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Geliebte Schwester,

dein Brief hat mich erschüttert. Die Eltern tot, unsere Heimat zerstört! Der Schmerz frisst sich durch meine Brust und raubt mir den Atem. Noch schwerer zu ertragen finde ich den Gedanken, dass du den weiten, gefährlichen Weg nach Europa auf dich nehmen willst, nachdem der Vater dir verboten hatte, dich für ein Studium im Ausland zu bewerben. Wie kannst du nur seinen Willen so missachten, kaum dass er tot ist? Auch ich würde dir am liebsten sagen: Lass ab von dem Plan! Bleib unter deinesgleichen, bleib in der Nähe! Aber ich weiß, dass meine Worte dich nicht rechtzeitig erreichen werden.

Hier an der Universität ist schon lange kein normales Leben mehr möglich, viele Studenten und Professoren haben das Land verlassen, aber ich hoffte, dass ihr in Sicherheit seid. Der Schock über deine Nachricht hat mich wachgerüttelt. Ich arbeite jetzt in einem Untergrund-Krankenhaus. Hierher werden Opfer von Fassbomben oder Minen gebracht, auch Menschen mit Schussverletzungen, viele sind Frauen und Kinder. Wir sind noch lange keine Ärzte, aber Wunden versorgen und Amputationen durchführen können wir schon. Und das tun wir. Täglich. Hunderte. Das Schlachten nimmt kein Ende. Und es ist unsere eigene Regierung, die auf uns schießt.

Ich erinnere mich an Halime und hoffe, dass sie sich deines Vertrauens würdig erweist. Möge Allah dich auf deinem langen und gefahrvollen Weg beschützen.

Dein Bruder

Nachdem der Kommissar mich entlassen hatte, stand ich zitternd auf der Straße und fühlte mich so allein wie selten in meinem Leben. Ich fühlte eine mir den Atem raubende Sehnsucht nach meinem Vater, aber dann schalt ich mich eine Närrin. Unmöglich, dass ich ihn wirklich gesehen hatte. Meine Wahrnehmung hatte mir einen Streich gespielt, hatte mir ein Bild gezeigt, das mir Trost versprach. Aber dieser Trost war ausgeschlossen. Es gab nur einen Ort auf der Welt, an dem ich Zuspruch finden konnte, und so hatte ich mich auf den Weg zu den ›Drei Zedern‹ gemacht.

 

Wir sitzen zu dritt auf der Eckbank. Sie gehört zu dem Tisch gegenüber der Küche, wo es zu dunkel, zu laut und zu hektisch für Gäste ist. Das Restaurant ist geschlossen, es ist die ruhige Zeit am Nachmittag, bevor das Abendgeschäft und die Vorbereitungen dafür beginnen. Jean sitzt außen und hält den Brief in das trübe Licht der schwachen Glühbirne, Buschra und ich hocken auf der Bank an der Wand, sie hat beide Beine angezogen und die Arme um die Knie gelegt. Ihr Kopf lehnt an meiner Schulter. Wir lauschen Jeans leiser Stimme.

Geliebte Schwester,

erst als ich den vorigen Brief an dich geschrieben hatte, fiel mir ein, dass ich ihn gar nicht abschicken kann. Ein Mensch auf der Flucht hat keine Adresse. Trotzdem schreibe ich dir wieder, denn fast ist es, als spräche ich diese Worte zu dir, und das hilft mir über meine Einsamkeit hinweg.

Zwei meiner besten Freunde sind tot. Sie wurden bei einem Angriff auf das Untergrund-Krankenhaus getötet, ebenso wie etwa zwanzig Patienten. Die überlebenden Ärzte und Helfer haben die noch brauchbare Ausrüstung zusammengerafft und sind umgezogen in den nächsten Keller, dieses Mal ist es eine ehemalige Schule. Ich weiß nicht, wie lange wir noch durchhalten können. Wir schlafen zu wenig, essen zu wenig, trinken zu wenig und kommen praktisch nicht mehr nach draußen. Verbandmaterial haben wir schon lange nicht mehr, wir decken die Wunden mit Stoffen ab, die wir den Opfern vom Leib reißen. Hemdenärmel oder Hosenbeine, die sie nicht mehr benötigen, weil wir ihnen den Arm oder das Bein abgeschnitten haben. Es ist ein Horror, aber wir geben nicht auf. Ich bete für dich.

