Am nächsten Morgen bin ich schon früh wach, kann noch immer nicht glauben, was gestern Abend passiert ist. Immer wieder höre ich Kilians Worte in meinem Kopf.
Ich liebe dich, Lenora. Das ist alles, was zählt.
Kilian schläft so friedlich neben mir im Bett, dass ich mich leise herausschleiche, um einen Text zu verfassen, der mir seit geraumer Zeit durch den Kopf geht. Ohne Pause fliegen meine Finger über die Tastatur meines Laptops, während die Inspiration ihre Magie wirkt und die Worte nur so aus mir herausfließen. Zwei Stunden später, als auch die anderen Bewohner des Wohnheims zum Leben erwachen, bin ich fertig und gehe mein neuestes Werk mit einem Lächeln auf den Lippen durch. Dieser Text ist einfach perfekt, mal abgesehen von ein paar Tippfehlern. Er ist düster, aber auch voller Hoffnung und Magie. Ein literarisches Kunstwerk, auf das ich wirklich stolz bin. Statt des Texts, den ich zusammen mit Sophie ausgewählt und verbessert habe, will ich diesen hier auf der Lesung vortragen, die heute Abend stattfinden soll. Ich bin zwar immer noch traurig, dass Sophie nicht mitkommen kann, weil sie am nächsten Tag einen wichtigen Arzttermin hat, freue mich aber trotzdem da- rauf, diesen neuen Text mit der Welt zu teilen. Plötzlich habe ich gar keine Angst mehr davor, im Gegenteil, ich kann es kaum mehr erwarten. Am liebsten würde ich meinen Text in die Welt hinausschreien, dass man ihn noch in weiter Ferne hört. Und das nur wegen Kilian …
Alles geht plötzlich so viel leichter, nachdem ich mich gestern mit ihm ausgesprochen habe. Ich bin froh, dass ich Sophies Rat gefolgt bin. Nach seinem Geständnis gestern Abend haben wir uns lange darüber ausgetauscht, was zwischen uns steht und wie wir diese Hindernisse überwinden können. Noch ist nicht alles geklärt, aber ich bin zuversichtlich, dass wir es schaffen – zusammen.
Während Alicia und Mara zu ihren letzten Vorlesungen vor den Winterferien aufbrechen, verbringe ich den Vormittag in unserem Wohnzimmer an meinem Computer und verbessere meinen Text. Irgendwann kommt Kilian noch ganz verschlafen aus meinem Zimmer und setzt sich zu mir. Gerade als ich die letzten Worte tippe, küsst er mir die Wange, rückt noch etwas näher, um mir über die Schulter zu blicken.
»So denkst du also über mich?«, fragt er, nachdem er den letzten Absatz meines Textes gelesen hat.
Ich nicke und klappe den Laptop zu, bin endlich fertig und habe nun den ganzen Nachmittag Zeit nur für ihn. Heute fallen für uns beide sämtliche Vorlesungen aus, weil die meisten Dozenten mit Vorbereitungen für das Winterfest beschäftigt sind. Wir haben also den ganzen Tag für uns. Diese Zeit will ich unbedingt nutzen, nachdem ich die letzten Tage ohne Kilian verbracht habe. Es tut so gut, ihm wieder nah zu sein, dass ich beschließe, nie wieder etwas so Dummes zu tun und ihn fortzustoßen. Nie wieder, ganz gleich, was kommen mag.