Kapitel 9
Sie arbeiteten Hand in Hand, um den Boden für das Blockhaus vorzubereiten. Nichts war wichtiger als eine gründliche Vorbereitung. Absolut plan und gleichmäßig eben musste der Boden sein, frei von Zweigen, Wurzeln, Steinen und sonstigen Hindernissen. Als das erreicht war, schleppten sie körbeweise Flusskiesel heran.
Der nächste Schritt war die Auswahl der passenden Baumstämme. Weiß-Fichte eignete sich besonders gut, weil die Stämme gerade und nicht zu dick oder zu schmal waren. Sie würden eine Menge Baumstämme benötigen. Da es hier eine ganze Menge abgestorbener Fichten gab, konnten sie sich erst einmal an denen bedienen. Die Zweige ließen sich ideal für Kochfeuer nutzen.
Die Bautechnik als solche war einfach und über Jahrtausende hinweg erprobt: Die Stämme wurden entrindet, grob beschlagen, um Unebenheiten zu beseitigen und dann als Ganzes gestapelt. Eine passgenaue Mulde wurde mit Axt und Meißel geschaffen, um den Stamm jeweils mit dem darunter zu verfugen. Erst am Schluss wurden die überstehenden Enden der Stämme abgesägt.
Jamie wollte die moderne Technik der Dachlattung vor allem deshalb, weil sie auch mit ungetrockneten Baumstämmen arbeiten mussten. Sprich, das Holz würde nach der Verarbeitung noch ordentlich arbeiten und sich auch verziehen, ein dichtes Dach war auf diese Weise illusorisch. Auch die tragenden Wände würden im Laufe des Winters Nachbearbeitung erfordern. Leider konnten sie nicht warten und gefällte Stämme mindestens ein Jahr lang reifen und trocknen lassen. Immerhin hatten sie jede Menge Baumrinde und verdorrtes Gras zur Verfügung, das sie als Dämm-
und Deckmaterial verwenden konnten, und die bereits abgestorbenen Bäume, die sie verwendeten, waren schon ziemlich gut durchgetrocknet. Die benutzten sie darum auch für die Basis Wände, damit diese so stabil wie möglich ausfielen.
Am dritten Tag ihres Bauprojekts machten sich Braxton und Wes auf den Weg zur Stadt. Sie würden Nägel, Dämmfolie, Konservendosen und viele andere nützliche Dinge einkaufen. Bei der Wegstrecke würde es zwei volle Tage dauern, bis man sie zurückerwarten konnte.
„Bis wir zurück sind, habt ihr die Bude schon fertig, vom Dach abgesehen, okay? Inklusive Tür und Fenster. Fände ich ganz prima“, sagte Braxton zum Abschied und klopfte Jamie herzlich auf die Schulter. „Unsere schwangere Elster braucht ihr warmes, kuscheliges Nest. Heute Nacht hat es in den Bergen wieder heftig geschneit und ich fürchte, das dauert nicht mehr lange, bis das auch bei uns hier unten ankommt. Es wird kälter und feuchter.“
„Elster. Pah!“ Jamie tat beleidigt. Dabei konnte er nicht leugnen, wie schwer ihm die Arbeit fiel. Er war müder als sonst, ihm wurde viel schneller schwindelig – sein Blutvolumen hatte sich um ein Drittel erhöht, das war keine Kleinigkeit, was sein Kreislauf vollbringen musste. Zudem weichten die Hormone seine Muskeln auf, um Vorräte für die Babys einzulagern. Es kam ihm also nicht bloß so vor, als hätte er viel weniger Kraft und Ausdauer als normal, es war schlichtweg eine Tatsache.
Er bemühte sich, das auszusitzen und dennoch möglichst viel mitzuarbeiten. Sie brauchten diese Hütte, denn ja, das Wetter war ein Problem.
„Vertragt euch, während wir weg sind, klar?“, rief Wes zum Abschied.
„An mir wird’s nicht liegen“, brummte Jamie.
„An mir genauso wenig“, sagte Nox gelassen und hievte sich den nächsten geviertelten und geschälten Stamm über die Schultern.
Eine Arbeit, die Jamie nicht erledigen durfte. Sein Job war das Schälen und Begradigen der Stämme. Er durfte sägen, an das Stemmeisen zum Ausmeißeln der Fügungsmulden hingegen ließ Nox ihn nicht heran. Sie schafften dennoch einiges weg, trotz Nieselregen und Nebelschwaden.