Dein Bruder

Jean legt den Brief auf den Tisch und fährt sich mit der Hand über die Augen. »Das haben wir auch alles mitgemacht«, flüstert er mit erstickter Stimme.

Buschra nickt.

Ich bin genauso betroffen wie sie, aber was hatte ich erwartet? Ich wollte einen Hinweis finden, warum Harun verschwand oder wohin er gegangen sein mag. Ich hoffte, das Rätsel zu lösen und Harun zu finden. Inzwischen ist die Hoffnung verflogen wie der Duft der Orangenblüten, wenn der Wind den Rauch des Feuers in ihre Richtung weht. Schlimmer noch: Meine Suche hat Razan das Leben gekostet. Hier höre ich nun die Stimme eines toten Bruders, der sich an seine tote Schwester wendet. Ich will nicht mehr hören, was er schreibt, aber nachdem der Anfang gemacht ist, bringe ich es nicht über mich, Jean davon abzuhalten. Es ist wie eine Buße, die ich tun muss, weil ich die Katastrophe heraufbeschworen habe. So muss ich es wieder durchleben, das tausendfache Morden, das Ausbomben, Aushungern, Ausräuchern, das Schießen auf Menschen, die aus einem brennenden Gebäude laufen. Ich sehe es, sobald ich es höre, denn darin bin ich geübt. Weil ich mir niemals etwas notieren kann, mache ich mir ein Bild von allem, was meine Ohren erreicht. Höre ich die Zahl ›drei‹, sehe ich den dreiblättrigen Schildklee vor mir, den ich als Zwischenfrucht auf meinen Feldern anbaue. Höre ich das Wort ›Haus‹, sehe ich ein Haus. Höre ich ›Krieg‹, bin ich wieder mittendrin, höre, rieche, schmecke Schmerz, Angst, Tod, Verwesung.

Würde das aufhören, wenn ich lesen könnte?

Jean greift nach dem nächsten Brief.

Geliebte Schwester,

ich bin nicht mehr bei den Ärzten. Unsere Arbeit war zwecklos. Was nützt es, einen Menschen zu retten, wenn der Krieg ihn schließlich doch tötet und hundert andere dazu? Mehrmals mussten wir unseren Unterschlupf verlegen, immer wieder haben sie die Krankenhäuser bombardiert.

Deshalb habe ich das Skalpell zur Seite gelegt und zur Waffe gegriffen. Ich kämpfe für unser Volk, gegen die Unterdrückung. Waffen gibt es genug, viele gute Gewehre, deutsche vor allem, die wir den Kurden abgekauft oder erbeutet haben. Wir sind gut ausgerüstet, aber vor allem haben wir das Recht auf unserer Seite. Unsere Feinde kämpfen für Geld, für Macht oder für was auch immer, aber wir kämpfen für Allah und dafür, dass seine Gesetze gelten. Wir kämpfen gegen die Regierung, die sich vom Westen bevormunden lässt und ihre eigene Bevölkerung bombardiert. Wir kämpfen gegen die Amerikaner, die alle Muslime ausrotten wollen. Wir kämpfen für einen neuen Staat, in dem jeder Muslim in Frieden leben kann nach den Gesetzen Allahs.

Wenn es Allah gefällt, dass ich in seinem Namen kämpfe, wird er auch dich beschützen. Vertrau auf ihn, so wie ich auf ihn vertraue. Allah ist groß.

Dein Bruder

Jean schaut zur Uhr. »Wir müssen aufhören. Buschra, es wird Zeit.«

Ich bin erleichtert, dass er selbst den Horror beendet, aber noch nicht in der Lage, ihn hinter mir zu lassen. So schaue ich Jean bettelnd an.

