Jean will mir nicht sagen, wohin er geht, ebenso wenig wie er darüber spricht, wo er war, als der Brand gelegt wurde. Sein mangelndes Vertrauen brennt wie Salz in der Wunde, die er mit seinen Worten gerissen hat, und türmt sich auf die Schuldgefühle, die ich selbst habe. Wie hätte ich ahnen können, dass meine Suche nach Harun mich selbst und andere Menschen in Gefahr bringt? Hätte ich auch nur den leisesten Verdacht gehabt, hätte ich nichts unternommen. Ich bin keine Heldin, bin nicht mutig, will nichts als ein Leben in Ruhe und Frieden. Was würde ich darum geben, die schrecklichen Ereignisse ungeschehen machen zu können. Aber das ist unmöglich. Auch jetzt einfach die Augen zu verschließen und mich in der Wohnung meines Onkels zu verkriechen ist ausgeschlossen. Nachdem ich so viel Leid verursacht habe, ist es meine Pflicht, den Schaden wenigstens zu begrenzen. Ich muss Jean helfen, die Verantwortlichen für Buschras Tod zu finden, auch wenn ich seine Weigerung, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, nicht richtig finde. Aber wer bin ich, dass ich über sein Vorgehen richte? Die Ausweglosigkeit meiner Situation ist umso erschreckender, als ich mir eingestehen muss, dass ich mich selbst in diese Lage gebracht habe.
Faysal, Jasmin und ich fahren zur Unterkunft, damit ich mit Amelie über meinen Umzug reden kann. Der Bus ist so voll, dass Faysal stehen muss. Er zieht seinen Würfel aus der Jackentasche und wendet seine ganze Aufmerksamkeit dem Ding in seinen Händen zu. Blicklos starre ich mal aus dem Fenster, dann wieder auf Faysal. Er ist immer noch hoch konzentriert, so habe ich Gelegenheit, sein Gesicht zu betrachten. Es ist schon runder geworden in den letzten Tagen, das viele Essen hat ihm gutgetan. Wie wird es ihm ergehen, wenn er wieder auf sich gestellt ist? Wird er wieder auf der Straße landen? Wieder abmagern? Oder findet er eine Familie, die sich seiner annimmt? Erst als wir aufstehen, um auszusteigen, bemerke ich, dass das typische knackende Geräusch zuletzt fehlte, das normalerweise Faysals Beschäftigung mit dem Würfel begleitet. Stattdessen macht er Jasmin darauf aufmerksam, dass ihr das Handy aus der Tasche gerutscht ist. Unsere Blicke kreuzen sich kurz, er blickt schnell wieder weg. Wenn es stimmt, was ich vermute, begreife ich nicht, was interessant daran ist, die Telefonnummern anderer Leute in ihren Handys anzuschauen.
»So einfach geht das nicht«, sagt Amelie. »Dafür musst du einen Antrag stellen. Und ich bezweifle, dass der genehmigt wird, es sei denn, dein Onkel garantiert, dass er für deinen Lebensunterhalt aufkommt. Dann kannst du zwar wohnen, wo du möchtest, bekommst aber kein Geld mehr vom Staat. Ansonsten musst du dich an die Zuweisung halten, und die hat dich eben hierhergeführt und nicht nach Düsseldorf.«
Das Wort ›Zuweisungsschlüssel‹ haben alle, die Verwandte oder Nachbarn in Deutschland haben, als eins der ersten gelernt. Der Schlüssel verteilt die Menschen in die verschiedenen Regionen und Städte. Er ist heilig. So gibt es in der Waldstraße eine junge Frau, deren Eltern und drei Geschwister vierhundert Kilometer entfernt in einer Wohnung leben. Sie würde gern zu ihrer Familie ziehen, darf aber nicht wegen des Schlüssels. Von solchen Beispielen könnte ich etliche nennen, denn ich habe immer dieselben Gespräche gedolmetscht und dabei gedacht, dass mir das nicht passieren kann. Mich zog es nirgendwohin, mir war dieser Ort so recht wie jeder andere. Das hat sich nun geändert.
