Die nächsten drei Tage verbringe ich im Rausch der Stille. Sobald der Onkel die Wohnung verlassen hat, breitet die Ruhe sich aus wie ein verheißungsvoller Duft, der den Raum erfüllt. Ich genieße das Schweigen. Diese Stille bedeutet nicht die Abwesenheit von Geräuschen, denn von der Straße dringt Verkehrslärm herauf, im Haus macht die Heizung Lärm, die Wasserrohre gurgeln, Türen schlagen. Egal. Ich habe einen Ort, an dem ich ganz für mich sein kann, einen Ort, zu dem niemand Zutritt hat, einen Ort, zu dem ich vor anderen Menschen und ihren Ansprüchen fliehen kann. Fast hatte ich die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder diesen Komfort genießen zu dürfen.
Mein Onkel hat einen Herd gekauft und ein Regal, außerdem Töpfe und Geschirr und so viele Lebensmittel, dass man eine Kleinstadt versorgen könnte. So stehe ich von morgens bis abends in der Küche und bereite all die Köstlichkeiten zu, von denen ich monatelang träumte: mit Reis gefüllte Weinblätter, Pürees aus gerösteten Auberginen und Kichererbsenmus. Ich fülle Kohlblätter, Paprika, Zwiebeln und Zucchini und rühre dazu Joghurtsauce an. Ich backe kleine Fladen und belege sie mit Spinat und Schafskäse. Das Fleisch mariniere ich, damit ich es frisch zubereiten kann, wenn der Onkel zum Nachtmahl nach Hause kommt. Gieße ich heißes Wasser in den Ausguss, murmele ich »Bismillah«, um die Dschinn zu warnen, damit sie sich nicht verbrühen und mir dann zürnen. Diese Vorsichtsmaßnahme beruhigt mich ungemein, denn in der Gemeinschaftsdusche, in der die bösen Geister von Unwissenden nicht vorgewarnt werden, hatte ich immer Angst, zwar nicht Verursacher, wohl aber Opfer ihrer Rache zu werden.
Bei den Süßigkeiten hilft mir Faysal, damit er zwischendurch von der Paste aus gemahlenen Nüssen und Honig probieren kann, sonst treibt er sich draußen herum.
Der Onkel geht derweil seinen Geschäften nach: Er beliefert Menschen aus unserer Heimat mit den Dingen, die ihnen hier fehlen, importiert dafür Waren aus der Türkei, dem Libanon, dem Irak und Nordafrika. Zwei Spezialitäten lässt er sogar exklusiv für sich anbauen: Zucchini, die die Größe eines kleinen Fingers haben, und Löwenzahn, der mit Knoblauch oder Zwiebeln geschmort eins der wichtigsten Gerichte der syrischen Küche ist. Bis vor Kurzem besaß der Onkel einen einzigen Laster, mit dem ein Fahrer die Waren auslieferte. Seit die Flüchtlingsunterkünfte überall aus dem Boden wachsen, ist ein zweiter Lkw dazugekommen, ein weiterer Fahrer, Tausende neuer Kunden, denn in vielen Unterkünften kochen die Leute selbst. Der neue Lkw, gebraucht gekauft wie der erste, ist ein Verkaufswagen. Er liefert Fleisch, Gemüse, Reis, Gewürze und alles andere, was die Lebensmittelgeschäfte in den kleinen Orten, wo die Asylantenheime stehen, nicht führen, zu Preisen, die die Menschen sich leisten können, weil der Reis nicht in winzigen Päckchen verkauft wird wie in Deutschland, sondern in Säcken von fünf Kilo, Zwiebeln nicht unter zehn. Regelmäßig fährt mein Onkel diesen Lkw selbst.
»Persönliche Kontakte sind entscheidend für gute Geschäfte, Madiha. Man muss mit den Kunden genauso sprechen wie mit den Lieferanten. Man muss spüren, wo es ein Problem gibt, und es aus der Welt schaffen, solange es noch klein ist. Ich bekomme das beste Fleisch vom Metzger, das frischeste Gemüse vom Großhändler, die aromatischsten Gewürze vom Importeur, weil ich alle diese Leute persönlich kenne, mit ihnen Tee trinke, mich nach ihren Familien erkundige. Die Deutschen können viel, sind gute Ingenieure, gewissenhafte Buchhalter, unbestechliche Beamte. Aber sie verstehen nichts von persönlichen Beziehungen.«
Einige Stunden am Tag sitzt mein Onkel in seinem Arbeitszimmer, in dem er nun auch schläft, da er Faysal und mir sein Schlafzimmer überlassen hat, aber viel Zeit verbringt er auch bei Momo, der ein paar Straßen weiter ein Café und Restaurant betreibt. Momos Küche ist einfach, nicht zu vergleichen mit den Köstlichkeiten in den ›Drei Zedern‹, aber da seine Gäste ausschließlich Männer aus unserer Heimatregion sind, verwendet er auch Zutaten, die Jean seinen deutschen Kunden niemals zugemutet hätte, wie Hammelfett, Hühner- und Schweinefüße.
