Erst am Donnerstag scheint es Kilian wieder so gut zu gehen, dass er an die Akademie zurückkehrt. Ich halte es trotzdem für das Beste, Abstand zu ihm zu halten. Sein plötzliches Verschwinden nach dem Unfall hat doch nur bewiesen, dass wir einfach nicht zusammengehören, dass wir aus zwei verschiedenen Welten kommen und nicht zusammenpassen. Die Distanz, die seine Abwesenheit zwischen uns verursacht hat, hat mir geholfen, das klarer zu sehen.

Ich gehe ihm aus dem Weg, so gut ich kann, auch wenn er immer wieder versucht, sich mir zu nähern. Können wir überhaupt zusammen sein? Etwas Derartiges kann schließlich jeden Augenblick wieder passieren. Habe ich überhaupt die Kraft, das noch ein weiteres Mal durchzustehen?

Noch immer lastet das Wissen um die vielen Seelen, die Kilian ins Jenseits gebracht hat, schwer auf mir. Ich kann mit der Tatsache, dass so viele Menschen den Tod gefunden haben, einfach nicht umgehen. Natürlich existieren ihre Seelen noch irgendwo, sind wahrscheinlich schon wiedergeboren worden, aber ihre alten Leben sind trotzdem vorbei. Die Freunde und Angehörigen der verstorbenen Studenten bei der Gedenkfeier zu sehen, hat nur noch mehr gezeigt, wie

 

Also halte ich Abstand, nicht nur zu den Trauernden, sondern auch zu Kilian und meinen beiden Mitbewohnerinnen. Der Unfall hat mich nachdenklich gestimmt, so dass ich in der letzten Nacht keinen Schlaf gefunden habe. Eigentlich hatte ich angenommen, dass ich durch das Wissen, das ich dank Kilian über den Tod und das Leben danach gesammelt habe, besser damit zurechtkomme. Nun stellt sich allerdings heraus, dass das Gegenteil der Fall ist. Jetzt, da ich weiß, dass die Seele meiner Mutter wahrscheinlich in einer anderen Welt ist, vermisse ich sie umso mehr. Sie existiert noch irgendwo dort draußen, und ich würde alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen. Aber das geht nicht, ich wüsste gar nicht, wo ich mit meiner Suche anfangen soll. Und das raubt mir mehr Kraft, als ich im Moment zur Verfügung habe. Also kapsele ich mich ab und versuche, irgendwie allein damit fertigzuwerden.

Jedes Mal wenn Kilian sich mir nähert, brauche ich

 

Am nächsten Dienstag halte ich es nicht länger in meinem Zimmer aus und gehe am Nachmittag zu Sophie, um mit ihr gemeinsam Tee zu trinken. Sie weiß sofort, dass etwas vor sich geht, etwas ganz und gar nicht stimmt, aber ich versuche, ihren Fragen auszuweichen.

»Liebes, du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst«, sagt sie irgendwann so verzweifelt, dass es mir in der Seele weh tut. Aber ich kann ihr nichts erzählen. Sonst würde ich ihr ja das Geheimnis verraten, das alle Winters miteinander verbindet.

»Bitte, Lenora. Versuch es zumindest«, schiebt sie schnell hinterher und greift nach meiner Hand. Ihre Finger sind kalt, fast so kalt wie die Winterluft, die mir von draußen ins Altenheim gefolgt zu sein scheint.

Das Flehen in ihrer Stimme und die tiefe Besorgnis in ihrem Blick machen es mir unmöglich, es noch länger zurückzuhalten. Ich versuche, ihr die Situation zu erklären. Das, was mich und Kilian trennt, kann ich

»Du solltest ihm noch eine Chance geben. Er ist wirklich verrückt nach dir, Lenora. So jemanden findet man nicht oft in seinem Leben, vielleicht ein einziges Mal, manche nie. Wirf dieses Glück nicht weg«, sagt sie und drückt meine Hand so fest, dass ich Angst habe, sie könnte mir die Finger brechen. Da ist etwas in ihrem Blick, das mich irritiert. Fast so, als würden ihre Worte mehr bedeuten als das, was sie tatsächlich gesagt hat. Bevor ich nachfragen kann, spricht sie schon weiter. »Weißt du, er besucht mich seit ein paar Tagen. Seitdem ihr nicht mehr miteinander sprecht, um genau zu sein. Er ist wirklich ein guter Junge, Lenora.«

Überrascht weiche ich zurück und versuche herauszufinden, ob Sophie mich gerade anschwindelt. Wieso verbringt Kilian Zeit mit ihr? Was erhofft er sich davon? Dass Sophie mich bittet, mit ihm zu sprechen, um diese Sache aus dem Weg zu schaffen?

»Ich weiß, dass es zwischen euch nicht immer leicht ist. Das hat er mir schon klargemacht, aber trotzdem kann ich einfach nicht verstehen, dass du ihn so wegstößt«, fährt sie nach einer Weile fort.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und bin mir mittlerweile sicher, dass mehr hinter Sophies Worten steckt. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme bereitet mir Sorgen. Was geht hier vor?

»Versprich mir, dass du es noch einmal mit ihm

»Es ist so schwer«, flüstere ich schließlich, was ihr ein kleines Lächeln entlockt.

Ihr Blick wendet sich wieder mir zu, ist nun offen und freundlich. »Wenn es einfach wäre, wäre es doch langweilig, findest du nicht?«

Ich seufze. Wahrscheinlich hat sie recht. Und trotzdem habe ich Angst, dass Kilian und ich einfach zu verschieden sind. Dass es nicht funktioniert.

»Gib ihm noch eine Chance, Lenora. Er hat es verdient«, bestärkt mich Sophie und drückt mich fest an sich.

Eine Weile lang sagt keiner von uns ein Wort, schweigend starren wir hinaus auf den Friedhof, der unter einer dicken Schneedecke vor uns liegt. Hin und wieder nippen wir an unserem Tee oder essen ein Stück Kuchen, doch ich schmecke nichts. Seit ich mich von Kilian fernhalte, ist nichts mehr wie früher. Alles ist so grau, so leer, so sinnlos. Vielleicht hat Sophie ja doch recht. Vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen.

»Ich glaube an euch beide, und es tut mir wirklich leid, dass ich bei deiner Lesung nicht dabei sein kann«, sagt Sophie irgendwann und greift wieder nach meiner Hand.

»Das braucht dir nicht leidzutun. Ich kann doch verstehen, dass du dich ausruhen musst wegen des Arzttermins. Außerdem beginnt die Lesung erst nach neun Uhr. Das ist schon wirklich spät«, sage ich.

»Wer ist denn hier der alte Knacker von uns?«, sagt Sophie lachend und stößt mich spielerisch in die Seite.

Nun kann auch ich mir ein Lachen nicht mehr verkneifen und spüre, wie sich mein Entschluss, mich mit Kilian auszusprechen, verfestigt. Vielleicht war es ein Fehler, ihn von mir fortzustoßen, vielleicht auch nicht. Aber ich brauche mehr Momente wie diesen hier. Mehr Momente, in denen ich lachen und unbeschwert sein kann. Sonst überkommen mich wieder die Erinnerungen an meine Vergangenheit, sonst verfalle ich wieder in alte Verhaltensmuster, ziehe mich zurück und versuche zu verschwinden, auch wenn es mir nie ganz gelungen ist. Und das obwohl ich mir geschworen habe, dass genau das nicht mehr passieren darf. Nie wieder.