Der Wald dampfte regelrecht, dafür war die Luft halbwegs warm. Jamie kam beim Schälen der Stämme gut voran und er musste lächeln, wann immer sein Blick auf Nox fiel – sein Gefährte sang leise beim Arbeiten und er war ein schöner Anblick. Das Hemd hatte er von sich geworfen, mit nacktem Oberkörper stemmte er die Mulde aus, die er gerade bearbeitete. Die Muskeln spannten sich im gleichmäßigem Takt, einzelne Schweißtropfen rannen über helle Haut … O ja, er war ein bildschöner Anblick. Der muntere Gesang dazu verstärkte diesen Eindruck bloß noch, es war unglaublich angenehm, in Nox‘ Nähe zu sein, mit ihm gemeinsam arbeiten zu dürfen.
Sie pausierten in den frühen Nachmittagsstunden, weitermachen wollten sie dann noch, solange das Licht es irgendwie zulassen würde. Mittlerweile hatte sich die Sonne rausgewagt. Es war angenehm, die Luft lau und sanft, das Licht warm, wie es nur im Herbst möglich war. Unter viel Gelächter wuschen sie sich gegenseitig den Schweiß und Dreck vom Leib. Für diesen Zweck hatte Jamie Wasser aus dem Bach geholt und die Holzschalen in der Sonne stehenlassen, damit es sich ein bisschen erwärmte. Er war nie an dem Punkt angekommen, dass er sich gerne mit eisigkaltem Wasser wusch und Frieren als besonders männlich und toll empfand.
Nox hingegen … Der war extrem männlich und Jamie wusste genau, dass er ihn toll fand. Auch wenn ihn das gerade nirgends hinbrachte, weil ihre Situation irgendwie seltsam, absurd und kompliziert war. Er wusste noch nicht einmal, wohin er genau wollte …
~*~
Obwohl Jamie lachte und sich scheinbar ungeniert nackt vor ihm präsentierte, spürte Nox die Scham, die von ihm ausstrahlte. Er wollte nicht angeschaut werden. Seine Witterung verriet, dass er gerade mit schwankenden Emotionen zu kämpfen hatte und der Blick zeigte, dass diese eindeutig mit ihm, Nox, zusammenhingen.
„Hey“, sagte Nox sanft und umfasste ihn an den Handgelenken. „Alles okay bei dir?“
Jamie brach sofort den Blickkontakt, ließ den Kopf hängen. Die Scham strahlte noch intensiver von ihm aus, ein grelles, ätzendes Orange, das nach Schwefel roch und wie kleine Elektroschocks anfühlte.
„Ich bin mir selbst so fremd“, murmelte er. „Mein Körper. Ich fühle mich, als wäre ich in einen weiblichen Körper reingepfropft worden. Ich gehöre nicht dort hinein, ich bin ein Eindringling, ich entweihe diese Vollkommenheit, dieses heilige Instrument, das Leben hervorbringt. Dieses unglaubliche Wunder der Natur, das wirklich anbetungswürdig, schön und perfekt ist. Denn ich fühle mich nicht anbetungswürdig, schön und perfekt, sondern aufgequollen, schwammig, schlaff und wie eine Schüssel voll Hefeteig, die nicht richtig verschlossen wurde und darum überall hinaussuppt und Sauerei verursacht. Ich rieche merkwürdig. Und jeden Morgen trifft mich fast der Schlag, wenn ich nach meinem Schwanz greife und feststelle, dass der einfach nicht mehr da ist. Dafür hab ich jetzt diese baumelnden Tüten.“ Er wies auf seine entzückenden kleinen Brüste. „Die sind immer im Weg. Immer! Egal was ich tue, sie stören. Und sie tun weh. Ob ich sie nun fest hochbinde oder hängen lasse, sie schmerzen. Jede Berührung schmerzt. Und sie baumeln. Ich hasse die Dinger!“ Kläglich blickte er nun doch zu Nox hoch. „Dieses Gejammere hasse ich auch. Warum kann ich
mich nicht mit meiner Rolle abfinden? Ich bin ein Omega. Das weiß ich seit zig Jahren. Ich wusste eigentlich vom ersten Tag an, dass mir das hier passieren könnte. Trotzdem hat mich nichts darauf vorbereitet und jetzt … Jetzt bin ich ein Sack voll weicher, schlaffer Haut, zu schlapp, um eine Axt zu schwingen, will die eine Hälfte des Tages Heulen und mich mit Essen vollstopfen und die andere Hälfte komatös schlafen. Also nein. Ich bin nicht in Ordnung. Aber ich werde es bald wieder sein. Sobald ich zurück in meinen normalen Körper geschrumpft bin. Für echte Weiblichkeit fehlt mir offenkundig der göttliche Funke. Ich kann mit dieser Art Heiligtum nicht umgehen.“
„Bist du fertig?“, fragte Nox geduldig und legte ihm beide Hände an die Wangen. „Komm her“, fuhr er fort, als ihm tränenerfüllte Verletzlichkeit begegnete, nahm ihn fest in die Arme, drückte ihn an sich, zog ihn auf den Boden hinab, ohne ihn loszulassen. „Hör zu. Ich habe einige schwangere Frauen in meinem Rudel beobachten können. Keine von denen hat sich je wie eine Göttin aufgeführt und nach allem, was sie erzählt haben, fühlten sie sich auch die meiste Zeit über nicht allzu göttlich, sondern eher so wie du – aufgequollen, fremdbestimmt, verheult, verfressen und müde. Es ist Höchstleistung, neues Leben zu entwickeln und überhaupt kein bisschen romantisch. Okay? Du hast mehrere Jahre von sämtlichen Menschen isoliert gelebt, in einer Art Blase der Idylle. Das Leben war perfekt, niemand hat Anforderungen an dich gestellt, niemand hat dich herausgefordert. Niemand hat dir etwas Gutes getan, aber eben auch nichts Böses. Und zack! Lebst du Bauch an Bauch mit drei fremden Kerlen und bist schwanger. Dass das weder leicht noch romantisch noch göttlich noch irgendwie schön ist, sollte sich von selbst verstehen. Ich finde es trotzdem schade, dass du diese Erfahrung so sehr hasst und ablehnst.“ Er zog Jamie zu sich heran, bis dieser rücklings gegen ihn gepresst dasaß, und führte dessen Hände in die Tiefe, bis sie auf dem Unterbauch ruhten.
