»Also, ich bin ja dafür, dass wir Pizza bestellen«, sagt Alicia, als wir darüber sprechen, was wir heute Abend essen sollen. Ein Klopfen an der Tür reißt uns aus unserer hitzigen Diskussion, weil jeder von uns auf etwas anderes Lust hat.

»Erwartet ihr noch Besuch?«, fragt Mara, als es erneut klopft und sie zur Tür geht, um zu öffnen. Ich bin erstaunt, als ich Kilian davor stehen sehe. Sofort wird mir flau im Magen, und das hat diesmal zwei Gründe. Allein sein Anblick reicht, mir wackelige Beine und Herzrasen zu bescheren, aber heute mischt sich noch etwas anderes in diese freudige Aufregung. Angst. Sie streckt ihre eisigkalten Hände aus, greift nach meinem Herz und hält es in einem unerbittlichen Griff gefangen. Ob das, was er vorhin gespürt hat, schon eingetreten ist? Ist das Unglück geschehen? Wie viele Seelen haben er und seine Familie ins Jenseits bringen müssen?

Am liebsten will ich die Fragen hinausschreien, weil ich meine Unwissenheit keine Sekunde länger aushalte. Ich tue es nicht, weil Mara und Alicia hier sind. Ich bin wie erstarrt.

»Ich glaube, das ist für dich«, sagt Alicia.

Wie ferngesteuert stehe ich auf und folge Mara zur

»Wie süß!«, ruft Alicia, was mich rot anlaufen lässt.

Kilian lacht verlegen und tritt in unser Wohnzimmer, sein Blick ruht dabei auf mir.

»Alles okay? Ich dachte, du hättest heute noch … diese Sache«, sage ich, schließlich kann ich Kilian vor meinen Mitbewohnerinnen nicht direkt darauf ansprechen.

Kilian schüttelt den Kopf und greift nach meiner Hand. Das ist mittlerweile zu einer Gewohnheit zwischen uns geworden, die sich einfach so vertraut anfühlt, dass es schmerzt, wenn er nicht da ist. Die Angst verliert an Macht über mich, aber sie ist noch da, kalt steckt sie mir in den Knochen und will einfach nicht weichen.

»Wir warten noch, aber es wird wahrscheinlich nicht so schlimm werden, wie wir angenommen haben«, erklärt er schließlich und klingt dabei alles andere als entspannt.

»Okay, ziemlich kryptisch, ihr zwei«, höre ich Mara murmeln, die sich gleich darauf in ihr Zimmer zurückzieht. Alicia folgt ihrem Beispiel kurze Zeit später, so dass Kilian und ich alleine im Wohnzimmer zurückbleiben. Noch immer ruht Kilians Blick auf mir, und doch sagen wir kein Wort.

Der Name seiner Mutter lässt mich zusammenzucken.

»Wirklich?«, frage ich ungläubig. Mein letzter Besuch im Hause Winter ist nicht wirklich gut verlaufen. Eine solche Einladung hätte ich nicht in hundert Jahren erwartet, aber anscheinend haben Kilians Eltern ihre Abneigung gegen mich abgelegt. Oder können meine Anwesenheit zumindest ertragen.

Kilian nickt und zieht mich an sich. »Keine Sorge. Sie werden sich schon benehmen«, beruhigt er mich und drückt mir einen Kuss aufs Haar.

Sofort werden meine Knie wieder weich, und ich bin heilfroh, dass er mich festhält.

»Also, was sagst du?«

Da wir noch immer nicht entschieden haben, was wir heute Abend essen wollen, beschließe ich, Kilians Familie noch eine Chance zu geben.

Clara und Felix haben sich zwar einigermaßen daran gewöhnt, dass Kilian und ich jetzt zusammen sind, aber sie benehmen sich in meiner Gegenwart noch immer recht seltsam. Manchmal gehen sie einfach so, sagen kein Wort, wenn der Anblick meiner Seele zu viel für sie wird. Selbst jetzt noch, obwohl sie doch zu heilen beginnt.

»Also gut, aber wenn es wieder so wird wie beim letzten Mal, bringst du mich nach Hause«, sage ich

»Es ist ja nur ein einfaches Abendessen und vielleicht noch ein Nachtisch, mehr nicht«, sagt er voller Zuversicht.

Seit meinem letzten Besuch dort habe ich das Haus der Winters nicht mehr betreten, und ich weiß nicht, ob sie tatsächlich mit meinem Anblick zurechtkommen. Der Zustand meiner Seele hat sich laut Kilian zwar stark verbessert, was ich noch immer seiner Nähe zuschreibe, aber trotzdem ist sie weit davon entfernt, eine heile Seele zu sein. Das wird wahrscheinlich Jahre dauern, vielleicht ein ganzes Leben, aber solange ich diese Leben mit Kilian verbringen kann, werde ich mich nicht beklagen.

Ich ziehe mir etwas anderes an, lasse mir Zeit beim Aussuchen meiner Klamotten, weil ich einen guten Eindruck hinterlassen will. Kilian ist seine Familie sehr wichtig, und ich weiß, dass es ihn fast zerreißt, zwischen ihnen und mir wählen zu müssen. Und doch hat er sich für mich entschieden. Das Mindeste, was ich im Gegenzug für ihn tun kann, ist, das Beste aus diesem Abend mit seiner Familie zu machen. Wer weiß, vielleicht bringt uns das am Ende alle näher.

Als ich einigermaßen mit meinem Spiegelbild zufrieden bin, folge ich Kilian hinaus zu seinem Wagen. Er hält mir die Tür auf und schaltet die Sitzheizung

»Ich verspreche dir, dass es diesmal gut laufen wird. Sie werden nichts sagen. Mach dir keine Sorgen, Lenora«, schwört er und drückt wieder meine Hand, während er aus der Stadt hinausfährt und beschleunigt. »Ich will einfach, dass die Leute, die mir im Leben am wichtigsten sind, mehr Zeit miteinander verbringen.«

Nun bin ich es, die seine Hand drückt. Diesen Wunsch kann ich ihm einfach nicht abschlagen, und ich zwinge mich dazu, mich zusammenzureißen. Vielleicht hat Kilian ja recht, und es wird tatsächlich nicht so schlimm, wie ich es mir die ganze Zeit ausgemalt habe. Vielleicht wird es ja ein schöner Abend. Aber vielleicht endet er auch in einer Katastrophe …