Kapitel 1
Schnee lag in der Luft.
Er konnte es riechen, fühlen, schmecken und bis ins Innere seiner Knochen spüren. Jamie wusste genau, dass ein Sturm bevorstand, egal ob der Himmel noch blau war, die Sonne spätherbstlich warm und matt leuchtete, die Luft samtig und angenehm über seine Haut strich.
Die Berge, die ihn von drei Seiten himmelhoch umgaben, schienen meilenweit entfernt und der See, an dem Jamie sein zu Hause gefunden hatte, tiefer und klarer als je zuvor. Alles sprach dafür, dass dieser Sturm gewaltig werden würde. Vermutlich war danach die Winterzeit eingeläutet, die erst wieder weichen würde, wenn das neue Jahr weit fortgeschritten war. Ein Winter, der fünf, in Ausnahmefällen auch sechs Monate andauern konnte.
Hier oben zu leben war hart und entbehrungsreich, dazu extrem einsam. Er jagte Kaninchen, angelte, war vom späten Frühjahr bis zum Herbst damit beschäftigt, Vorräte zu sammeln, Pflanzen zu trocknen, Fisch und Fleisch zu dörren und somit für den Winter haltbar zu machen. Dazu brauchte er Holz, wofür er in erster Linie Totholz in den Wäldern auflas und sich an umgestürzten Bäumen bediente. Bäume zu fällen war gefährlich – zu gefährlich für einen Mann allein, besonders wenn man die hohen Stämme zu attackieren versuchte. Es genügte zudem für seine Bedürfnisse, sich an Totholz zu halten, da er den Winter zum größten Teil in seiner Wandlergestalt zubrachte. Geschützt von dickem Winterpelz als Wolf verschlief er etliche Stunden und benötigte kein Feuer. Lediglich ein- bis zweimal am Tag kehrte er in die menschliche Form zurück, bereitete sich Essen zu. Stand ihm der Sinn danach, kochte er sich einen Eintopf aus Wurzelknollen und etwas Dörrfisch oder - fleisch. Diese Tätigkeiten in Menschengestalt waren wichtig, um sich nicht zu verlieren. Jeder Wandler fürchtete sich davor, sein menschliches Bewusstsein zu vergessen und am Ende die Rückwandlung nicht mehr zu schaffen. Als ein monströses Zwischending zu enden, nicht Tier, nicht Mensch. Reduziert auf Triebe und Ängste, auf Zorn und Erschöpfung.
Allein zu leben, seit endlosen Jahren keinem menschlichen Wesen begegnet zu sein, verschärfte die Gefahr. Darum ging Jamie kein Risiko ein, verbrachte den Sommer praktisch ohne Wandlung, kehrte auch im tiefsten und kältesten Winter so oft wie möglich zurück. Bislang war er gut durchgekommen, zumindest seiner eigenen Meinung nach. Inzwischen vermisste er keine Gesellschaft mehr, er hatte sich vollständig an dieses Dasein gewöhnt und er fürchtete sowieso, eines Tages auf andere Menschen – auf Wandler zu stoßen. Ging es nach ihm, würde dieser Tag niemals kommen.
Leise summend lud er sich die beiden schweren Wassereimer auf die Schultern und trug sie zurück zu seiner Hütte. Wenn der Sturm ihn tagelang einschließen sollte, wollte er mit Vorräten für sämtliche Eventualitäten bestückt sein. Es gab keine Garantie, dass der Schnee früh und bis herab zu ihm kam und ihm die Möglichkeit bot, diesen einzusammeln und in Gefäßen am Kaminfeuer zu schmelzen. Möglicherweise blieb der Schnee oben auf den Berggipfeln hängen und er musste sich mit heulenden, zerstörerischen Winden begnügen. In dem Fall war es wichtig, Wasser griffbereit zu haben.
Jamie kontrollierte die Fensterläden, die Türriegel, die Wände seiner selbstgebauten Blockhütte, und mit besonders viel Aufmerksamkeit das Dach. Solange er noch genügend Licht hatte, verstärkte er jede Schwachstelle, tauschte die Riegel einer der Fensterläden aus, nagelte Dachlatten fest. Dabei verbrauchte er seine letzten Nägel.
Eine Tatsache, die ihn bis in die Knochen erschaudern ließ. Vor mehr als sechs Jahren war er nach hier oben in die einsamen Berge geflohen. Dorthin, wo ihm niemand freiwillig folgen würde. Was er zum Überleben brauchte, hatte er zuvor jahrelang geplant, sich Fähigkeiten und Wissen angeeignet und war schließlich schwer bepackt und beladen mit einem Schlitten hergekommen, kurz vor Winterende, als noch genügend Schnee lag, um ein solches Gefährt nutzen zu können. Damals hatte er sofort begonnen, schmale, kleine Bäume zu fällen, sie trocknen zu lassen und hatte erst kurz vor Beginn des nächsten Winters mit dem Hüttenbau begonnen, als das Holz zumindest halbwegs abgelagert und bereit war.