Amelie füllt die Formulare aus, zumindest so weit es uns möglich ist. Alle persönlichen Daten des Onkels fehlen. Ich werde die Papiere mitnehmen und ihn bitten müssen, seinen vollständigen Namen, das Geburtsdatum, alle möglichen anderen Angaben nachzutragen, wobei ich nicht sicher bin, ob er Deutsch lesen und schreiben kann.
Mit den Papieren in der Tasche und Faysal an der Hand will ich mich auf den Weg zum Jugendamt machen, um Faysal ein für alle Mal den Behörden zu übergeben, aber so weit komme ich nicht. In der Tür begegnet mir Kommissar Brocker. Er führt mich zu dem Tisch zurück, an dem ich mit Amelie saß, und wartet, bis wir allein sind.
»Ich suche Jean Malik, Frau Hammada. Haben Sie eine Idee, wo ich ihn finden kann?«
Erleichtert, dass ich diese Frage wahrheitsgemäß beantworten kann, schüttele ich den Kopf.
»Haben Sie ihn gesehen oder mit ihm gesprochen, seit das Restaurant abgebrannt ist?«
Ich bin das Lügen nicht gewöhnt. Woher auch? Meinen Vater musste ich nie belügen, denn er fragte nicht viel, und ich hatte keine Geheimnisse. Da ich nie verheiratet war, musste ich keinem Ehemann die Wahrheit vorenthalten, was wohl, wenn ich meinen Nachbarinnen Glauben schenken kann, die häufigste Art der Lüge ist. Habe ich dem Kommissar bisher Informationen vorenthalten, geschah das meist aus Unsicherheit. Jetzt aber muss ich mich entscheiden: Wahrheit oder Lüge? Ich spüre Hitze in meine Wangen steigen und den Mund trocken werden, als ich wieder den Kopf schüttele.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie den Blick von der uninteressanten Tischplatte heben und mir in die Augen sehen würden.«
Widerwillig schaue ich den Kommissar an. Er sieht erschöpft aus.
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie ihn nicht getroffen und nichts von ihm gehört haben?«
Ich denke an Jeans Verzweiflung angesichts des Feuers und Buschras Tod. An die lächerliche Vorstellung, er selbst hätte sein Restaurant angezündet. Ich denke daran, dass man der Polizei nicht trauen darf, weil sie sehr schnell einen Schuldigen zur Hand hat, das ist, wie man gerade in dieser Situation sieht, hier offenbar ebenso wahr wie in meiner Heimat. Ich denke an Buschra, deren Tod Jean rächen will. Denke an Harun, dessen Schicksal die Polizei bisher ebenso wenig geklärt hat wie die Frage, wer den Brandsatz in mein Zimmer geworfen hat. Ich denke darüber nach, wem ich Loyalität schulde, schaue dem Kommissar in die Augen und sage: »Ja, ich bin sicher.«
»Der Täter trug vermutlich dieses Schmuckstück. Haben Sie das schon einmal gesehen?«
Der Kommissar zieht ein Foto aus der Jacke, auf dem ich zunächst nicht viel erkennen kann. Dann stockt mir der Atem, ich beuge mich vor, nehme das Foto hoch und halte es ins Licht.
»Frau Hammada?«
Tränen schießen mir in die Augen, als ich auf der schwarz verfärbten, ungefähr fünf Zentimeter großen Silberplatte die beiden ineinander verschlungenen Linien erkenne.
»Harun trug so ein Armband am linken Handgelenk. Es hatte ein Lederband …« Meine Stimme versagt, als ich mir vorstelle, wie Harun, der mein Leben rettete, das Feuer legte, in dem Buschra starb.
Der Kommissar greift nach dem Foto und betrachtet es selbst mit zusammengekniffenen Augen. »Woran erkennen Sie das?«
»An den verschlungenen Linien. Harun sagte, es sei ein berühmtes Labyrinth. Man sieht die Linien kaum, aber wenn man weiß, dass sie da sind …«
Er steckt das Foto wieder ein. »Ich möchte, dass Sie für mich jederzeit erreichbar sind. Wenn Sie die Unterkunft verlassen, sagen Sie Ihrer Betreuerin Frau Lenders Bescheid.«
Sein Blick geht zur Tür, wo Amelie steht und uns beobachtet. Ihr zufriedener Gesichtsausdruck lässt mich vermuten, dass sie den Kommissar angerufen hat, sobald ich die Unterkunft betreten habe. Vielleicht hat sie so lange zum Ausfüllen des Formulars gebraucht, damit der Kommissar genügend Zeit hatte, herzukommen, während sie es sonst immer eilig hat.
