Kapitel 10
Braxton und Wes hatten sich selbst übertroffen. Was die beiden Männer alles angeschleppt hatten, war kaum noch menschlich zu nennen. Werkzeug, Nägel, Schrauben, Konserven für ein halbes Heereslager, Gebrauchsgegenstände, Kleidung, zusätzliche Decken, Kerzen, Töpfe, Pfannen … Da blieben keine Wünsche offen und sie würden sich für mindestens fünf Monate bequem einrichten können.
Natürlich hatten sie nicht alles am Leib getragen, sondern einen einfachen Holzschlitten konstruiert, den sie abwechselnd durch die Wildnis gezogen hatten. Dadurch hatte sich ihre Rückkehr um einen Dreivierteltag verzögert, was Nox beinahe um den Verstand gebracht hätte vor Sorge. Doch nun waren sie wieder vereint und konnten mit Schwung weiterarbeiten, um die Hütte zu vollenden.
Zu viert kamen sie schnell genug voran, sodass Jamie sich um den Bau von Kleinmobiliar kümmern konnte, während die anderen drei die Baumstämme verarbeiteten. Im Sitzen konnte er ideal Stühle und einen Tisch schreinern und bei der Arbeit singen. Eine beruhigende Arbeit, die ihm richtig Freude brachte. Er saß in der matten Novembersonne, um noch einmal ihre Strahlen zu genießen. Die Nase verriet ihm deutlich, dass das Wetter morgen umschlagen würde, vermutlich auf nass-warm. Die Kälte sollte allerdings auch hier im Tal bald Einzug halten. Bis dahin wollten sie nach Möglichkeit ein Dach über dem Kopf haben, selbst wenn dann noch sehr viel im Inneren gebaut werden musste. Aktuell kauerten seine Gefährten an jener Wand, wo der Kamin hochgemauert sollte. Die Feuerstelle war von zentraler Bedeutung für ihr Haus, denn sie würde für die notwendige Wärme sorgen und dort wollten sie auch kochen. Einen separaten Herd planten sie nicht, dafür würden sie die Hütte wohl nicht lange genug bewohnen, als dass sich der Aufwand lohnen würde.
Jamie schmirgelte noch einmal mit dem Schleifpapier über eine unebene Stelle der Tischplatte. Dank Braxton und Wes konnte er das Holz mit einem schönen, dunklen Lasuranstrich versiegeln. Auch das Blockhaus selbst wollten sie damit behandeln, um das Verziehen des Holzes zumindest abzumildern.
Mit einem Mal stand er auf den Beinen und starrte konzentriert in die Richtung, aus der ihn eine alarmierende Witterung getroffen hatte.
„Bleibt im Haus!“, rief er, wandelte sich, noch bevor er den letzten Laut vollständig ausgesprochen hatte und rannte, was er konnte; betend, dass seine Gefährten auf ihn hörten.
Gefahr, Gefahr, Gefahr!
Er flog über die Hügel, durch das vergilbte, feuchte Gras und landete mit Schwung vor seinem Bruder. Gerrit! Jamie starrte um sich, suchte mit allen Sinnen nach dem Rest des Rudels, bevor er sich verwandelte und diesen Fremden anstarrte, durch dessen Adern dasselbe Blut floss wie in seinen eigenen.
„Beruhig dich“, sagte Gerrit leise und kniete sich am Boden nieder, die Hände in einer Geste der Unterwerfung erhoben. Das Gewehr trug er gesichert auf dem Rücken. Er war nicht hier, um jemanden zu erschießen, wie es schien.
„Bist du allein?“, schrie Jamie unbeherrscht, überfordert von dieser Situation. Sie hatten sich in Sicherheit gewogen, waren überzeugt gewesen, dass niemand sie hier in diesem kleinen Paradies aufstöbern würde. Nicht jetzt, nicht so spät im Jahr, unmittelbar vor dem Wintereinbruch. Welch ein dummer, dummer Fehler!
„Beruhig dich“, wiederholte Gerrit und blickte an Jamie vorbei. Dorthin, wo sich die anderen misstrauisch annäherten. „Ich bin allein“, rief er dann laut. „Zwar bewaffnet, aber ungefährlich. Ich komme, um zu reden!“
„Okay“, sagte Nox, trat dicht heran und entwaffnete ihn mit ruhiger Geste. „Dann komm. Mangelnde Gastfreundschaft war nie einer meiner Fehler. Du siehst aus, als hättest du ein hartes Stück Weg hinter dir.“
Das entsprach tatsächlich der Wahrheit und war Jamies Aufmerksamkeit bislang entgangen. Gerrits Kleidung war größtenteils zerrissen, dreckig und stellenweise blutig, sein Gesicht wirkte ausgezehrt, das dunkelbraune, schulterlange Haar war wüst, fettig und verfilzt, und als er Nox folgte, humpelte er bei jedem Schritt. Beklommen nahm Jamie sich zusammen. Er würde gleich hören, was geschehen war.
