Der Tag hat mir alles abverlangt, und so sind meine Beine noch zittriger als sonst, als Faysal und ich im letzten Tageslicht zur Unterkunft gelangen. Der Junge ist undurchschaubar. Er äußert keine Bedürfnisse, weder Hunger noch Durst oder Müdigkeit. Er ist mir ein Rätsel, das ich nicht lösen will aus Angst vor dem, was ich finde: noch eine Geschichte voller Einsamkeit und Trauer, voll Tod und schrecklicher Erfahrungen. Und immer wenn ich ihn dann ansähe, würde ich daran denken. Würde mit ihm leiden. Mein Mitleid wäre wiederum der Spiegel, in dem er sein Leid erblicken würde … Ein Kreislauf ohne Ende. Manchmal ist Vergessen der beste Weg, und wem es gegeben ist, der kann sich glücklich schätzen. Vielleicht ist das sein Geheimnis. Vielleicht hat er sein altes Ich einfach abgestreift, weggesperrt, hinter sich gelassen.
Das möchte ich auch gern. Vergessen. Dem Schmerz entfliehen, der mich in Wellen durchströmt. Schlafen möchte ich, tagelang, wochenlang.
Fast schaffen wir es unbehelligt in mein Zimmer, aber auf den letzten Metern laufen wir Amelie über den Weg.
»Madiha, so geht es nicht!« Ihre Augen blitzen ärgerlich, werden kurz von dem Jungen an meiner Hand abgelenkt, richten sich aber gleich wieder auf mich. »Bitte erkläre mir, was so wichtig ist, dass du dauernd weg bist, ohne mir wenigstens Bescheid zu sagen, wann du geruhst, zu übersetzen, und wann nicht. Wie soll ich euch helfen, wenn ihr nicht mitarbeitet?«
Uns helfen?, denke ich und spüre eine vollkommen ungekannte Wut in mir hochsteigen. Wer hilft hier eigentlich wem? Was hat Amelie für mich bisher getan? Ist es nicht eher so, dass ich seit meiner Ankunft von morgens bis abends gedolmetscht habe, die letzten paar Tage einmal ausgenommen? Hat sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, ob ich überhaupt die Kraft dazu habe? Hat sie sich jemals dafür bedankt? Wie vielen Menschen hat sie bereits eine Wohnung vermittelt? Warum nicht mir?
Ich erschrecke über meine egoistischen Gedanken. Die Bescheidenheit gehöre zu meinen liebenswertesten Eigenschaften, sagte mein Vater oft. Außerdem bin ich als Gast in diesem Land nicht in der Position, Ansprüche zu stellen. Aber das sind die anderen vierhundert Flüchtlinge in dieser Unterkunft auch nicht. Trotzdem glaubt jeder, ein Anrecht auf meine Hilfe zu haben. Ganz besonders Amelie, die immer noch vor mir steht und auf eine Antwort wartet.
Wortlos schüttele ich den Kopf und dränge mich an ihr vorbei, drehe mich auch nicht um, als sie, noch mehr in Rage, meinen Namen ruft.
»Und wer ist überhaupt dieser Junge?«, brüllt sie hinter mir her.
Ich lege mich aufs Bett und starre in die Luft, Faysal greift nach seinem bunten Würfel. An Schlaf ist nicht zu denken. Meine Gedanken laufen im Kreis wie der Esel, der daheim die alte Pumpe antrieb. Harun, Amal, Jean, Buschra, Razan, dazwischen junge Männer, die zu vermummten Mördern werden, und Mörder, die zu Flüchtlingen werden. Worte wechseln sich mit Bildern ab, Bilder mit Satzfetzen, nichts ergibt einen Sinn, alles rauscht und zuckt durcheinander. Gequält werfe ich mich von einer Seite zur anderen. Ich finde keine bequeme Position, mag aber auch nicht aufstehen, weiß nicht, ob ich die Augen öffnen oder schließen soll, und bin fast dankbar, als die Tür sich öffnet und die Stimme eines kleinen Mädchens mich auffordert, mitzukommen. Da sei ein Mann, der mit mir sprechen wolle.
Faysal ließ sich nicht überreden, im Zimmer zu bleiben, also folgt er mir wieder wie ein Schatten. Als wir den Gemeinschaftsraum betreten, schaue ich direkt auf Amelies Rücken. Sie steht vor einem der langen Tische und verdeckt einen Mann, der auf der Bank sitzt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es der Kommissar ist.
»Ich habe keine Ahnung, was sie den ganzen Tag treibt oder wo sie sich aufhält«, erklärt Amelie gerade laut und mit ärgerlicher Stimme. »Es gibt sonst niemanden, der so gut dolmetschen kann. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig das für mich ist, wenn die Leute nicht verstehen, was ich sage?«
Ein leises Gemurmel unterbricht sie, ich kann aber nicht hören, was der Kommissar sagt.