Am Abend des dritten Tages werde ich unruhig. Zu lang habe ich nicht einen einzigen Schritt vor die Tür gemacht, nur gekocht, geputzt, gewaschen. Mir macht die Hausarbeit nichts aus, aber die Wände der Wohnung rücken immer näher und drohen mich zu ersticken. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich jemals drei Tage am Stück in einem geschlossenen Raum verbracht habe. Mir fehlt der Himmel, egal, wie grau und niedrig er auch ist.
Als Faysal abends heimkommt, nachdem er sich wieder den Großteil des Tages draußen herumgetrieben hat, bin ich ungehalten und schimpfe ihn aus, weil seine Hose schmutzig ist. Ich weiß, dass es der Neid auf sein Herumstromern ist, der mich unleidlich und gereizt macht, aber ich kann mich einfach nicht beherrschen. Erst der Schmerz in Faysals Augen über die harschen Worte bringt mich zur Besinnung. Ich folge ihm in unser Zimmer, in dem er mit hängendem Kopf auf der Matratze sitzt, und entschuldige mich. Dabei entgeht mir nicht, dass er heimlich etwas unter seiner Bettdecke verschwinden lässt, als ich eintrete.
»Was ist das?«, frage ich streng.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn tatsächlich habe ich keine Ahnung, was der Junge draußen treibt.
»Steh auf«, sage ich und zerre ihn gleichzeitig hoch. Dann schlage ich die Bettdecke zurück. Ein Handy kommt zum Vorschein.
»Hast du das gestohlen?«
Er senkt den Blick und schüttelt den Kopf.
Ich blicke auf das schwarze Haar hinunter und weiß nicht, ob ich wütend oder enttäuscht sein soll. Ich lernte ihn kennen, weil er die Hand in meiner Manteltasche hatte. Was habe ich erwartet? Dass er mit dem Stehlen aufhört, weil er es jetzt nicht mehr nötig hat?
»Bring es zurück«, trage ich ihm auf. »Sofort.«
Schnell wie der Blitz nimmt er das Gerät und flitzt aus der Tür.
Ich lasse mich auf seine Matratze sinken und spüre einen eisernen Ring um meine Brust. Sollte Faysal jemals beim Stehlen erwischt werden, fällt die Tat auf meinen Onkel zurück, der ihm Obdach gewährt. Das darf ich dem mildtätigen Verwandten auf keinen Fall zumuten. Es gibt nur eine Lösung: Der Junge muss verschwinden.
Nach einer schlaflosen Nacht bitte ich meinen Onkel gleich am Morgen, dass er mir einen Tag frei gibt. Ich habe meinen Umzug bisher nicht bei den Behörden gemeldet, bin einfach weggegangen aus der Waldstraße. Ob ich nicht daran gedacht habe nach dem Schock, den mir die Zerstörung der ›Drei Zedern‹ versetzt hat, oder ob ich vielleicht gar nicht offiziell weggehen wollte, ohne vorher zu wissen, was mich bei meinem Onkel erwartet, weiß ich nicht mehr, aber inzwischen ist mir klar, dass ich die Behörden informieren muss. Das ist in diesem Land sehr wichtig. Man darf aus der zugewiesenen Unterkunft nicht einfach ausziehen, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen. Ich muss diese Dinge in Ordnung bringen.
Und ich muss Faysal loswerden.
»Du bist selbstverständlich frei, jederzeit das Haus zu verlassen, Madiha!«, ruft mein Onkel aus, als ich ihm erkläre, dass ich zum Amt muss. »Hast du genug Geld für den Fahrschein?«
Geld! Amelie hat mir erklärt, dass das Geld von der Stadt jeden Monat auf das Konto bei der Sparkasse überwiesen wird. Es müsste also wieder etwas auf dem Konto eingegangen sein. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, immerhin habe ich seit Tagen kein Geld benötigt.
