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Noch immer kein Zeichen von Harun, keine Nachricht. Sein Spind sei abgeschlossen, erklärt Rafiq mir unwirsch. Auf dem Bett liege das T-Shirt, in dem Harun geschlafen hat, aber das Bett sei unbenutzt, die zweite Nacht schon.

Ich habe ein schlechtes Gefühl. Obwohl Harun mir nicht verpflichtet ist, wäre er nicht ohne ein Wort gegangen. Wohin auch? Im Gegensatz zu vielen, die mit uns unterwegs waren, kennen wir niemanden in diesem Land, viertausend Kilometer von zu Hause entfernt. Einen großen Teil des Wegs haben wir zu Fuß zurückgelegt, obwohl mir mein verkrüppeltes Bein mehr als einmal den Dienst versagte. Dann half mir Harun. Reichte mir die Hand, weil keine Frau da war, die mich hätte stützen können. Im Gegenzug tröstete ich ihn nachts, wenn er Albträume hatte. Ich bin ihm zu Dank verpflichtet und fühle mich verantwortlich für den jungen Mann, der mein Leben rettete, als ich selbst am wenigsten daran hing.

Nun stehe ich hier und beginne zu begreifen, dass ich wieder einmal alles verloren habe. Ich habe niemanden auf der Welt, niemanden in dieser sauberen Stadt, deren Namen ich nicht aussprechen kann. Ich fühle mich niemandem verbunden, keinem einzigen der vierhundertsiebenunddreißig Menschen, die in bedrückender Enge in den Containern wohnen, jeweils acht in einem Zimmer, das für vier gedacht war. Wir seien so viele, heißt es, aber dieses ›wir‹ existiert nicht. Wir sind keine Gemeinschaft. Ich jedenfalls bin allein.

Rafiq steht immer noch vor mir, aber als meine Hand zitternd nach einem Halt sucht, tritt er einen Schritt zurück. Er berührt keine Frau, ein Wunder, dass er überhaupt mit mir spricht. Das tut er vermutlich nur, weil er mich braucht, wie alle hier. Ich bin die Einzige, die Deutsch spricht. Das irritiert meine Landsleute ebenso wie mich selbst, und ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass jeder meinen Namen kennt und ständig jemand nach mir ruft.

Gebraucht zu werden ist nicht dasselbe wie geschätzt zu werden. Besonders die Männer sind häufig unwirsch, wenn sie auf mich warten müssen oder wenn ihnen die Antworten, die ich für sie übersetze, nicht gefallen. Dann schenken sie meinen Worten keinen Glauben. In ihren Augen spricht immerhin für mich, dass ich meinen Platz in der Gesellschaft kenne und mich nicht anmaßend benehme, wie die gebildeten Städterinnen es tun. Natürlich halte ich den Blick gesenkt, wenn ich mit einem Mann spreche. Da können die modernen Frauen noch so abfällig den Kopf schütteln, können mich noch so oft ›Bauerntrampel‹ nennen. Und trotzdem bin ich diejenige, die der Sprache dieses Landes mächtig ist. Nicht, weil ich sie studiert hätte, sondern weil ich die ersten Jahre meines Lebens im Haushalt einer deutschen Frau verbracht, ihr beim Reden zugehört und hinter Wänden oder Vorhängen versteckt gelauscht habe, wenn sie ihren Kindern deutsche Märchen vorlas.

Endlich finde ich den Handlauf der Treppe, die ich mühsam erklommen habe, und klammere mich daran fest, bevor ich langsam und entmutigt wieder hinabsteige. Hier unten, wo die Frauen und Familien wohnen, hören wir die Schritte der Bewohner über uns, wenn auch sie nicht schlafen, weil sie vor lauter Nichtstun einfach nicht müde werden, weil einige schnarchen und andere schreckliche Bilder sehen, sobald sie die Augen schließen. Bei uns ist es ähnlich, nur dass noch das Weinen der Kinder hinzukommt oder ein leise gesungenes Schlaflied. Wir alle haben dunkle Ringe unter den Augen, sind von den Strapazen der Flucht ausgezehrt und gehen uns gegenseitig auf die Nerven. Etwas besser dran sind nur die, die jemanden haben, der ihnen Halt gibt. In meinem Fall war das Harun.