Er versteht sofort. »Magst du uns wieder helfen, Madiha?«

Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Im Moment hätte ich es einfach nicht ertragen, diesen Ort zu verlassen und mich unter Menschen zu begeben, die mich verachten, weil ich anders gekleidet bin als sie. Die über meine Aussprache lachen oder drängeln, weil ich nicht schnell genug gehe. Noch schwerer aber hätte ich diejenigen ertragen, die mir freundlich begegnen, wie der Busfahrer, der mich vor bösen Bemerkungen in Schutz nimmt. Ich habe diese Freundlichkeit nicht verdient, denn ich bin verantwortlich für Razans Tod.

Bevor ich mich der Welt da draußen stellen kann, muss ich die schrecklichen Bilder und Erinnerungen aus meinem Kopf verbannen. Das gelingt mir am besten in der Küche.

Wir arbeiten schweigend, die Ruhe senkt sich auch über mich und sickert langsam vom Scheitel nach unten, entspannt das Gesicht und den Nacken, die Schultern und den Rücken. Nur die Schmerzen in der Hüfte lassen nicht nach, aber daran bin ich gewöhnt. Als Jean die Tür aufschließt, um die ersten Gäste einzulassen, fühle ich mich dem Heimweg gewachsen. Den Abend kann ich hier nicht verbringen, weil der letzte Bus zur Unterkunft um sieben Uhr geht. Auf dem Weg zur Haltestelle drehe ich mich mehrfach um. Ich sehe den Mann mit der geteilten Augenbraue nicht, fühle mich aber trotzdem beobachtet.

 

Eine abgrundtiefe Erschöpfung erfüllt mich, als ich aus dem Bus steige. Nur mit Mühe bringe ich den Weg bis zur Unterkunft hinter mich. Faysal erwartet mich bereits an der Tür, sicher hat er an einem Fenster gesessen, um mich bei meiner Rückkehr abzupassen. Jasmin – zumindest vermute ich, dass sie es war – hat seine verfilzten Locken abgeschnitten. Übrig geblieben sind glänzend schwarze Haare, so kurz und stachelig wie Igelborsten. Er sieht jünger aus, verletzlicher. Wie selbstverständlich schiebt er seine klebrige Hand in meine. Ich drücke sie so fest, dass er mich verstört anschaut.

In meinem Zimmer lasse ich mich, vollständig bekleidet wie ich bin, auf das Bett fallen. Faysal legt sich zu mir, kuschelt sich an mich und schläft fast augenblicklich ein. Zwei weitere Betten sind belegt, die Frauen sind krank, sie husten und wälzen sich unruhig hin und her. Trotzdem spüre ich, wie der Schlaf mich übermannt.

Ich bin nicht sicher, ob ich tatsächlich geschlafen habe, als eine Hand mich an der Schulter fasst und sanft rüttelt.

»Madiha, steh auf!«

Es ist Jasmin. Immer wieder ruft sie leise meinen Namen, zerrt an mir. Ihren Gesichtsausdruck kann ich nicht erkennen, aber in ihrer Stimme liegt eine Begeisterung, die ich mir nicht erklären kann. Ich setze mich auf und reibe mir die Augen. Sie brennen, als hätte der Wüstensand sie ausgetrocknet.

»Madiha, steh auf und komm mit. Du hast Besuch!«

Schlaftrunken hinke ich hinter Jasmin her in den Gemeinschaftsraum, Faysal folgt mir so nah, dass er mir gelegentlich in die Hacken tritt. Das Abendessen ist vorüber, aber viele Menschen sitzen noch an den Tischen, die meisten für sich, ihr Blick auf das Handy gerichtet. Ich habe einen schalen Geschmack im Mund und wäre glücklich über einen Schluck Tee, aber die riesigen Warmhaltekannen, die zu den Essenszeiten gefüllt werden, sind kalt und leer. Es gibt nichts mehr, keinen Bissen zu essen, keinen Tee für den Rest des Tages und die ganze Nacht. Daheim wären es noch drei Stunden bis zum Beginn des Abendessens.

