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Zwei Stunden später stehe ich äußerst demotiviert in meinem Zimmer und schiebe Buch für Buch in das Wandregal. Am Anfang hat es noch so groß gewirkt, aber so langsam wird der Platz für meine Schätze aus Papier und Tinte knapp. Über meinen Laptop höre ich leise Musik. Normalerweise heitert mich das immer auf, vor allem wenn ich meine Happy-Playlist ausgewählt habe. Heute allerdings nicht.

Dieser Typ lässt mich nicht mehr los. Sein Blick und der Hass darin verfolgen mich bis ins Wohnheim, auch wenn er selbst weit weg ist. Hoffentlich. Unauffällig werfe ich einen Blick über die Schulter, schaue aus dem Fenster, doch da ist nichts Ungewöhnliches. Nur Bäume, die lange Schatten auf das Grundstück des Wohnheims werfen.

Ich seufze und zucke im nächsten Moment zusammen. Die Musik wird von einem vertrauten Klingelton

»Helli!«, begrüße ich sie und freue mich, endlich ein freundliches Gesicht zu sehen.

»Hey, Lenora!«, kreischt sie und blickt dann belustigt an mir vorbei.

»Ist noch etwas unordentlich, ich weiß.« Ich folge ihrem Blick und bleibe an den Kisten hängen, die nebeneinander auf dem Boden stehen. Eigentlich hätte ich sie schon längst wegräumen können.

»Bei mir sieht’s auch nicht besser aus, und du hast wenigstens eine Ausrede. Ich wohne schon in diesem Zimmer, seit ich denken kann.« Helli kichert und deutet auf das viele Pink um sie herum. Im Gegensatz zu mir ist sie eines dieser Mädchen, die mit dem Prinzessinnentick geboren wurden, und ihre Mutter hat sie darin nur bestärkt.

»Also, schieß los, Schwesterherz! Wie ist es so unter den Abgehobenen?« Ein breites Grinsen erhellt ihr Gesicht, so dass das Grübchen in ihren Wangen zum Vorschein kommt. Sie ist einfach zu niedlich, und ich bin unendlich dankbar, dass wir uns so gut verstehen.

»Hey, ich gehöre ab jetzt zu denen. Ein bisschen freundlicher, wenn’s geht!«

Helli prustet laut los und winkt ab. »Du sagst doch selbst immer, dass du nirgendwo dazugehörst, Leni.«

»Sorry. Hätte ich nicht sagen sollen. Also: Ich will alles wissen. Irgendwelche heißen Typen?«

Helenas Augen werden groß. Sie lehnt sich näher an die Kamera, und ich weiß genau, dass ich aus diesem Verhör nicht mehr so schnell herauskomme.

»Hunderte. Ganz besonders die Schauspieler«, sage ich und denke an die letzte Nacht zurück. An all das Leben, die Ausgelassenheit meiner Kommilitonen und natürlich an Alicias Kommentare, wie sie die Typen miteinander verglichen und ihre Vor- und Nachteile aufgezählt hat.

»Und, hast du dir schon einen ausgesucht?« Helli zwinkert mir zuckersüß zu, obwohl sie genau weiß, dass mich dieses Thema in Verlegenheit bringt. Ich stöhne und schüttle den Kopf, auch wenn ich sofort an den grimmigen Waldschrat denken muss. Wobei unsere Begegnung das genaue Gegenteil eines heißen Flirts sein dürfte.

»Kommt alles noch«, sagt Helli und schenkt mir eines dieser Lächeln. Das bekomme ich immer dann zu sehen, wenn sie merkt, dass sie bei mir einen wunden Punkt getroffen hat. Und das kommt leider viel zu oft vor. Mein ganzes Leben besteht aus wunden Punkten.

»Na, wenn du das sagst«, murmle ich und weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Auch Helli ist plötzlich

»Ich hab es geschafft, Belle! Ich weiß endlich, wie du wirklich heißt.« Sie hüpft aufgeregt auf und ab und klatscht in die Hände. »Lenora!«

»Danke, das wusste ich bereits«, entgegne ich wenig begeistert. Ich bin der festen Überzeugung, dass es im Leben ein paar Regeln gibt, beispielsweise dass man klopft, bevor man in ein Zimmer stürmt.

Ich wende mich wieder meiner Schwester zu und nehme mir vor, mit Mara und Alicia noch einmal über das Thema Privatsphäre zu sprechen. Nennt mich Spielverderberin, aber ich brauche einfach meine Ruhe und Ordnung. Schon immer und erst recht jetzt.

»Ist das …? Oh, mein Gott, Leni! Warum hast du mir nicht gesagt, dass du mit Caspar Steinbergs Schwester zusammenwohnst? Krass!« So aufgeregt habe ich Helli nicht mehr gesehen, seit unser Vater ihr erlaubt hat, auf das One-Direction-Konzert zu gehen. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein schrilles Kreischen.

»War ja wieder klar, dass sie auf Caspar steht«, höre ich Alicia hinter mir murmeln. Die ganze Zeit über hat sie sich still über meine Schulter gebeugt, um Helli auf dem Laptopbildschirm zu betrachten, aber jetzt zieht sie sich zurück. So plötzlich, wie sie ins Zimmer geplatzt ist. Ich schaue ihr hinterher und versuche zu

»Gut gemeinter Rat, Schwesterherz«, sage ich und drehe mich wieder zu Helena um. Sie verdreht die Augen wie immer, wenn ich ihr damit komme.

»Ja, Frau Oberlehrerin?«

Ich seufze und schüttle den Kopf. Manchmal muss ich mir echt in Erinnerung rufen, dass sich normale Sechzehnjährige tatsächlich so benehmen und nicht wie ich damals still in der Ecke hocken und darauf warten, in die Sicherheit ihres Zimmers zurückkehren zu können.

»Glaub nicht immer alles, was in der Bravo steht.«