„Da. Unter deinen Fingerspitzen befinden sich deine Töchter, Jamie. Sie stammen zur Hälfte von dir, aus den Eiern, die bereits seit Geburt in dir bereitgelegen und darauf gewartet haben, befruchtet zu werden und reifen zu dürfen. Es sind deine Kinder, Jamie, keine Fremdkörper, keine Aliens, kein Schmutz. Das, was notwendig ist, um sie wachsen zu lassen, mag dich unglaublich belasten. Ich verstehe das gut und glaub mir, würde man mich fragen, ob ich für zwei, drei Monate mit dir tauschen soll, müsste ich bedauernd ablehnen, denn dafür fehlt mir effektiv die Kraft. Nimm dir trotzdem die Zeit, deine Töchter zu begrüßen und dich zu freuen, weil es sie gibt. Sie haben es verdient, von dir geliebt zu werden, meinst du nicht?“
Er spürte die Tränen, die Jamie vergoss. Die Scham intensivierte sich noch mehr – Scham, weil er sich ausschließlich leidtat und jammerte und über Äußerlichkeiten mit dem Schicksal haderte, statt an die Kleinen zu denken. Diese Kinder hatten nicht darum gebeten, heranzureifen. Es war geschehen und sie waren vollkommen unschuldig an dieser Tatsache.
Langsam kam Jamie zur Ruhe. Seine Witterung veränderte sich zu einem sanften, warmen Gelb, dann zu einem klaren, immer noch sehr warmem Grün. Er streichelte behutsam über seinen eigenen Bauch und man spürte, wie er an die Kinder dachte, die dort in ihm wuchsen, und ihnen liebevolle Gedanken sandte.
„Sie brauchen dich“, flüsterte Nox und drängte seine Finger zwischen Jamies. „Wenn sie nichts als negative Gedanken und Ablehnung von dir zu spüren bekommen, wie sollen sie da zu starken Persönlichkeiten heranwachsen? Du musst nicht mögen, was dir aufgezwungen wurde, aber lass es nicht an den Kindern aus. Dein Körper ist nicht göttlich. Die Veränderungen geschehen einfach und du hast nicht den geringsten Anteil daran. Dein Band zu den Kleinen hingegen, das ist göttlich – aus ihrer Perspektive. Du bist ihr Schöpfer. Sei ihnen ein guter, gnädiger Gott.“
Jamie nickte langsam. Er lehnte sich noch stärker gegen ihn, blickte zu ihm hoch.
„Meinst du, sie werden deine schwarzen Augen bekommen?“, fragte er. „Ich glaube, das würde mir gefallen.“
Was für eine Vorstellung! Nox unterdrückte ein wohliges Schaudern.
„Wir wissen nicht, ob ich der Vater bin“, sagte er schmunzelnd. „Vielleicht sehen wir es, wenn sie geboren sind. Nur weil ich der Erste war, heißt es nicht, dass ich auch fruchtbar bin. Wichtig ist es nicht. Ich bin happy, wenn sie deine Willenskraft, deinen Mut erben. Sie werden für mich meine Kinder sein, einfach weil ich dabei war. Ich werde sie willkommen heißen und lieben. Sie werden wundervoll sein, denn sie sind ein Teil von dir. Wir sind für dich da, Jamie. Wir sind dein Rudel. Deine Familie.“
Das war ziemlich heftig, es war ihm selbst bewusst. Trotzdem würde Nox kein einziges dieser Worte zurücknehmen. Niemals und unter keinen Umständen. Jetzt drängten auch bei ihm Tränen und Jamie löste sich in Rührung auf. Darum beugte er sich rasch vor und umfasste Jamies Kinn, damit er ihm einen zarten Kuss auf die Lippen hauchen konnte.