Für fast alles, was er brauchte, jedoch nicht besaß, hatte er Ersatz finden können. Improvisieren, erfinden, mit anderen Materialien arbeiten. Statt normaler Kleidung trug er Fell und Leder. Statt Schuhe hatte er Konstrukte aus Holz und Leder an den Füßen. Steine ersetzten ihm den Hammer, nachdem der ursprüngliche vor zwei Jahren kaputt gegangen war. Muskelkraft, Geschick und Geduld reichten, um ein Feuer zu entzünden. Es gab Lösungen!
Leider nicht für alles.
Einen Stahlnagel konnte man nicht gleichwertig durch Holz oder Stein ersetzen.
Möglicherweise konnte er sich in Wolfsgestalt an eine Menschensiedlung anschleichen und im Schutz der Dunkelheit stehlen, was er benötigte?
„Hunde“, murmelte er halblaut vor sich hin. „Menschen haben Hunde. Die würden mich verraten und das gäbe Ärger.“
Vermutlich in Form von Schrotladungen, die man dem vermeintlichen Wolf auf den Pelz brennen würde. In die nächstgelegene Stadt konnte er auch nicht gehen. Man würde ihn als Landstreicher verhaften, sobald man ihn in seinem Aufzug erblickte.
Jamie schüttelte unwillig den Kopf und verdrängte diese Sorge. Im Augenblick gab es nichts weiter, was genagelt werden müsste. Er war bereit für den Sturm, und das war alles, was im Moment zählte. Über die Zukunft nachdenken konnte er heute Nacht, wenn das Heulen und Klappern und Prasseln von Wind und Regen ihm den Schlaf raubte.
Und ja, vielleicht sollte er nachdenken. Das war etwas, was er bei diesem Thema seit Jahren krampfhaft vermieden hatte. Tatsache war: Egal wie sehr es wollte, wie sehr er sich einredete, niemanden zu vermissen und niemanden zu brauchen, kein Mensch, auch kein Wandler, konnte dauerhaft vollkommen allein leben. Nicht ohne Schaden zu nehmen. Es gab mehr als einen Weg, um sich in ein wildes Tier zu verwandeln …
~*~
Seit Stunden rannten sie bereits, verwischten ihre Spuren in jedem verdammten Rinnsal, das sich ihnen bot. Die Erschöpfung brannte in seinen Knochen, genauso wie sie in seiner Nase stach – die eigene ebenso sehr wie die seiner Gefährten. Sie würden noch lange durchhalten, sehr lange sogar. Wölfe waren ausdauernd, sie konnten noch die gesamte Nacht weitermachen, wenn es sein musste. Leider galt dies auch für ihre Verfolger, die unerbittlich aufholten. Schritt für Schritt. Nox wusste, dass es ein verdammtes Wunder brauchte, um ihnen tatsächlich entkommen zu wollen. Es war von Anfang an klar gewesen, wie gering ihre Chancen auf Entkommen war.
„Wir müssen weiter nach oben!“, grollte er, als sie sich für einen kurzen Moment verwandelten, um über eine Weggabelung zu entscheiden. Unter ihnen ging es hinab ins Tal, was der logischere Weg war. Leichter zu laufen. Endlose Wälder, die mit dem Versprechen auf Unterschlupf lockten. Schutz vor dem Unwetter. Straßen, die zu Städten führten. So viel vernünftiger, als weiter hinauf ins Niemandsland zu rennen. In die Berge, die mit tödlicher, stummer Gewalt in den Himmel ragten. „Wir können durch den Bach laufen, dann wissen sie nicht, dass wir uns bergauf durchschlagen. Dort vermuten sie uns nicht und wir können später wieder auf die Niederungen zuhalten.“
„Das ist Wahnsinn, Nox“, entgegnete Braxton. „Da oben gibt es keine Deckung. Wenn sie uns nachkommen, sind wir verloren, ohne Wenn und Aber.“
„Wenn sie davon ausgehen, dass wir in die logische Richtung weiterfliehen, gewinnen wir Zeit. Zwei, drei Stunden, dann ist der Sturm über uns und wir können erst einmal in Ruhe Deckung suchen.“ Er diskutierte nicht weiter, sondern kehrte in die Wolfsgestalt zurück. Für Diskussionen hatten sie keine Zeit, sie mussten fliehen. Andernfalls erwischten ihre Feinde sie hier mit runtergelassenen Hosen, streitend wie Kleinkinder. Das war undenkbar! Es dauerte bloß Momente, bevor Braxton und Wes ihm nachfolgten. Aufteilen war ebenso undenkbar. Entweder entkamen sie alle drei, oder sie starben gemeinsam. Aus diesem Grund waren sie schließlich hier. Die beiden hätten ihn nicht begleiten müssen …
Mit raumgreifenden Sprüngen hetzten sie den steilen, steinigen Abhang empor, durch das eisige Wasser eines Baches, hinauf ins Niemandsland, das weder Wandler noch Nicht-Wandler für sich beanspruchten, weil es zu lebensfeindlich war, um dort sein Glück zu suchen. Da oben gab es nichts außer Gestein, Gletscher, Kälte und den sicheren Tod. Niemand, der noch recht bei Verstand war, würde sich jemals freiwillig dorthin begeben. Blieb zu hoffen, dass ihre Häscher eine solche Verzweiflungstat ausschließen würden.