Ich erkläre ihm in sparsamen Worten, dass ich jetzt bei meinem Onkel wohne.
»Ich dachte, Sie hätten keine Verwandten.«
»Das dachte ich auch.«
»Geben Sie mir seinen Namen, die Adresse und eine Telefonnummer, über die ich Sie erreichen kann.«
Ich gebe ihm Namen und Adresse meines Onkels, erkläre aber, dass ich noch keine Genehmigung habe, die Unterkunft an der Waldstraße zu verlassen.
Er winkt ab. »Die bekommen Sie. Berlin ist gerade dabei, die Regeln zu ändern, damit so viele Flüchtlinge wie möglich aus den Sammelunterkünften rauskommen. Das ist im Grunde nur noch eine Formsache. Wichtig ist, dass ich Ihre Telefonnummer bekomme, dann ist mir auch egal, wo Sie wohnen.«
Ich kenne meine Telefonnummer immer noch nicht. Faysal, der die ganze Zeit neben mir stand, berührt mich sanft an der Schulter und macht das Zeichen für das Telefon. Ich gebe es ihm, er tippt und wischt so flink, dass mir schwindelig wird, dann schaut er den Kommissar auffordernd an. Es dauert eine Weile, bis der versteht, dass Faysal seine Handynummer will. Der Junge nimmt die Karte, die der Kommissar ihm reicht, tippt die Nummer ein und nickt zufrieden, als das Telefon des Kommissars läutet.
Der zwinkert dem Jungen freundlich zu. »Clever, Ihr Assistent«, sagt er zu mir.
Ich nicke langsam. Ich halte Faysal immer noch für einen Dieb, der zwar liebenswert ist, wegen seiner Stehlerei jedoch Ärger bedeutet, und zwar für mich ebenso wie für meinen Onkel, in dessen Haus ich den Jungen gebracht habe. Trotzdem haben die Worte des Kommissars ihm gerade einen Aufschub verschafft. Angesichts dessen, was Jean von mir verlangt, werden mir Faysals Kenntnisse sicher noch nützlich sein.
Jean hat mir, bevor er sich aus der Bäckerei verabschiedete, eine Aufgabe übertragen, der ich mich nun zuwende. Da er selbst nicht gesehen werden will, damit niemand ihn bei der Polizei meldet, soll ich die Nachbarn des Restaurants fragen, ob ihnen in der Nacht, in der der Brand in seinem Restaurant ausbrach, jemand oder etwas aufgefallen ist. Natürlich hat die Polizei diese Fragen auch schon gestellt, aber viele der Nachbarn sprechen lieber mit einer arabischen Frau als einem deutschen Polizisten. Das behauptet zumindest Jean.
Mit einem schon fast körperlichen Widerwillen gegen die Heimlichkeit gegenüber der Polizei und einer Angst, die mich kurzatmig und zittrig werden lässt, mache ich mich auf den Weg. Dass der Junge mich begleitet, beruhigt mich nur wenig. Zwar glaube ich nicht, dass er mich gegen einen eventuellen Angreifer verteidigen könnte, aber sollte mir jemand etwas antun wollen, gäbe es zumindest einen Zeugen.
Zuerst solle ich zum Gemüseladen schräg gegenüber der ›Drei Zedern‹ gehen, sagte Jean. Die alte Frau, die den Laden führt, sei die Nachrichtenzentrale der Nachbarschaft. Ich ermahne Faysal, nichts zu stehlen: kein Obst aus den Kisten, kein Bonbon und schon gar kein Handy aus den Taschen der Kunden. Nichts. Sein Blick ist halb schuldbewusst, halb entrüstet über die Unterstellung, ein Dieb zu sein, aber ich weiß, dass er einer ist, und er weiß, dass ich es weiß.