»Ich kann mich kaum an diesen Harun erinnern, die Leute sehen ja auch irgendwie alle gleich aus. Jedenfalls war Madiha schockiert, als er plötzlich verschwand. Sie hätte allerdings deswegen sicher nichts unternommen, das dumme Ding ist ja so unselbstständig. Ich habe darauf bestanden, dass wir zur Polizei gehen, damit alles seine Ordnung hat.«
Als ich näher trete, bemerkt Amelie mich, nickt mir kurz zu und fügt dann etwas leiser an den Kommissar gewandt hinzu: »Erklären Sie ihr bitte, dass jeder etwas dafür tun muss, wenn er hier aufgenommen werden will.« Mit erhobenem Kopf rauscht sie an mir vorbei.
Ich lasse mich dem Kommissar gegenüber auf die Bank sinken und halte den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Faysal steht hinter mir. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass der Kommissar von mir zu ihm und zurück schaut. Er kommentiert die Anwesenheit des Jungen nicht.
»Wie kommt es, dass ich immer wieder über Sie stolpere?«
Hinter dem Vorhang bereiten die Helfer das Abendessen vor, klappern mit Tellern, Tassen und Besteck. Ich lechze nach Tee, aber noch gibt es keinen.
»Schauen Sie mich bitte an, Frau Hammada.«
Es kostet mich große Überwindung, aber dann hebe ich den Blick kurz zu seinem Gesicht. Dunkle Ringe liegen unter den Augen des Kommissars, aber seine Stimme klingt nicht unfreundlich.
»Sie sind mit Harun hier angekommen. Es ist Ihr Zimmer, das bei dem Brandanschlag verwüstet wird.« Bei jedem einzelnen Punkt spreizt er einen Finger ab. »Sie treffen sich mit Razan Arabi, die kurz darauf tot ist. Heute tauchen Sie bei dem abgebrannten Restaurant auf. Egal, wohin ich schaue, immer sehe ich Sie. Was soll ich davon halten?«
Selbst wenn ich die Kraft zum Sprechen hätte, wüsste ich nicht, was ich sagen sollte.
»Frau Hammada, ich erwarte Antworten.«
»Ich habe keine.« Ich spreche so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann, mein Blick ruht wieder auf der Tischplatte.
»Damit gebe ich mich nicht zufrieden.«
»Aber …« Ich habe keine Ahnung, was den Kommissar interessieren könnte und was nicht, was er überhaupt wissen will.
»Wo waren Sie in der vergangenen Nacht?«
»Hier, in meinem Bett.«
»Ich werde das prüfen.«
»Warum?«, flüstere ich.
»Wenn mitten in der Nacht ein Feuer in einem geschlossenen Restaurant ausbricht, dann könnte es auch Brandstiftung gewesen sein.«
Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was er mir unterstellt. »Warum sollte ich das Feuer legen?«
»Ich will jetzt alles erfahren, was in den letzten Tagen geschehen ist, was Sie in dem Restaurant getan, was Sie gesehen und gehört haben, egal, ob es Gerüchte sind oder Tatsachen.«
Also berichte ich ihm von Jeans Hilfsangebot, als er den Kommissar und mich nach unserem gemeinsamen Mittagessen verabschiedete. Ich berichte ihm, dass ich in der Küche half, während Jean und Buschra mich wie ein Familienmitglied behandelten und die leise Hoffnung in mir weckten, dass ich doch irgendwann fern meiner Heimat leben könnte.
»Was wollten Sie heute Vormittag dort?«
»In der Küche helfen.«
»Und Harun? Was war das für eine Beziehung?«
Darüber hatten wir schon gesprochen, oder nicht? Ich kann mich nicht erinnern, also beginne ich einfach von vorn. »Wir sind uns auf der Flucht begegnet. Er hatte schreckliche Albträume, ich kam zu Fuß nicht schnell genug voran. Wir halfen uns gegenseitig.«
»Woher kannten sich Amal und Harun?«
Wenn ich jetzt die Briefe erwähne, breche ich das Versprechen, das ich Halime gegeben habe. Oder muss ich mich für die Polizei und gegen meine syrische Schwester entscheiden? Woher soll ich wissen, was richtig ist und was falsch?
»… Frau Hammada?«
Ich war so in meinen Gedanken versunken, dass ich die Frage nicht verstanden habe, aber bevor ich ihn bitten kann, sie zu wiederholen, klingelt ein Telefon. Der Kommissar meldet sich, hört schweigend zu, bedankt sich und steckt das Telefon zurück.
»Die Feuerwehr konnte einen Teil des ausgebrannten Restaurants betreten. Man hat eine Leiche gefunden.«
So wie er es sagt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man die zweite Leiche findet. Meine Tränen tropfen auf die Tischplatte, ich wische sie mit dem Ärmel meines Mantels fort.