Braxton und Nox blieben in dominanter Geste stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, während Jamie und Gerrit sich an dem gerade frisch geschreinerten Tisch niederließen und Wes für Wasser und Nahrung sorgte. Gerrit bedankte sich mit unterwürfiger Gestik und trank mit allen Anzeichen von Erleichterung. Hatte er sich in den vergangenen Tagen nicht einmal um Wasser bemühen können?
„Ich bin allein“, wiederholte er erschöpft. „Die anderen werden nicht kommen, das schwöre ich. Mein Vater hat die Jagd für beendet erklärt. Ausschließlich, weil er dein Leben nicht gefährden will, Jamie. Dein Auftauchen, nachdem wir dich so sicher für tot geglaubt hatten, war ein immenser Schock.“
„Wenn die Jagd beendet ist, was machst du dann hier?“, fragte Nox und füllte ihm eigenhändig den Holzbecher noch einmal aus dem Krug.
„Mein Vater bat mich, nachzusehen, ob ihr den Sturm überlebt habt. Der war schon ziemlich heftig und ihr hattet ja nur dieses kleine Zelt. Ihm geht es darum, dass Jamie durchkommt. Vom Naquara-Ritual hält er persönlich eigentlich gar nichts. Es wäre okay für ihn gewesen, euch drei umzubringen, damit endlich Frieden herrscht. Dass er eine Ausrede hatte, euch laufen zu lassen … Ja, das gefällt ihm. Ist nicht gerade einfach, das schön zu reden, wie ihr euch vermutlich vorstellen könnt. Das Rudel hat es trotzdem akzeptiert. Auch die Hitzköpfe. Ein schwangerer Omega ist immer ein Argument. Das Leben muss beschützt werden.“
Er stürzte auch den zweiten Becher Wasser hinunter und griff dann mit einem glücklichen Seufzen nach der Schale mit dem Eintopf, der noch von gestern übrig war.
„Ich hatte keine Probleme, die Höhle zu finden, wo ihr untergekommen wart. Von da aus bin ich eurer Fährte bis zum Pass gefolgt, was schon deutlich schwieriger war, denn sie war nahezu vom Wetter zerstört. Oben auf dem Pass brach der nächste Schneesturm los, was mich dazu zwang, diesen Weg ebenfalls zu gehen. Dabei wäre ich fast draufgegangen, weil ich am Ausgang steckengeblieben bin. Hab stundenlang gekämpft und musste dann zwei Tage Schneesturm aussitzen. Hier unten im Tal war das Wetter schön, oder?“
„Warm und sonnig, ja“, entgegnete Braxton fröhlich.
„Na fein … Ich hatte keine adäquate Ausrüstung dabei und bin da oben fast erfroren. Eigentlich sollte ich ja bloß ein paar Meilen laufen und nachsehen, ob ihr noch lebt.“
„Trotzdem hättest du Ausrüstung mitnehmen müssen“, brummte Jamie. „Deine Leiche wäre erst im Frühjahr entdeckt worden, wenn es dich da oben erwischt hätte!“
„Ich weiß, das ist mir inzwischen auch klar geworden. Gott, bin ich froh, euch gefunden zu haben.“ Er beendete seine hastig heruntergeschlungene Mahlzeit, sprang auf und umarmte Jamie mit überraschender Vehemenz. „Bruder, ich kann es immer noch nicht richtig glauben, dass du noch lebst, okay?“, murmelte er. „Bitte sag mir, dass es dir gut geht!“
„Deutlich besser als dir.“ Jamie lächelte widerwillig. Er hatte vergessen, wie überschwänglich Gerrit sein konnte. So war er auch früher schon gewesen und obwohl er zehn Jahre älter als Jamie war, hatte sich daran offenkundig nichts verändert. „Wir richten uns gerade für unser Winterquartier ein. Hier wollen wir bleiben, bis der Schnee taut.“ Er wies auf die Blockhütte und genoss stolz das anerkennende Nicken seines großen Bruders.