Ich widersetze mich Jasmins Schieben und Drängen und trinke gierig kaltes Leitungswasser, das den ganzen Tag verfügbar ist. Jetzt erst fühle ich mich in der Lage, mir anzuhören oder anzusehen, was auch immer Jasmin mir zeigen will. Fast habe ich es schon geahnt, trotzdem ist sein Anblick wieder schockierend. Mein Onkel steht vor mir.

»Madiha, ich bin gekommen, um dich abzuholen!«, sagt er, die Arme einladend erhoben.

Ich stehe stumm und starr. Zu viel ist heute geschehen, als dass ich Zeit gehabt hätte, das unerwartete Auftauchen meines Onkels zu verarbeiten und mir zudem zu überlegen, ob ich seinem Wunsch entsprechen möchte. Was würde mein Vater von mir erwarten? Da er seit zweiundzwanzig Jahren kein Wort über seinen Bruder verloren hat, kann ich diese Frage nicht beantworten. Das einzige Mal, dass mein Vater über seine Vergangenheit sprach, war der Tag, an dem ich auf seiner Türschwelle erschien.

 

Mein Vater stand da und starrte mich an, als wäre ich ein Geist. Er erkannte mich sofort. Später, als wir allein waren, saß er eine ganze Stunde schweigend an seinem Arbeitstisch, während ich mir ein Blatt Papier und einen Stift suchte und, fasziniert von den Intarsienmustern um mich herum, am Boden Blütenmuster malte. Irgendwann kam mein Vater um seinen Tisch herum, sah meine Zeichnungen und hockte sich zu mir auf den Boden. Dann erzählte er mir unsere gemeinsame Geschichte.

»Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten«, flüsterte er unter Tränen. »Aber du darfst niemandem sagen, dass du meine Tochter bist. Du bist die Tochter meines Bruders, hast du verstanden?«

Ich nickte, verwirrt, verängstigt, so einsam wie nie zuvor in meinem Leben.

»Am besten sprichst du überhaupt so wenig wie möglich.«

Wieder nickte ich. Das kam mir gelegen.

»Du wirst meiner Frau auf den Feldern helfen und in der Küche, aber zwei Stunden am Tag arbeiten wir zusammen. Deine Zeichnungen sind wunderbar.«

Dann lächelte er mich an. Dieses erste Lächeln, das gleichzeitig traurig und stolz war, entzündete in meinem Herzen die Flamme der Liebe zu meinem Vater. Von da an waren wir Vertraute, obwohl wir wenig voneinander wussten.

 

Die Frage, ob mein Vater eine Versöhnung gewollt hätte oder nicht, überfordert mich. Ich trete einen Schritt zurück.

»Ich dachte, dass es dich freut, hier herauszukommen«, sagt mein Onkel und lässt langsam die Arme sinken. Die Enttäuschung ist ihm ins Gesicht geschrieben.

Ich bin so unendlich erschöpft, dass ich dieser Begegnung nicht gewachsen bin. Razans Tod lastet auf mir, die schrecklichen Worte aus Amals Briefen, der Verdacht des Kommissars, dass Harun hierherkam, um deutsche Männer für den Krieg in unserer Heimat anzuwerben. Noch vor drei Wochen hätte ich das Angebot meines Onkels mit der größten Freude angenommen, hätte mich in seine Obhut begeben, mich seinen Entscheidungen unterworfen, die Verantwortung für mein Leben abgegeben.

Das kann ich jetzt nicht mehr. Ich suche Harun. Ich habe die Verantwortung für ein Kind bekommen, um das ich mich kümmern muss. Und ich habe Freunde gefunden: Jean und Buschra, die fast so etwas wie meine neue Familie sind. Möglich, dass in diesem neuen Leben auch Platz für meinen Onkel ist, aber seine Entscheidung über meinen Kopf hinweg ärgert mich. Überrascht stelle ich fest, dass ich eigene Pläne habe, die ich nicht leichtfertig aufgeben will.