 

Die Lautstärke um mich herum dringt mir unter die Haut, wo sie sich ausbreitet und ein halb stechendes, halb juckendes Gefühl verursacht wie die haarfeinen Dornen der Disteln, die man auch mit einer Pinzette nicht entfernen kann. Trotz des Regens, der seit Tagen ohne Unterlass vom grauen Himmel fällt, verlasse ich deshalb die Unterkunft. Gleich hinter den Containern beginnen die Felder, die meisten braun, andere mit dem zarten Grün des Wintergetreides überhaucht. Einige Feldwege sind asphaltiert und in besserem Zustand als jede Straße des Dorfes, in dem ich die letzten zwanzig Jahre verbracht habe, andere ausgewaschen und schlammig, was mich vor große Probleme stellt. Wenigstens habe ich hier einen richtigen Gehstock bekommen, mit einem sanft geschwungenen, polierten Griff, den meine linke Hand fest umklammert. Ich nehme die Mühsal und die Schmerzen des Gehens in Kauf, denn dies ist die einzige Möglichkeit, der stickigen Luft, den kreischenden Kinderstimmen, der unablässig dudelnden Musik, dem Gebimmel der hundert verschiedenen Handys und den Forderungen meiner Mitbewohner zu entgehen.

Langsam umrunde ich den Ortsteil, an dessen äußerstem Rand man uns untergebracht hat. Es sieht aus wie das Ende der bewohnten Welt, denn hinter den letzten Häusern kommen nur noch Felder und einzelne Baumreihen, die schnurgerade einen Weg oder einen Bachlauf säumen. Ich komme vom entgegengesetzten Ende der Welt, wo alles Grün in Sand und Steine übergeht, daher ist mir die Einsamkeit vertraut. Die meisten anderen Bewohner der Unterkunft aber werden in der Ruhe der Natur nervös.

Die Häuser und Straßen der kleinen Siedlung sind so sauber, dass ich anfangs glaubte, ein Staatsbesuch stehe unmittelbar bevor. Ich gehe aber nicht durch die Straßen, sondern an einem Bach entlang, eher ist es wohl ein Kanal, denn das Wasser strömt in einem schnurgeraden Bett eilig vorbei. Menschen, die Hunde an der Leine führen, kommen mir entgegen. In den zwölf Tagen, die ich nun hier bin, habe ich mich an diesen seltsamen Anblick immer noch nicht gewöhnt.

Nachdem meine Hoffnung auf Haruns Rückkehr erneut enttäuscht wurde, fühle ich mich seltsam entrückt. Ich nehme meine Umwelt und die Unterkunft, in die ich viel zu schnell zurückkehre, nur verschwommen wahr, wie durch den Nebel, der manchmal nach einem nächtlichen Regenschauer frühmorgens auf meinen Feldern lag. Dieser Nebel ebenso wie die Empfindung, als wäre der Kopf voller Wolle, entstehen, wenn mein Verstand sich weigert, eine Tatsache zu akzeptieren. So fühlte ich mich, als man mich mit zwölf aus dem Haus jagte. Dann, als ich vor dem fremden Mann stand, der mein Vater war. Auch als ich in sein Haus zog und die Verachtung meiner Stiefmutter und ihrer Kinder zu spüren bekam, sah ich die Welt wochenlang nur schemenhaft, farblos und ohne feste Konturen. Und zuletzt …

Auch zuletzt hielt die Wolle im Kopf die Gedanken und Bilder fern, der Nebel den Schmerz. Ich war wie abgeschnitten von der Welt, gelähmt, willenlos. Ich wäre gestorben, von den Vorbeiziehenden unbeachtet, hätte nicht ein mir vollkommen unbekannter Mensch die Hand nach mir ausgestreckt, mich auf die Füße gezogen und mich einfach mitgenommen. Harun. Ein fremder Mann, der mich niemals hätte berühren dürfen. Hätte ich liegen bleiben sollen, weil meine Religion mir verbot, die einzige Hand zu ergreifen, die mir zu helfen bereit war? Hätte ich erfrieren, verhungern oder verdursten sollen, weil gerade keine Frau zur Stelle war, die mich hätte stützen können?