Mein Onkel lacht. »Du kannst das Geld von diesem Konto überall im Land abheben, aber für heute gebe ich dir genug, damit du deine Ausgaben bestreiten kannst.«
Bevor ich gehe, vergewissert er sich, dass das Handy in meiner Gürteltasche steckt und eingeschaltet ist. Dann geht er mit Faysal und mir zum Bahnhof, der nur zehn Minuten entfernt ist, wobei der Onkel jeden Menschen zu kennen scheint, dem wir begegnen. Er bringt uns auf den Bahnsteig, wartet, bis wir im richtigen Zug sitzen, und winkt uns hinterher. Ich schäme mich, ihm nicht von Faysals Diebstahl erzählt zu haben, denn der Haushaltsvorstand sollte alles wissen, was mit den Menschen in seiner Obhut zu tun hat, aber es hätte mir das Herz gebrochen, wenn er Faysal geschlagen hätte, was die angemessene Strafe gewesen wäre. Ich habe dem Onkel nicht einmal erzählt, dass ich heute Abend allein zurückkehren werde.
Sobald Faysals Hand sich in meine schiebt, kämpfe ich mit den Tränen. Der Abschied von dem Jungen wird wieder ein Stück aus meinem Herzen reißen.
Nur wenige Minuten, nachdem der Zug geisterhaft leise losgefahren ist, ertönt ganz in der Nähe ein Geräusch, das ich nicht zuordnen kann. Faysal zerrt an meiner Hand und zeigt auf meinen Bauch. Dann hält er die Hand ans Ohr. Es dauert noch einige Sekunden, bis ich verstehe, was er mir sagen will: Es ist das Telefon in meiner Gürteltasche, das klingelt! So schnell es mir möglich ist, knöpfe ich den Mantel auf, schiebe den Pullover hoch und will die Tasche öffnen, als das Läuten endet. Ich erstarre. Wie ärgerlich! Langsam ziehe ich den Pulloversaum wieder über die Tasche, aber Faysal greift nach meinem Handgelenk und schüttelt den Kopf. Hält wieder die Hand ans Ohr, zeigt auf die Tasche, macht eine Geste, die mich auffordert, ihm das Handy zu geben. Ich hole das Gerät aus der Tasche und reiche es ihm.
Er drückt darauf herum und hält es mir dann hin. Zeigt auf mein Ohr.
»Hallo?«, höre ich eine Stimme aus dem Telefon.
Ich hebe es ans Ohr. »Hallo«, antworte ich. »Hier ist Madiha.«
Es ist Jasmin, die mir so aufgeregt etwas zuflüstert, dass ich kein Wort verstehe.
»Jasmin, beruhige dich!«
»Wie soll ich mich beruhigen, Madiha, es ist ein Wunder! Er lebt!«
Ich höre die Worte, verstehe aber nicht, was sie bedeuten sollen.
»Jean ist hier, Madiha. Er sucht dich. Kannst du kommen?«
Keinen weiteren Gedanken verschwende ich an die Behörden, die meinen neuen Aufenthaltsort nicht kennen, keine Sekunde daran, die Verantwortung für Faysal loszuwerden. Jean lebt! Ich ziehe Faysal hinter mir her, der noch nichts weiß, weil ich sprachlos bin, ihm nichts erklären kann, mich auch nicht traue, Jasmins Worte zu wiederholen aus Angst, dass sie nicht stimmen oder ihren Zauber verlieren, wenn ich sie ausspreche. Jean lebt! Wer auch immer tot ist, verbrannt, es ist nicht er, nicht Jean, der kleine, dicke Mann mit dem watschelnden Gang und den melancholischen Augen, dem warmherzigen Blick, der mein Herz auftaute, mir Zuversicht gab und ein Zuhause. Jean lebt!
Jasmin schlug ein Treffen außerhalb der Unterkunft vor und beschrieb mir den Weg zu einer deutschen Bäckerei ganz in der Nähe der ›Drei Zedern‹. In der Straße, in der das Restaurant stand, gibt es arabische und türkische Geschäfte und Cafés, aber dort wollte Jean nicht gesehen werden. Auf der Hauptstraße hingegen kennt ihn niemand.
Als wir die Bäckerei betreten, sind Jasmin und Jean bereits da. Wir begrüßen einander ausgiebig unter Tränen und Umarmungen, aber endlich sitzen wir an einem der kleinen Tische und bestellen Kaffee, weil der deutsche Tee, der in winzigen Tüten in heißes Wasser gehängt wird, nach nichts schmeckt.