Ich fasse mir ein Herz und stelle die Frage, die mir bei unserer letzten Begegnung zu spät einfiel. »Woher weißt du, dass ich hier bin?«

Einen Moment lang ist er überrascht, vielleicht weil ich das Thema gewechselt habe oder weil er meine mangelnde Zurückhaltung als frech empfindet, dann spielt ein kleines, wehmütiges Lächeln um seinen Mund.

»Kontakte sind der wahre Reichtum eines Händlers, Madiha. Und wer schlau ist, erhält die Kontakte auch außerhalb der Heimat aufrecht. Hier sind sie doppelt so viel wert.«

Das glaube ich ihm aufs Wort. Informationen sind die wichtigste Ware für Menschen, die von ihren Angehörigen getrennt sind. Wie geht es denen, die in der Heimat geblieben sind, wie steht es um diejenigen, die sich auf den Weg gemacht haben? Wo ist die Lage zurzeit sicher, wo nicht? Welches Ziel ist gut, welches schlecht? Welches unerreichbar? Wer weiß, wo der Bruder, Vater, Onkel, Cousin oder Nachbar abgeblieben ist, von dem man seit Tagen nichts gehört hat? Hat er nur sein Handy verloren oder sein Leben? Ja, Informationen sind das Wichtigste für Menschen auf der Flucht. Außer für mich. Um wen sollte ich mich sorgen?

»Wirst du über meine Bitte nachdenken, Madiha?«

Er hatte die Entscheidung, mich mitzunehmen, nicht als Bitte vorgebracht, aber ich nicke trotzdem. Die Vorstellung, endlich wieder eine Familie zu haben, rührt mich fast zu Tränen. Die Familie ist das höchste Gut, sie steht über Reichtum und Ansehen, bietet Halt und Hilfe in jeder Lebenslage. So habe ich es mir all die Jahre vorgestellt, in denen meine Stiefmutter ihre Kinder verhätschelte, während ich von allen Seiten Schläge bekam, nur von meinem Vater nicht. Niemals. Dagegen sind die Menschen, die mir jetzt etwas bedeuten, in meinem Leben nur Durchreisende. Harun ist bereits fort, in Jasmins Zukunft wird für mich kein Platz sein, und Jean und Buschra, die mir lieb und teuer sind, haben ihr eigenes Leben, in das ich mich nicht hineindrängen darf.

Fast gebe ich der plötzlich übermächtigen Verlockung nach, die Hände meines Onkels zu ergreifen und mich in seine Obhut zu begeben, aber im letzten Moment halte ich mich zurück. Ich habe noch Pflichten zu erfüllen, denen ich mich nicht entziehen darf. So verspreche ich ihm, das Handy angeschaltet zu lassen, damit er mich erreichen kann, nehme das Kabel entgegen, mit dem man das Gerät auflädt, wenn der Akku leer ist, und schaue ihm hinterher, wie er langsam und allein den Weg entlanggeht, den er mit mir an seiner Seite ein letztes Mal hatte zurücklegen wollen.

 

Ich schlafe kaum in dieser Nacht. Übermannt der Schlaf mich doch einmal, dann träume ich schlecht. Irgendwann stehe ich auf und verlasse das Zimmer, in dem ich keine Luft mehr bekomme. Vor Kälte und Erschöpfung zitternd gehe ich in den Gemeinschaftsraum. Ich bin nicht die Einzige dort, aber niemand beachtet mich. Die meisten Gesichter sind nach unten gewandt und werden von Handys angestrahlt, jeder ist mit sich selbst allein. Das ist mir recht. Ich setze mich auf den Boden, lehne den Kopf an die Wand und starre nach draußen in die dunkle Nacht, nur erhellt vom Schein der Straßenlaterne vor der Unterkunft.

Wie soll ich mich meinem Onkel gegenüber verhalten? Darf ich sein Angebot ablehnen? Habe ich überhaupt eine Wahl? Ist es nicht selbstverständlich, dass er als einziger lebender Verwandter entscheidet, was mit mir geschieht? Ich bin erstaunt, dass er nicht darauf bestanden hat. Andererseits hat er sein ganzes Leben in der Stadt verbracht, dort scheint tatsächlich eine weniger traditionelle Gesinnung zu herrschen, auch wenn Jasmin und die anderen Frauen berichten, dass sie sich immer wieder gegen Widerstände durchsetzen mussten. Vielleicht hat die Flucht meinen Onkel demütig gemacht, vielleicht quält ihn sein Gewissen oder die Trauer darüber, dass mein Vater allein und einsam gestorben ist.