Ich weiß, dass meine Stiefmutter beide Fragen mit Ja beantwortet hätte. Auch meine Halbschwestern, ja, die ganze Familie, die Nachbarn, sie alle wären sich einig gewesen. Aber nicht mein Vater. Mein Vater hätte mir zugenickt, hätte er mich auf dem Boden liegen und auf die Hand starren sehen, die Harun mir reichte. Mein Vater selbst hätte einer fremden Frau in einer solchen Lage die Hand gereicht. Mein Vater … Der Nebel um mich herum wird wieder dichter.

In diesem Gefühl verbringe ich die nächsten zwei Tage, in deren Verlauf ich hundertmal den Weg entlangschaue, auf dem immer wieder Menschen zur Unterkunft kommen. Neuankömmlinge, Helfer, Handwerker. Harun ist nicht da-runter.

Auch am fünften Morgen nach seinem Verschwinden ist Harun nicht zurück, wie ich Rafiqs Kopfschütteln entnehme. Aufmerksam, aber ohne Interesse dolmetsche ich einige Gespräche, bevor Rafiq mich durch einen kleinen Jungen zu sich rufen lässt. Auf Arabisch redet er auf den Hausmeister ein, aber der Mann, der vor fünfundzwanzig Jahren selbst als Flüchtling vom Balkan hier ankam, versteht ihn nicht. Ich trete näher und höre, dass Haruns Bett für einen Neuankömmling gebraucht wird. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen, Rafiqs Stimme geht in dem zunehmenden Brausen unter. Mein Blick verengt sich, als würde ich durch eine Röhre schauen, die sich wie von selbst auf die Hände des Hausmeisters richtet, in denen er einen großen Schlüsselbund hält. Seine Finger spielen mit den einzelnen Schlüsseln, ob nervös oder ungeduldig, kann ich nicht erkennen. An seiner linken Hand fehlen zwei Finger. Die Haut ist rau, die Fingernägel sind schmutzig, eine Schramme zieht sich über den rechten Daumen. Dann löst sich die Röhre auf, das Brausen flaut ab, ich höre und sehe wieder ganz normal.

»Was wird aus Haruns Sachen?«, frage ich Rafiq leise auf Arabisch.

Er bricht mitten in einem Satz ab, den der Hausmeister sowieso nicht versteht, und schweigt, eher verärgert als irritiert.

»Übersetzen sollst du, also tu, was man dir sagt, und misch dich nicht ein«, knurrt er mich dann an.

Der Hausmeister schaut verständnislos zwischen uns hin und her.

Die Situation trifft mich völlig unvorbereitet. Tatsächlich war ich bisher nicht auf die Idee gekommen, dass Haruns Verschwinden auch für andere Menschen von Belang ist. Niemand hat nach ihm gefragt, niemand ihn vermisst. Doch plötzlich muss ich feststellen, dass sein Weggang eine Bedeutung hat, wenn auch eine rein praktische: Sein Bett ist leer, und Rafiq erwartet einen Verwandten, den er gern dort unterbringen möchte. Hätte ich dieses Gespräch nicht dolmetschen müssen, hätte ich nicht erfahren, dass Haruns Platz in diesem Land bereits neu vergeben ist.