„Solide Arbeit, soweit ich das sehen kann. Jamie …“ Gerrit umfasste seine Hände. „Jamie, gibt es wirklich keine Hoffnung, dass du zurück nach Hause kommst? Wenn deine Kinder da sind? Du kannst sie nicht in der Wildnis großziehen wollen, ohne ein großes Rudel im Rücken.“
„Ich habe noch keine Pläne für die ferne Zukunft, sagte Jamie langsam. Im Augenblick kann ich kategorisch ausschließen, jemals wieder bei euch leben zu wollen, aus den Gründen, die ich bereits genannt habe. Wenn diese stumpfsinnige Blutfehde tatsächlich vollständig beendet ist, könnte ich mir vorstellen, Nox, Braxton und Wes zu ihrem Rudel zu folgen und meine Töchter dort großzuziehen.“
Gerrit musterte die Männer der Reihe nach, rieb sich dann müde über das Gesicht und nickte seufzend.
„Nicht ganz das, was ich mir erhoffen würde. Aber ja, lieber würde ich dich und deine Kinder bei diesem Rudel wissen, in Sicherheit, umgeben von Menschen, die es gut mit dir meinen, als befürchten zu müssen, dass du draußen im Niemandsland zugrunde gehst.“ Er ließ Jamie nicht los, betrachtete ihn lediglich intensiv. „Ich wusste nicht, dass du Clives Ritual mit ansehen musstest“, murmelte er. „Wir haben ja nie darüber gesprochen. Es wurde totgeschwiegen, weil es ein absolut schreckliches Unglück war.“
„Unglück?“ Heftig riss Jamie sich los und sprang auf. „Es war kein Unglück! Es war eine grässliche Gruppenvergewaltigung!“
„Jamie …“ Gerrit erwiderte seinen Blick, schüttelte dabei den Kopf. „An was erinnerst du dich genau?“, fragte er.
„An Clives Schreie. An das Blut. Vor allem aber die Schreie. Ich weiß nicht mehr, wer der Erste war. Derjenige muss die Stimmung entsprechend gekippt und die anderen mitgerissen haben.“
„Du warst ein kleines Kind. Und du suchst den Schurken in dieser Geschichte, nicht wahr? Was, wenn ich dir sage, dass es keinen Schurken gibt? Dass unser Dad der Erste war?“
„Das ist unmöglich.“ Zu aufgewühlt, um noch länger stehen zu können, sank Jamie auf den Stuhl zurück.
„Aber so war es. Bei Clive hat die Erregung einfach nicht gegriffen, die normalerweise zum Ritual dazugehört und es für den Omega zu einer großartigen Erfahrung macht. Warum das geschehen ist, weiß niemand. Er geriet in Panik und hat sich gesperrt. Keine Ahnung, wie gut du dich mit Analsex auskennst – wenn man sich nicht öffnet, wird man verletzt und es tut brutal weh. Es gab leider kein Zurück mehr an diesem Punkt. Hätte Dad versucht, es abzubrechen, wäre es noch viel, viel schlimmer geworden. Wir waren gezwungen, es durchzuziehen, bei jeder Verzögerung wären wir irgendwann dann wirklich wie die wilden Tiere über Clive hergefallen. Es ist das Elend, das Unaussprechliche, das ein Omega-Ritual alle Beteiligten auf die Triebe reduziert. Es kann funktionieren, es kann wunderschön und gemeinschaftlich und erhebend sein, eine heilige und … ach, dir fallen bestimmt noch mehr tolle Worte ein, um das zu beschreiben. Es scheint, als wäre dir das vergönnt gewesen und ich bin unglaublich froh darüber. Bei Clive ist es schiefgegangen und es war Dad zu verdanken, der sich selbst so sehr zurückgenommen und jeden weiteren Anwärter zum äußersten Rückhalt gedungen hat. Darum hat Clive überlebt und war insgesamt körperlich nicht zu schwer verletzt. Danach haben wir versucht, ihm zu helfen, ihm beizustehen. Er hat jeden von uns zurückgestoßen, wollte mit niemandem reden, auch nicht mit den Frauen. Es war nicht seine Schuld. Es war allerdings auch kein Mord, wie du es wahrgenommen hast.“
Jamie starrte ihn an, intensiv, nahm die Witterung von ihm auf, die ihm sagte, jedes Wort entsprach der Wahrheit. Glauben konnte er es dennoch nicht, denn es zerstörte das Bild der Welt, wie er es sich gebaut hatte. Die Basis dessen, auf der jede einzelne Entscheidung seines Lebens beruht hatte. Das war nicht hinzunehmen, nicht zu begreifen. Es war zu viel!