Der Kommissar steht auf, bleibt aber noch einen Moment vor mir stehen. »Ich muss weg, aber wir sind noch nicht fertig miteinander.«
Als hätte sie nur darauf gewartet, dass der Kommissar geht, erscheint Amelie. »Madiha, kommst du? Wir haben viel zu tun.«
Ich rappele mich mühsam von der Bank auf, nehme Faysal bei der Hand und gehe an Amelie vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ich weiß, dass das sehr dumm von mir ist, denn ich befinde mich in einer Situation, in der ich es mir nicht leisten kann, mir Feinde zu machen. Aber ich bin ihr böse, dieser Frau, die nur nett zu mir war, solange ich ihren Vorstellungen von der demütigen Bittstellerin entsprach, solange ich mich herumkommandieren ließ, solange ich nach ihren Regeln funktionierte. Ich kenne diese Wut nicht, die sich schon wieder in mir ausbreitet. Weder von daheim, wo ich mit meinem Leben zufrieden war, noch von der Zeit der Flucht, als man mir weitaus übler mitspielte, als Amelie es tut. Ich nahm es hin, ertrug Beschimpfungen und Misshandlungen, war erstarrt in meiner Trauer, unfähig, überhaupt etwas zu empfinden. Ist es nun, da die Taubheit nachlässt, vor allen Dingen Wut, die mich überkommt? Die Erkenntnis erschreckt mich. So bin ich nicht, so will ich nicht sein, aber im Moment kann ich mich auch nicht dagegen wehren. Mir schießt das Blut in die Wangen, als ich verstehe, dass ich mich gar nicht dagegen wehren will. Ich genieße die Wut, denn ich weiß genau, dass sie etwas überdeckt, das viel schlimmer ist: die grenzenlose Verzweiflung über den Tod mindestens eines der beiden Menschen, die mir in wenigen Tagen mehr ans Herz gewachsen sind, als ich es von Fremden jemals für möglich gehalten hätte.
Ich weiß nicht, wo ich hinsoll, stehe in dem winzigen Vorraum, der immer voller wird, weil die Leute zum Essen drängen. Es ist stickig, laut, ich schnappe nach Luft, fühle mich von allen Seiten bedrängt und schiebe mich ruppig in Richtung Tür. Nur raus hier, bewegen, gehen, egal wohin, weg von den Menschen, deren Stimmen meinen Kopf füllen, sich darin kreuzen, in der engen Schädelhöhle zurückgeworfen werden.
Nach einigen Metern bleibe ich stehen, stütze mich mit beiden Händen auf den Stock, atme mehrmals tief ein und aus. Mein Blick wird klarer, dann jedoch glaube ich, das Bewusstsein zu verlieren, weil vor meinen Augen alles tanzt. Aber es ist Schnee, der die Luft füllt, dicke weiße, nasse Flocken, die schon auf Faysals kurzgeschorenem Haar kleben, auf seinen Schultern. Der Junge steht vor mir, Sorge im Blick. Mühsam hebe ich eine Hand und streiche ihm den Schnee vom Kopf.
»Es ist alles in Ordnung«, flüstere ich. »Lass uns reingehen, du wirst ganz nass.«
Ich habe keinen Hunger, aber begleite Faysal zum Abendessen. Jasmin winkt uns zu sich an den Tisch, sie sitzt allein.
»Was ist los?«, fragt sie leise, als Faysal nach vorn drängt, um Brot, Käse und Fruchtjoghurt zu holen.
Ich erzähle ihr von Jean und Buschra, die mich aufgenommen haben wie eine Verwandte. Die keine Fragen stellten und doch Anteil nahmen. Die tot sind, tot wie Razan, tot wie Amal, tot wie wahrscheinlich auch Harun, denn sonst hätte er sich bei mir gemeldet, hätte sich bei Razan gemeldet, wäre nicht einfach spurlos verschwunden.
Jasmin ist schockiert, will etwas sagen, schweigt aber, als Faysal zurück an den Tisch kommt, und stellt stattdessen dem Jungen hundert Fragen, die er ignoriert. Erst als er noch mal zur Essensausgabe geht, wendet sie sich wieder mir zu.
»Kann ich etwas für dich tun?«
Ich zögere. Erinnere mich, dass ich niemandem in dieser Unterkunft trauen wollte, weil nur jemand, der hier lebt, wissen konnte, in wessen Zimmer er das Feuer werfen musste, um Haruns Besitztümer zu stehlen. Dann erinnere ich mich daran, wie oft Jasmin mir geholfen hat. Gegen Rafiq, der mich wegen der Männerschuhe vor meinem Zimmer der Unzucht anklagen wollte. Gegen meinen Onkel, der mich bedrängte, gegen Amelie, die mich beschimpfte, und die Frau vom Jugendamt. Zuletzt schaute sie im Internet nach Halimes Telefonnummer, obwohl ich ihre Frage, wer die Frau sei, nicht beantwortete. Jasmin ist die einzige Person, die mir fehlen wird. Deshalb nicke ich und reiche ihr mein Handy.
»Gib mir deine Telefonnummer und notiere meine.«
Sie nimmt das Gerät, schaut mich aber verständnislos an. »Woher hast du das? Und warum brauchst du meine Telefonnummer? Wir sehen uns doch jeden Tag.«
Ich schüttele den Kopf. »Nicht mehr, Jasmin. Ich werde der Bitte meines Onkels entsprechen und zu ihm ziehen.«