Ich habe tausend Fragen, traue mich aber nicht, eine einzige zu stellen. Stattdessen betrachte ich Jean, obwohl das ungehörig ist: Sein rundes Gesicht ist schmaler geworden, dunkle Ringe liegen unter den Augen, seine Haltung drückt Hoffnungslosigkeit aus.
»Der Kommissar war in der Unterkunft, Madiha«, berichtet mir Jasmin. »Und er war sehr wütend, als er hörte, dass du nicht mehr da bist.«
Ich muss ihm meine neue Adresse mitteilen und meine Telefonnummer.
»Er hat Amelie erzählt, dass das Feuer kein Unfall, sondern Absicht war.«
Der Kommissar hatte also recht, und mein Onkel auch! Aber wer sollte Jean oder Buschra so etwas antun? Und warum?
»Wo ist Buschra?«, flüstere ich, obwohl ich die Antwort kenne.
Jean beginnt zu weinen. Dieser Anblick ist das Grausamste, das ich in den letzten Wochen erlebt habe. Der Mann, der Unheil und Leid überlebt, den Mut nie verloren, sich mit Fleiß und Zuversicht ein gutes Leben aufgebaut hatte und mir Halt und Hoffnung gab, ist nun völlig gebrochen.
»Aber das Schlimmste, Madiha, habe ich noch gar nicht erzählt: Der Kommissar hat Amelie beauftragt, ihn sofort zu informieren, falls sie Jean sieht oder von ihm hört. Der Kommissar hat einen Haftbefehl gegen Jean.«
Ich höre, wie jemand entsetzt nach Luft schnappt, und brauche einen Moment, bis ich begreife, dass ich es bin. Dann versuche ich, einen der unzähligen Gedanken zu fassen, die durch meinen Kopf wirbeln, und wende mich an Jean.
»Wie kommt er auf die Idee, du hättest dein eigenes Restaurant in Brand gesteckt?«
Jean zuckt die Schultern.
»Egal«, sagt Jasmin streng. »Du gehst zur Polizei und sagst ihnen, wo du warst, als der Anschlag verübt wurde.«
»Nein«, entgegnet Jean bestimmt.
»Aber wenn du dich versteckst, wird der Kommissar erst recht glauben, dass du es warst«, sage ich.
Jasmin nickt nachdrücklich.
»Wo ich war, geht niemanden etwas an.«
Der Kaffee wird gebracht, außerdem eine Cola für Faysal, der den Würfel vor sich auf den Tisch gestellt hat, ihn aber nicht anrührt.
Eine Weile starren wir alle schweigend auf die Getränke. Ich verstehe den Kommissar nicht, denn aus welchem Grund sollte Jean sein eigenes Restaurant zerstören und seine Tochter töten? Ich verstehe Jeans Weigerung nicht, dem Kommissar seinen Aufenthaltsort zu nennen. Und ich habe keine Ahnung, was nun weiter passieren wird.
»Was wirst du jetzt tun?«, frage ich Jean.
Er greift nach meinem Oberarm und umfasst ihn so fest, dass es wehtut.
Erschrocken schaue ich ihm ins Gesicht.
»Es ist deine Schuld, Madiha. Oder glaubst du, dass das ein Zufall ist? Du hast Fragen gestellt nach diesem Mann, der bei den Teufeln gekämpft hat. In deinem Zimmer landete das Feuer, nachdem du sein Eigentum an dich genommen hattest. Du wurdest verfolgt. Ich habe dir geholfen, habe dich aufgenommen wie eine Verwandte, habe dir die Briefe aus der Hölle vorgelesen, dir erklärt, wie du seine Schwester findest, die nun auch tot ist. Du bringst Unheil, Madiha. Nun mach es wieder gut!«
Ich weiche zurück, während er spricht, so weit es mir möglich ist, denn er hält meinen Oberarm weiterhin fest.
Faysal ist neben mir aufgesprungen und umklammert mit beiden Händen Jeans Handgelenk, um den stahlharten Griff zu lockern, aber Jeans Finger sind wie die Eisenzähne einer Kaninchenfalle. Jasmin erholt sich von ihrem Schock und legt Jean ihre Hand auf den Arm. Das Lodern in seinem Blick erlischt, er lässt meinen Arm los und sinkt in sich zusammen.
»Ich meine es ernst, Madiha. Das Unglück kam mit dir, auch wenn du selbst das Feuer nicht gelegt, sondern nur zu viele Fragen gestellt hast. Aber den wirklichen Schuldigen werde ich finden und zur Rechenschaft ziehen. Und du wirst mir dabei helfen.«