Er sprang auf, rannte einige Schritte. Fuhr herum. Vergaß, was er sagen wollte. Verwandelte sich schließlich und begann zu rennen, und zu rennen, und zu rennen …
~*~
„Lasst ihn!“, sagte Gerrit, als Nox, Braxton und Wes sich im Reflex ebenfalls verwandeln und Jamie nachsprinten wollten. „Lasst ihn. Das war schon immer seine Art, sich erst einmal zurückzuziehen und für sich allein sein zu müssen, wenn der Druck zu groß wird. Er wird bald zurückkommen und sich der Sache stellen. Das ist bei ihm garantiert. Er ist nur ein einziges Mal nicht zurückgekehrt – und da dachten wir, er wäre tot.“
Nox sah die Zuneigung, die Traurigkeit, mit der Gerrit seinem Bruder nachblickte. Was für ein Gefühl musste das sein, zu wissen, dass da ein Abgrund war, der unüberwindlich war?
„Er wird mir nicht glauben“, flüsterte Gerrit. „Wie soll er auch? Er hat diese Erinnerungen. Er hat das, woran er sein Leben lang geglaubt hat. Nicht daran festzuhalten, würde ihn umbringen.“
„Das denke ich nicht“, sagte Wes. „Wir kennen ihn natürlich noch nicht sehr lange, aber in dieser Zeit hat er uns mit enormer Willenskraft beeindruckt. Vielleicht wird er nie in der Lage sein, euch zu vertrauen, sich in euren Familienbund hineinfallen zu lassen. Aber möglicherweise kann er von der Überzeugung abrücken, dass ihr grausame, brutale Mörder und Vergewaltiger seid?“
„Warten wir es ab“, murmelte Gerrit. „Enorme Willenskraft, ja, das ist Jamie. Er war ein unglaublich unabhängiger, starker Junge. Zurückgezogen, von früher Kindheit ist nie jemand außer unserer Mom an ihn herangekommen, und auch sie hatte keine großen Chancen. Er hatte keine festen Freunde, keine Verbündeten in unserer Familie. Da er überhaupt nicht aufsässig war, sich ausschließlich brav an sämtliche Regeln hielt, nie den Aufstand probte oder Widerworte gab, war das gar kein Problem. Jeder mochte ihn. Er war hilfsbereit, liebenswert … Und ließ sich nicht verbiegen. Man konnte ihn nicht mobben oder ihm etwas aufzuzwingen, was er wirklich nicht wollte. Darum hat man es auch praktisch nie versucht. Sobald sich bei ihm Widerstand regte, wusste man, der Kampf war schon vorbei, alles klar. Jamie will nicht und er wird seine Meinung nicht eher ändern, als dass die Sonne ausnahmsweise mal im Norden aufgeht. Es ging dabei nicht um die wichtigen Dinge, da war er, wie gesagt, unglaublich brav. Das ist Jamie … Er wird uns nicht vergeben. Der Kampf ist sinnlos.“
„Aber hier geht es um die wichtigen Dinge“, widersprach Nox. „Das ist keine Frage, ob er seinen Spinat aufessen soll, sondern ob er euch für Mörder hält.“
„Wir konnten Clive nicht retten.“
„Nein. Jamie ist keine sechs mehr und er hat das Ritual selbst durchgemacht. Er weiß, dass ihr es nicht hättet abbrechen können, als die Probleme auftraten. Er weiß es. Genauso wie er weiß, dass du ihn nicht angelogen hast. Du warst dabei, ja?“
„Ja. Es war mein erstes Ritual und ich habe bis heute furchtbare Albträume davon. Das hat jeder von uns. Es war wirklich schlimm und ja, wir fühlen uns durchaus wie Mörder und Vergewaltiger. Damit müssen wir zurechtkommen, jeden Tag aufs Neue.“ Gerrit seufzte erschöpft und blickte zum Bach hinüber, von wo sich Jamie in Menschengestalt langsam wieder annäherte. „Er hatte ein schönes Ritual, ja?“
„Es war unbeschreiblich und absolut unsagbar schön“, entgegnete Nox leise.
„Das ist gut … Und ihr werdet auf meinen Bruder aufpassen, ja?“
„Das schwöre ich bei meinem Leben.“ Nox nickte ihm ernst zu. Dann wandte sie sich in Jamies Richtung, der mit gesenktem Kopf auf Gerrit zutrat.
