94

»Frau Hagen, man hat Sie also doch erreicht?«, begrüßt uns die Empfangsdame im Altenheim, als sie

Verwundert halte ich inne, verstehe nicht ganz, was sie meint.

»Nein, was ist hier los?«, frage ich, während plötzlich ein schrecklicher Gedanke von meinem Bewusstsein Besitz ergreift. Nein, nicht Sophie!

Frau Obermann, die Empfangsdame, kommt um die Theke herum auf mich zu, nimmt meine freie Hand, die andere hält Kilian.

»Es tut mir sehr leid, aber Ihrer Großmutter geht es sehr schlecht. Sie sollten sich beeilen«, sagt sie und drückt meine Hand. In Frau Obermanns Blick liegt Mitleid, tiefstes Mitleid und Bedauern. Gestern ist es Sophie doch noch so gut gegangen. Sie hat sich so für mich gefreut, dass ich bei der Lesung dabei bin, dass Kilian und ich uns wieder vertragen haben. Ich wende mich wieder ihm zu und merke, dass er alles andere als überrascht von dieser Nachricht ist. Kilian muss es gespürt haben, deswegen sind wir hergekommen. Deswegen hat er alles stehen und liegen gelassen, hat die Lesung ausfallen lassen und mich hierhergebracht. Und das kann auch nur eines bedeuten: Das hier könnte die letzte Nacht meiner Großmutter sein.

Ich reiße mich von den beiden los, lasse sie einfach hinter mir stehen und renne die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dabei verfluche ich Alicia dafür, dass sie mich in dieses verdammte Kleid und diese bescheuerten Schuhe gesteckt hat, mit denen ich nur

Ich laufe weiter, stolpere wieder und schaffe es schließlich zu Sophies Zimmer. Vor ihrer Tür halte ich inne und bereite mich auf das vor, was mich dahinter erwartet. Gerade als ich meine Hand nach der Tür ausstrecke, wird diese geöffnet. Ein Mann in weißem Kittel kommt heraus und erschrickt bei meinem Anblick.

»Sind Sie die Enkelin?«, fragt er mich und hat sich gleich wieder gefasst. Seine Stimme ist ausdruckslos, genauso wie sein Gesicht, so dass ich nicht erkennen kann, wie es um meine Großmutter bestellt ist.

Ich nicke, unfähig, etwas zu sagen. Mein Herz rast so schnell, dass ich ihn kaum verstehen kann, als er anfängt, auf mich einzureden, und mich vom Zimmer wegschleift, wo doch alles in mir nur zu Sophie will.

»Ich weiß nicht, ob Ihre Großmutter es Ihnen erzählt hat, aber sie hat schon seit sehr langer Zeit einen Tumor im Kopf. Wir können ihn nicht operieren und haben gehofft, dass er sich nicht vergrößert, aber seit einigen Tagen klagt sie über Kopfschmerzen. Es ist schlimmer geworden. Nach einigen Tests mussten wir feststellen, dass wir leider nichts mehr für sie tun können«, erklärt er mir, als wir in seinem Sprechzimmer sitzen. Er muss es mehrmals wiederholen, bis die Worte endlich zu mir durchdringen. Hinter mir höre

»Nein«, stoße ich hervor. Nein, das kann einfach nicht sein. Nicht jetzt, nicht heute!

»Es tut mir so leid, Frau Hagen. Ich wünschte, es gäbe etwas, um Ihre Großmutter zu heilen. Ich habe ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben, aber mehr kann ich einfach nicht tun«, fügt er hinzu und drückt wie vorhin die Empfangsdame meine Hand.

Ich reiße mich von ihm los, stoße Kilian von mir weg und stürme in Sophies Zimmer. Meine Großmutter liegt kreidebleich auf ihrem Bett und wirkt, als wäre sie über Nacht um mehrere Jahrzehnte gealtert.

Als ich neben sie ans Bett trete und nach ihrer Hand greife, rührt sie sich nicht. Das Heben und Senken ihrer Brust ist das einzige Lebenszeichen, mein einziger Hoffnungsschimmer nach dieser schrecklichen Nachricht. Sophie hat die Augen zwar geöffnet, erkennt mich allerdings nicht. Ich glaube, sie bemerkt gar nicht, dass ich hier bin. Nicht einmal als ich mich neben sie aufs Bett setze. Ihr Blick wandert rastlos durch das Zimmer, als wäre sie auf der Suche nach etwas und könnte doch nichts sehen. Ich versuche mehrmals, sie zum Sprechen zu bringen, frage sie, wie es ihr geht, doch sie antwortet mir nicht. Tränen füllen meine Augen, laufen in Strömen meine Wange hinab, bis sie schließlich auf Sophies Bett landen. In diesem Moment scheint meine Seele erneut zu zerspringen. All die Risse, all die Wunden, die dank Kilian und

Es dauert nicht lange, da spüre ich Kilian hinter mir, wie er mir einen Arm um die Schulter legt und einen Kuss aufs Haar haucht, während ich Sophies Hand halte und nicht weiß, was ich tun soll.

»Die Ärzte haben gesagt, dass es nicht mehr lange dauern wird. Sie wird einschlafen, ohne Schmerzen. Das haben sie mir versprochen«, flüstert er mir zu, während die Tränen unaufhaltsam über meine Wangen strömen. Ich kann es einfach nicht begreifen. Warum ausgerechnet heute? Warum ausgerechnet Sophie?

»Aber vor ein paar Tagen ging es ihr doch noch so gut!«, protestiere ich und erinnere mich an die letzten Gespräche, die ich mit ihr geführt habe. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem sie mich gezwungen hat, endlich wieder mit Kilian zu reden. Ich erinnere mich an den Ausdruck in ihren Augen, an ihre Worte und daran, dass es sich so angehört hat, als würde mehr darin mitschwingen, als es zunächst den Anschein gehabt hat. Ob sie da schon gewusst hat, dass sie nicht mehr lange zu leben hat?

»Warum hat sie es mir nicht gesagt?«, schluchze ich und kann mich kaum noch aufrecht halten. Kilians Arme allein stützen mich, halten mich fest, so dass ich nicht neben meiner Großmutter zusammenbreche unter all meiner Traurigkeit und den Schmerzen meiner zerbrochenen Seele. »Warum hat sie denn nichts gesagt, verdammt nochmal?«