kann mir Sophie dabei helfen.

Weil ich von Alicia und Mara nichts höre, lege ich ihnen einen Zettel hin, dass ich den restlichen Nachmittag bei meiner Großmutter verbringen werde. Draußen hat es aufgehört zu schneien, und das bisschen Weiß, das sich den Tag über gehalten hat, beginnt langsam zu schmelzen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir weiße Weihnachten haben werden, so wie ich es mir wünsche. Aber auch ein bisschen Schnee hier und da reicht, um mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.

 

Als Sophie mich begrüßt, liegt ein freudiges Strahlen in ihrem Blick. Ich kann es noch immer kaum glauben, dass sie sich so sehr über meinen Besuch freut. Durch meine turbulente Vergangenheit bin ich das nicht gewohnt und froh, mich für einen Umzug nach Dunkelfelsen entschieden zu haben.

Während Sophie mich auf das Sofa in ihrem Zimmer zuschiebt, dränge ich alle dunklen Gedanken beiseite. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass bald

»Na, wie läuft es so an der Akademie? Ist alles in Ordnung?«, fragt sie, als sie mit zwei dampfenden Tassen Tee zurückkehrt. Eine davon stellt sie vor mir ab, und ich rieche die Lieblingskräutermischung, die sie nur dann herausholt, wenn es ihr wirklich gut geht.

Ich zucke mit den Schultern und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

»Ich hab noch immer keinen Text gefunden, den ich vorlesen kann. Ich weiß einfach nicht, welchen ich nehmen soll. Vielleicht lasse ich das Ganze doch sein«, sage ich leise. Plötzlich erscheint mir alles, was ich in den letzten Monaten geschrieben habe, nichtig und langweilig. Nicht geeignet für ein so wichtiges Ereignis. Alle Professoren haben während der letzten Woche immer wieder betont, dass sie befreundete Lektoren aus verschiedenen Verlagen zu den Lesungen eingeladen haben. Dass es eine große Chance für uns ist, daran teilnehmen zu dürfen. Jedes Mal wenn ich daran denke, wird mir richtig schlecht.

»Meine Liebe, ich verbiete dir, diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Am Ende wirst du es bereuen. Außerdem glaube ich, dass deine Muse einiges an Inspiration für einen guten Text beisteuern wird.« Mit einem schiefen Grinsen pikst Sophie mich in die Seite, woraufhin ich sofort rot anlaufe.

Wie recht sie doch hat! Kilian inspiriert mich

»Gib mir mal deinen Laptop. Dann schaue ich mir diese Texte an, von denen du gesprochen hast. Ich bin mir sicher, dass wir zusammen einen finden werden, der perfekt für die Lesung ist«, sagt Sophie und macht eine auffordernde Handbewegung. Ich kann nicht anders und muss schmunzeln. Manchmal, wenn Sophie so mit mir redet, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sie einst selbst an der Akademie unterrichtet hat. Ich frage mich, warum sie damit aufgehört hat, obwohl sie doch so fit ist. Warum ist sie hier?

Wir haben noch immer nicht darüber gesprochen, und ich weiß nicht, wie ich dieses Thema angehen soll. Wieder steht mir meine eigene Furcht im Weg. Die Furcht, dass dabei etwas rauskommen könnte, das mir ganz und gar nicht gefällt. Dass es schlimme Gründe gibt, warum Sophie hier ist. Gründe, die bewirken könnten, dass sie bald ganz aus meinem Leben verschwindet, dass Kilian oder eines seiner Familienmitglieder Sophie ins Jenseits bringt und ich sie nie wiedersehen werde. Zumindest nicht in diesem Leben.