 

Ich muss eingeschlafen sein, denn eine plötzliche Helligkeit schmerzt in den Augen. Alle Knochen tun mir weh, mühsam rappele ich mich auf. Die Helfer in den roten Jacken, die das Frühstück bringen, haben das Licht angeschaltet und schleppen große Kisten und Platten herein. Ich warte, bis der improvisierte Vorhang vor der Theke weggezogen wird, und stelle mich für eine Tasse Tee an. Übernächtigte Gesichter drängen heran, lechzen nach Wärme. Ich setze mich an einen leeren Tisch.

Eine Helferin stellt einen Teller mit einem Gebäckstück vor mir ab. »Wir haben nicht genug für alle, deshalb gibt es das eigentlich nur für die Kinder. Aber Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Süßes brauchen.«

Sie lächelt mich an und geht weiter zum Nachbartisch, an dem ein junger Mann schläft. Ihn haben Licht und Geschäftigkeit noch nicht erreicht. Er schreckt hoch, als die Helferin ihm einen Teller hinstellt, und schlingt das Gebäck mit wenigen Bissen hinunter. Die Frau schaut zu mir, zuckt die Schultern und lächelt noch einmal. »Die jungen Leute …«

Meine Worte sind wie immer zu langsam auf dem weiten, steinigen Weg vom Herzen zum Mund, und so ist sie hinter ihrem Tresen verschwunden, bevor ich ihr sagen kann, wie unendlich gut mir ihre Freundlichkeit tut. Nach den finsteren Stunden, die hinter mir liegen, ist ihre Güte wie der Sonnenstrahl, der mit dem neuen Tag auch einen Funken Hoffnung bringt.

Wieder lasse ich Faysal bei Jasmin, die den Jungen mit einer Begeisterung an sich zieht, die er nicht teilt. Er schaut mir mit traurigen Augen hinterher, aber ich kann ihn nicht mitnehmen, will nicht, dass er zuhört, wenn Jean mir die Briefe vorliest.

In Gedanken versunken fahre ich zu den ›Drei Zedern‹.

 

Jean öffnet mir die Hintertür und bringt mir ein Glas Tee zu dem Tisch gegenüber der Küche. Buschra nickt mir durch die offene Tür zu, lässt sich aber nicht von der Arbeit abhalten. Ich verstehe ihre Zurückhaltung. Angesichts der restlichen Briefe von Amal an seine Schwester erfüllt auch mich eine bange Erwartung.

Geliebte Schwester,

wir machen große Fortschritte, weil wir für den gerechten Gottesstaat kämpfen, während unsere Gegner den Mut verlieren, sobald sie uns sehen. Wir hingegen haben keine Angst. Mit einer Handvoll Männer erobern wir ganze Dörfer, schneiden den Ältesten die Köpfe ab und stecken sie auf dem Marktplatz auf lange Stangen, damit jeder sieht, wie über Abtrünnige gerichtet wird. Denn abtrünnig ist, wer eigene Gesetze erlässt oder sich danach richtet. Richter werden getötet ebenso wie jeder, der die Göttliche Ordnung durch weltliches Recht infrage stellt. Um die Witwen der Männer, die wir erschossen haben, kümmern wir uns, sie werden weiterverheiratet. Viele unserer Kämpfer sind bereit, sich ihrer anzunehmen. Damit retten wir ihr Leben. Ich habe bisher keine Frau genommen, aber ich denke, dass ich das bald tun werde.

Unsere Sache ist so groß, dass aus der ganzen Welt Menschen zu uns kommen, um an unserer Seite zu kämpfen. Deutsche, Engländer, Franzosen, Belgier, sogar Amerikaner! Sie alle sind gläubige Muslime und wollen in einem Staat leben, in dem es keinen Gott neben Allah gibt, in dem niemand außer Allah Gesetze macht. Keine Regierung darf sich das anmaßen, deshalb kommen die Muslime aus ihren Demokratien und schließen sich uns an.