„Wie willst du zurück nach Hause kommen?“, fragte er ihn, als hätte alles vorher gar nicht stattgefunden.
„Verdammt brillante Frage. Ich komme vielleicht über den Pass, aber auf der anderen Seite habe ich keine Chance. Wenn ihr mir ein paar Vorräte mitgeben könntet, würde das natürlich helfen, und …“
„Unfug“, grollte Nox. „Es gibt zwei Möglichkeiten für dich. Zum einen kannst du bei uns bleiben. Das wäre enger als geplant und vielleicht auch nicht das, was du dir wünschst, aber eine Passüberquerung wäre Selbstmord. Da wäre es gnädiger, dir hinterrücks das Genick zu brechen, dann hättest du es hinter dir, ohne lange leiden zu müssen. Möglichkeit zwei: Etwa vierzig Meilen von hier gibt es eine menschliche Kleinstadt. Die ist bei der hiesigen Witterung in Wolfsgestalt ohne Schwierigkeiten innerhalb eines Tages zu erreichen, das Gelände wird dir da auch keinen Kummer machen. Von dort aus kannst du Kontakt mit deinem Rudel aufnehmen und sie wissen lassen, dass du noch lebst. Es sollte eine Eisenbahnverbindung geben, einen Tunnel, der dich auf die andere Seite der Berge bringt. Klar, dafür brauchst du Geld, was wir dir nicht geben können. Aber dein Dad wird sich etwas einfallen lassen, sobald er weiß, wie er dir helfen kann, nicht wahr?“
Gerrit nickte zutiefst erleichtert.
„Es ist bizarr, dass ihr mir so sehr helft“ murmelte er. „Eigentlich ist es schon bizarr, überhaupt mit euch zu reden.“
„Du hast unsere Mom nicht ermordet“, entgegnete Wes. „Dass du im falschen Rudel geboren wurdest, können wir dir nicht vorwerfen und wir begehen das Naquara-Ritual ja schließlich, um die Fehde zwischen unseren Leuten zu beenden. Im Moment bist du Jamies Bruder und ein Mensch, der Hilfe braucht.“
„Und wir sind diejenigen, die dir helfen können. Daran ist nichts bizarr“, mischte sich Braxton ein. „Wärst du einer der Mörder, wärst du jetzt schon tot. Glaub mal, dass wir Wes nicht hätten aufhalten können. Dafür ist es noch zu frisch …“
„Es tut mir leid“, flüsterte Gerrit ehrlich betroffen. „Was da geschehen ist, das war …“
„Hör auf, Mann.“ Wes legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mir tut es für deine eigene Mom leid, okay? Am Ende sind wir alle Verlierer.“
„Du musst noch eine Entscheidung treffen“, sagte Nox. „Bleibst du hier oder nicht?“
„Für heute Nacht möchte ich gerne bleiben, wenn es euch recht wäre. Ich bin völlig fertig und muss schlafen. Morgen früh weist ihr mir den Weg und ich laufe zu dieser kleinen Stadt.“
„Sie ist einfach zu finden, du folgst unserer Fährte. Wes und ich sind gerade erst dorthin gelaufen. Es geht die meiste Zeit bergab, der Wald ist licht und hat kaum Unterholz und ein bisschen Essen können wir dir auch mitgeben. Und Klamotten, die dir nicht vom Leib fallen. Ach ja – einen Vierteldollar zum Telefonieren, den haben wir auch noch.“
„Mehr als ich verdiene“, murmelte Gerrit.
„Wie Nox schon sagt – du bist ein Mensch und hast verdient, wie ein solcher behandelt zu werden“, sagte Jamie. Seine Witterung verriet aufgewühlte Emotionen, bei denen Trauer, Angst und Verwirrung eine große Rolle spielten. Nach außen hin zeigte er nichts davon, er hielt sich ruhig. „Wenn du schon wie ein totaler Trottel ohne Ausrüstung in den Schnee reinrennst, muss dich irgendjemand retten. Wäre sonst schon irgendwie schade um dich.“
„Hey! Pass auf, wen du hier einen Trottel nennst!“ Gerrit versetzte ihm einen gespielt empörten Fausthieb gegen die Schulter – nicht allzu fest – was ziemlich rasch in geschwisterlicher Rangelei ausartete. Es änderte nichts an der Traurigkeit, an der Distanz, die zwischen den Brüdern herrschte, doch es lockerte zumindest die trübsinnige Stimmung etwas auf.