„Dein Körper ist mir gleichgültig“, raunte er ihm ins Ohr und genoss das Schaudern, das Jamie durchging. „Du bist mir wichtig, weil du bist, wie du bist. Ich würde mit dir Sex haben, es wäre mir egal. Aber ich warte auch gerne, bis du deine äußere Männlichkeit zurück hast. Küssen will ich dich trotzdem gerne, wenn das okay für dich ist.“
Statt Worte zu verschwenden, drängte Jamie sich gegen ihn, küsste ihn gierig, bis sie beide überhitzt und erregt waren.
„Sorry“, murmelte Jamie, löste sich von ihm, kam taumelnd auf die Beine und eilte dann Richtung Bach, wo er sich niederkniete und das Gesicht mit kaltem Wasser wusch. Nox folgte ihm langsam, wartete, bis er selbst ein wenig abgekühlt war, bevor
er sich neben ihn kauerte und ihm verständnisvoll über den Rücken strich.
„Ist okay“, sagte er lächelnd. „Es geht zu schnell, alles klar. Zeig mir deine Grenzen, das ist nur richtig so.“
„Es ist … es ist viel“, stieß Jamie aufgewühlt hervor. „Ich hatte so etwas wie Verlieben, Beziehungen, Sex zum Spaß und ohne festes Ziel … solche Dinge … die hatte ich einfach nie auf dem Schirm, okay? Nicht für mich. Ich war ausschließlich damit beschäftigt, meine Flucht zu planen, sobald ich ahnte, wer und was ich bin, und abzuhauen, sobald die Pubertät ernst gemacht hat. Ich hatte durchaus darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn ich das Ritual vollziehen muss. Das danach irgendwas kommt … das Leben weitergeht …“ Hilflos warf er die Arme in die Luft.
„Alles gut. Ich werde dich nicht bedrängen. Du entscheidest. Wenn du auf Abstand bleiben willst, akzeptiere ich das. Wenn du ein bisschen näherkommen möchtest, bin ich da.“ Nox stand auf, um ihre Klamotten zu holen, denn allmählich wurde ihm kühl und Jamie war von Gänsehaut überzogen. Eigentlich war es nur gut, dass Jamie auf die Bremse getreten war, wurde ihm unterwegs klar. Er hatte sich fortreißen lassen, war der Stimmung gefolgt, die er größtenteils selbst erzeugt hatte. Ob er eine Beziehung wollte, wusste er schließlich auch nicht. Er mochte Jamie unglaublich gerne, bewunderte ihn für seine Kraft, für seine Fähigkeit, zu tun, was getan werden musste, und das ohne Kompromisse. Jamie trug die Kinder, an deren Zeugung Nox beteiligt war. Er mochte es, ihm nah zu sein, ihn zu berühren, ihn zu küssen. Über alles andere war er sich definitiv noch nicht klar – sein Leben war nichts wert, solange er ein Naquara war, er hatte sein Rudel verlassen, sollte jetzt eigentlich seine gesamte Kraft darauf fokussieren, diesen Winter zu überleben.
Ja. Er musste es langsamer angehen lassen. Trotzdem bereute er nichts von dem, was er in den letzten Minuten gesagt und getan hatte. Dafür war es viel zu gut gewesen.
Sie zogen sich an, aßen gemeinsam etwas, arbeiteten danach weiter, bis die Dunkelheit es unmöglich machte. Hand in Hand gingen die Vorbereitungen für das Essen. Ihre Gesprächsthemen waren belanglos, auf Vorräte und den Hüttenbau bezogen. Nox war froh und dankbar, dass keine Verlegenheit zwischen ihnen herrschte. Und als Jamie sich hinter ihn kniete, ihm die schmerzenden Schultern und den Rücken massierte und half, einige Holzsplitter aus den Fingern zu puhlen, fühlte sich die Nähe zwischen ihnen genau richtig an.
Irgendwo in der Nähe kreischte ein Tier. Womöglich ein Waschbär. Zwischen ihnen herrschte Ruhe. Das Gespräch hatte auf jeden Fall etwas bewegt – Nox sah mehr als einmal, wie Jamie zwischendurch innehielt und eine Hand auf seinen Bauch legte. Das allein genügte doch schon, nicht wahr? Zufrieden mit sich und der Welt wandelte sich Nox, als es Zeit zum Schlafen war. Gemeinsam kuschelten sie sich in Wolfsgestalt nebeneinander ins Zelt. Der heutige Tag war gut gewesen. So konnte es gerne bleiben.