Wegen meiner guten Englischkenntnisse bin ich nun in dieser Einheit, wo die ausländischen Mudjahedin ausgebildet werden. Hier habe ich auch einen Freund gefunden, Harun, einen ruhigen Mann in meinem Alter, der nicht viel spricht. Ich bin zuversichtlich, dass du bald dem Land der Ungläubigen den Rücken kehren und in die Heimat zurückkommen kannst. Ich werde einen guten Mann für dich finden. Möge Allah dich so lange beschützen.

Dein Bruder

Jean legt den Brief ab und holt Tee für uns beide. Ich bin dankbar für die Pause und versuche mich zu wappnen, als er das nächste Blatt aufnimmt.

Geliebte Schwester,

sicher hörst du auch in Deutschland von den Kämpfen, aber lass dir gesagt sein, dass das Leben hier eigentlich relativ normal ist. Wir wohnen in einem Haus, das noch gänzlich unbeschädigt ist, sogar die Fensterscheiben sind vollständig, es gibt Wasser und Strom. Die Mobilfunkmasten sind abgeschaltet, aus Sicherheitsgründen, aber es gibt Internetcafés. Die meisten Geschäfte sind offen, schließen aber natürlich während der Gebetszeiten. Es gibt genug Lebensmittel zu kaufen, aber wir kochen nicht, sondern essen im Restaurant oder Imbiss. Unser Leben ist einfach, aber es mangelt uns an nichts, weil wir zum Ruhme Allahs leben und nicht zu unserem eigenen Wohlergehen.

Jeder hier hat Zugang zu medizinischer Versorgung, es gibt keine Diebstähle mehr, seit die Scharia gilt, denn niemand möchte seine Hand verlieren. Es gibt keinen Alkohol, also auch keine Betrunkenen, die nur Streit suchen oder Lärm machen. Die Menschen in der Stadt sind dankbar, dass wir endlich Gottes Ordnung durchsetzen, niemand ist uns feindlich gesinnt.

Natürlich ist das Kämpfen manchmal schwer, auch das Foltern verlangt einen starken Glauben, die Schreie sind fürchterlich. Es ist nicht leicht, einen Mann zu quälen oder zu töten, nur weil er auf der Gegenseite steht. Er hat vielleicht auch eine Schwester, die um ihn trauert. Die Gefolterten rufen die Namen ihrer Frauen, ihrer Kinder, das ist schwer auszuhalten. Dann das ganze Blut, wenn man dem toten Feind die Waffe abnimmt, die Munition, alles, was er bei sich trägt. Wenn er eine Kampfweste hat, die noch intakt ist, nimmt man auch sie, obwohl sie ganz blutig ist. Aber vielleicht kann sie dem Freund helfen, der noch keine besitzt. Mit Blut kenne ich mich aus, trotzdem empfinde ich es im Kampf anders als bei einer Operation. Aber das gerechte Kalifat, in dem jeder Muslim in Frieden leben kann, muss durch Krieg errungen werden. Mir wäre ein friedlicher Weg lieber, aber nun bin ich stolz, dabei mitzuhelfen.

Möge der barmherzige Allah dich beschützen.

Dein Bruder

Ich wünschte, Razan hätte die Briefe nie aus ihrer Tasche geholt, ich hätte sie nie an mich genommen, oder Jean hätte, nach dem ersten Blick auf den Inhalt, das Lesen verweigert. Diese Worte bringen nicht nur das Grauen aus der Heimat zurück, sie nehmen mir auch das Wichtigste, was ich seit der Flucht hatte: den Freund.