Die Männer starren mich immer noch an. Ich spüre meinen Herzschlag in der Kehle und muss trocken schlucken. Was soll ich jetzt tun? Wenn ich den Dingen ihren Lauf lasse und Harun zurückkehrt, hat er kein Bett mehr. Wer weiß, was mit seinem Besitz geschieht. Wenn ich mich jedoch einmische, übernehme ich die Verantwortung für sein Eigentum und damit auch für ihn. Andererseits habe ich diese Verantwortung bereits, denn Harun gab mir den Zweitschlüssel zu seinem Spind. Will ich diese Bürde tragen? Habe ich eine Wahl? Könnte ich Harun überhaupt noch unter die Augen treten, wenn er zurückkommt und ich ihm erklären muss, dass ich nichts unternommen habe, um seine Rechte zu verteidigen? Alle diese Überlegungen kosten Zeit, die Rafiq und dem Hausmeister offensichtlich zu lang wird.

»Übersetz endlich!«, sagt Rafiq laut.

Ich wende mich an den Hausmeister. »Ich habe einen Schlüssel zu Haruns Spind.«

Der Hausmeister schaut mich an, als sähe er mich zum ersten Mal. Vermutlich trifft das sogar zu. Bisher war ich nur ein Lautsprecher in Abaya und Hidjab, aus dem die Worte anderer Menschen tröpfeln. Plötzlich bin ich eine Person.

»Dann räum seinen Spind aus und nimm die Sachen in Verwahrung.«

Dem Mann ist es anscheinend egal, was mit den Habseligkeiten des Verschwundenen passiert. Ich nicke und übersetze die Entscheidung des Hausmeisters.

»Ich werde dabei sein, wenn du den Schrank öffnest«, erklärt Rafiq.

Ich neige den Kopf und konzentriere mich darauf, den Rest des Gesprächs zu übersetzen, das sich um die üblichen Themen dreht: den Wunsch nach abschließbaren Zimmertüren, die Überbelegung der Unterkunft oder das immer nur lauwarme Wasser in der Dusche.

Als ich endlich entlassen bin, gehe ich in mein Zimmer und sinke zitternd auf mein Bett. Ich kenne mich selbst nicht wieder, bin sowohl stolz auf meine spontane Einmischung als auch erschrocken über diese Anmaßung. Woher nahm ich den Mut, statt zu übersetzen für mich selbst zu sprechen? Genau genommen sprach ich für Harun, korrigiere ich mich, vermutlich war das auch der Grund für meine Kühnheit. Ich fühle mich ihm verpflichtet, wäre ohne ihn nicht hier. Er war, neben meinem Vater, der erste Mann, der mir Respekt entgegenbrachte, der mich wie einen Menschen behandelte, mir half.

Der Gedanke an meinen Vater schmerzt so stark, dass ich die Arme auf den Bauch presse und mich zusammenkrümme. Mit aller Macht schiebe ich sein Gesicht beiseite, starre mit weit aufgerissenen Augen auf das gegenüberliegende Bett, um mich an diesem Blick zurück in die Wirklichkeit zu ziehen, in das Hier und Jetzt, in dieses kleine, muffige Zimmer, in dem ich nun mit vielen anderen lebe.

Ich hätte meine Heimat nicht freiwillig verlassen, hätte mich niemals allein auf den Weg gemacht. Immer haben andere für mich entschieden. Dass ich hier bin, verdanke ich Harun ebenso sehr wie meinem Vater. Harun nahm mich dort, wo die Anweisungen und Vorkehrungen meines Vaters endeten, unter seine Fittiche. Er verhandelte mit den Schleppern, sah zu, dass ich nicht zurückblieb. Mein Vater schickte mich fort, Harun sorgte dafür, dass ich ankam. Auch hier bestimmen andere über mich und meine Zeit, und ich folge dem Ruf, sobald jemand nach der Dolmetscherin verlangt.

Neben dem Schrecken über meine unerwartete Courage durchströmt mich die plötzliche Gewissheit, dass ich richtig gehandelt habe. Immerhin bin ich nach Haruns Verschwinden allein und auf mich gestellt und werde es bleiben, bis er wieder auftaucht.

Falls er wieder auftaucht.

Die Möglichkeit, dass Harun vielleicht für immer verschwunden bleibt, nimmt mir den Atem und löst ein Zittern aus, das vom Kopf zu den Zehen reicht und die Zähne laut aufeinanderschlagen lässt.