Sie ließen Gerrit für zwei Stunden schlafen, arbeiteten in dieser Zeit kräftig weiter. Danach meldete er sich freiwillig für den Kochdienst, sodass sie noch einiges an der Hütte schaffen konnten. Jamie vollendete den Rahmen für das erste Bett und kümmerte sich um das Gras, das er geschnitten und zum Trocknen aufgehangen hatte. Damit wollten sie Matratzen ausstopfen, damit sie bequem nächtigen konnten. Die Bündel mussten dafür vollkommen trocken und ungezieferfrei sein, und möglichst luftdicht eingepackt werden, um Schimmelbildung und Käferbefall zu verhindern. Um Platz zu sparen, würde er bloß zwei Betten bauen. Eines teilten sich dann Wes und Braxton, das andere Nox mit Jamie. Es gab noch viel zu tun …
~*~
Der Abschied von Gerrit war überraschend schmerzlich. Jamie hatte das Gefühl, noch über tausend Dinge mit ihm reden zu müssen und jegliche Chance dazu sinnlos versäumt zu haben. Er wollte so vieles wissen, Dinge, die das Rudel und die einzelnen Mitglieder betraf. Wer hatte geheiratet, wer hatte Kinder gezeugt? Wer war gestorben? Was hatte sich verändert, was war gleich geblieben? Viele Jahre lang hatte sich Jamie für diese Dinge nicht interessiert, und jetzt fühlte es sich an, als würde ein Teil seiner Seele sterben, wenn er es nicht erfahren durfte.
„Es bedeutet mir viel, dass du Kummer hast“, sagte Gerrit leise und umarmte ihn. „Es zeigt, dass ich dir nicht egal bin. Mit allem anderen kann ich irgendwie leben. Gleichgültigkeit würde mich umbringen.“
„Du bist mein Bruder. Du kannst mir niemals gleichgültig sein“, erwiderte Jamie tränenerstickt. „Ich wünschte, ich könnte … Ich … ich wollte …“
„Du hast einen ganzen Winter Zeit“, sagte Gerrit, hielt ihn fest an sich gedrückt, hüllte ihn mit Wärme und brüderlicher Nähe ein. „Die Tür wird sich nicht schließen. Nicht für dich. Wenn du nach Hause kommen willst, werden wir dich mit offenen Armen empfangen. Und wenn es nur ein kurzer Besuch sein soll, dann ist das immer noch mehr als nichts.“
Ohne Jamie loszulassen wandte er sich Nox zu. „Ich werde meinem Rudel nicht sagen, wo ihr zu finden seid. Der Schnee wird bald in die Niederungen kommen, da habt ihr nicht zu befürchten, dass irgendwelche Hitzköpfe meinen, sie müssten losziehen und euch umbringen, obwohl die Jagd für beendet erklärt wurde. Bis April werdet ihr sicher sein. Für das Danach kann ich keine absolute Garantie aussprechen. Darum rate ich euch auch nicht, mit mir mitzukommen und jetzt schon zu eurem Rudel zurückzukehren. Sitzt das Naquara-Jahr besser aus. Wie gesagt, ich werde euch nicht verraten.“
„Mehr kann niemand verlangen. Pass gut auf dich auf, Gerrit. Komm heil nach Hause. Dein Dad will nicht noch ein Familienmitglied verlieren und sicherlich zerfrisst er sich bereits vor Sorge und Reue, weil er dich losgeschickt hat.“
„Seine Sorgen werden bald zur Ruhe kommen. Für euch alles Gute. Besonders für dich, Jamie. Du hast große Verantwortung zu tragen.“
Er ließ ihn los, gab Jamie noch einen Kuss auf die Schläfe, bevor er sich verwandelte und im zügigen Wolfstempo lostrabte.
„Du wirst ihn wiedersehen“, sagte Nox, der hinter ihn getreten war und den Arm um ihn legte.
„Wir müssen ein Haus bauen.“ Jamie entzog sich der tröstenden Geste und wies auf die Hütte. „Wir müssen uns sehr beeilen.“
Einen letzten Blick warf er in die Richtung, in der Gerrit entschwunden war. Die Vergangenheit loszulassen war unmöglich. Leichter könnte er sich die rechte Hand abschlagen. Trotzdem fühlte es sich so an, als hätte die Vergangenheit nun etwas an Macht verloren. Als wäre die Gegenwart stärker, bedeutsamer geworden, weniger überschattet. War es so? Er wusste es nicht mit Sicherheit. Doch das Gefühl, das mochte er gerne.