Ich kann nicht mehr an Harun denken, ohne mich zu fragen, ob er dabei war, als die Teufel unser Dorf überfielen. Ob er einer der Vermummten war, die unseren Imam aus seinem Haus trieben, auf den Platz führten und dort enthaupteten, weil er, wie sie sagten, die Gesetze der Scharia nicht streng genug durchsetzte. Vielleicht war Harun der Mann, der die Nachbarin auspeitschte, weil sie nicht angemessen bedeckt war, als sie im Hof ihre Hühner fütterte. Vielleicht gehörte er zu den zwölf Männern, die die vierzehnjährigen Zwillinge des Bäckers vier Tage lang vergewaltigten und dann steinigten. Vielleicht … Tränen tropfen auf das Papier.

Jean legt die restlichen Briefe zur Seite und umfasst meine zitternden Hände. »Es tut mir leid.«

»Darf ich euch über Mittag wieder helfen?« Es ist mehr ein Betteln als ein Angebot, und ich bin glücklich, als Jean und Buschra meine Hilfe akzeptieren.

Die Vorspeise des Tages sind Fatayer bi-Sabanikh, Blätterteigtaschen mit Spinat und Pinienkernen, das Hauptgericht im Angebot ist Couscous, der im Libanon Maghrabiye heißt, mit Hühnerklein. Ich mache mich an die Arbeit, hacke und dünste Zwiebeln, schwitze Spinat an und zerpflücke das gekochte Huhn. So habe ich Zeit, das Grauen hinter mir zu lassen und in die Welt zurückzufinden, denke ich, aber heute funktioniert es nicht. Selbst das Gefühl der Sicherheit, das ich einmal in diesem Land spürte, ist fort. Die Männer, die meine Heimat in die Hölle verwandelt haben, sind hier.

Wir stecken noch mitten im Mittagsgeschäft, als Jean aufgeregt in die Küche kommt. »Du musst gehen, Madiha, sofort, bevor es zu gefährlich wird auf der Straße!«

Mein Verstand begreift nicht, was er sagt, mein Körper schon. Gefahr! Ich zittere. Vom linken Bein über das Herz bis in die Fingerspitzen spüre ich das krampfartige Beben, das mir die Luft abschnürt und das Blut in den Adern stocken lässt.

»Du darfst nicht den Bus nehmen, ich rufe dir ein Taxi. Hast du Geld?«

Ich schaffe es nicht, meine Gürteltasche zu öffnen, weil meine Hände zu sehr zittern.

»Egal«, sagt Jean, »nimm das hier.« Er drückt mir Geld in die Hand, ich weiß nicht, wie viel. Buschra steht schweigend neben ihm, ihre Haut ist blass und fleckig, sie presst die Hände vor die Brust.

»Was ist denn überhaupt passiert?«, flüstere ich.

»Ein Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg.«

»Ist das hier in der Nähe?«

»Es ist nicht einmal in Deutschland, aber das ist egal. Es gibt mindestens dreißig Tote.«

Ich frage nicht, was ich damit zu tun habe. Ich weiß längst, dass die anfängliche Freundlichkeit gegenüber Flüchtlingen abgekühlt ist. Dass es immer mehr Menschen gibt, die sagen, wir seien zu viele. Dass es immer mehr Menschen gibt, die Angst vor uns haben. Vor unserem Ansturm. Vor unserem Glauben. Vor unserem Krieg.

Ich umarme Buschra, die inzwischen lautlos weint, dann umarmt Jean mich. Ich mache mich steif vor Schreck. Noch nie hat mich ein Mann umarmt – außer meinem Vater, und auch er tat es nur wenige Male. Und nun Jean! Es ist ungehörig. Verboten. Nicht einmal die Hand reiche ich einem Fremden. Aber Jean drückt mich an sich, und unter der Berührung zerplatzt mein Schreck, mein Körper fließt in seine Arme, so wie die Tränen über meine Wangen fließen. Ich spüre Trost inmitten der Gefahr, Verbundenheit in totaler Vereinsamung.

Dann ist das Taxi da, und Jean schiebt mich hinein. In seinen Augen stehen Tränen. Als der Wagen sich in den Verkehr einreiht, verfliegt die Wärme, die ich einen Moment genießen durfte. Eisige Kälte breitet sich in mir aus: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehe ich den Mann mit der geteilten Augenbraue. Er schaut mir hinterher.