Eine Glocke bimmelt, als wir den Laden betreten. Gleich vorn am Fenster neben der Tür ist die Kasse so aufgebaut, dass die Frau, die dahintersitzt, einen guten Ausblick auf die Straße hat. Sie heißt Aisha, wie ich von Jean weiß, ist unglaublich dick und hat einen dichten schwarzen Bart zwischen Nase und Mund. Ihre Kleidung ist schwarz und schmucklos, der Hidjab nachlässig umgelegt, so dass ich graues Haar an den Schläfen erkennen kann. Aisha sei Witwe, hat Jean mir anvertraut, und habe ein Auge auf ihn geworfen. Deshalb habe sie ihren Blick immer wieder zu den ›Drei Zedern‹ schweifen lassen. Da sie aus Marokko kommt und kein Wort Deutsch spricht, werden wir uns auf Arabisch verständigen müssen. Ich hoffe nur, dass ich ihren Dialekt verstehe, aber wenn Jean mit seinem libanesischen Arabisch sie versteht, müsste mir das auch gelingen.
Ich wünsche ihr einen guten Tag und wende mich dem Gemüse zu. Es ist von guter Qualität, ich wähle einen Granatapfel und mehrere Zitronen, während ich immer wieder nervös zu der alten Frau hinüberschiele. Aisha sieht nicht von den Pistazien hoch, die sie mit gleichmäßigen, sparsamen Bewegungen pult und in den Mund steckt. Bei jedem Schritt knacken die Schalen unter unseren Füßen.
Noch habe ich nicht genug Mut gesammelt, um sie anzusprechen, daher nehme ich auch noch ein Bund Petersilie.
»Ich habe dich hier schon gesehen«, sagt sie plötzlich. »Gegenüber im Restaurant.« Ihre Stimme ist tief und heiser, die Aussprache verwaschen, so als habe sie mehr Lücken als Zähne im Mund. Immerhin kann ich sie verstehen. Nicht nur darüber bin ich erleichtert, auch ihre Neugierde ist hilfreich. Wer weiß, ob ich wirklich die Kühnheit aufgebracht hätte, ihr meine Fragen zu stellen.
»Ich habe Buschra in der Küche geholfen.«
»Buschra ist eine fleißige Frau.«
»Ja.«
»Noch nie hat sie Hilfe in der Küche gebraucht.«
»Nicht sie brauchte Hilfe, sondern ich. Ich war dankbar, dass ich etwas zu tun hatte.«
»Du bist neu im Land.«
Ich nicke. Faysal hat sich, wie verabredet, in den Hintergrund verzogen. Er lehnt an einem Regal und spielt mit seinem Würfel.
»Wann ist das mit dem Restaurant passiert?«
Die Pistazie verharrt auf halbem Weg zum Mund. »Vor fünf Tagen. Es ist schrecklich. Der Nachbar hat gehört, dass Buschra im Feuer umgekommen ist.« Sie steckt die Pistazie zwischen die Lippen. Ihre Schneidezähne fehlen, aber zumindest auf der rechten Seite sind genügend Backenzähne da, die die Kerne zermalmen. Der aromatische Duft erfüllt den ganzen Laden.
»Aber wie konnte das passieren?«, frage ich. »Sie hat einen Feuerlöscher in der Küche!«
Die dicke Frau erhebt sich und beugt sich über die Kasse. »Die Polizei glaubt, dass jemand das Feuer gelegt hat.«
»Warum sollte jemand so etwas tun?«
Als hätte sie bereits zu viel gesagt, zuckt sie mit den Schultern und wendet sich wieder den Pistazien zu. Das Aroma hat mir Appetit gemacht. Ich schaue mich im Laden um, bis ich das richtige Regal finde, und lege eine Tüte in meinen Korb.
Für den Fall, dass sie sich ziert, solle ich etwas Negatives über Jean sagen, hat er mir geraten. Ein Beispiel gab er mir nicht, und so stehe ich zwischen dem Gemüse und versuche mir vorzustellen, welche Untat ich ihm unterstellen könnte. Mir fällt nichts ein, daher gehe ich noch eine Runde durch das Geschäft, unterdrücke ein Seufzen und greife nach einer weiteren Zitrone. Ich eigne mich nicht für diese Arbeit. Jasmin, ja, die hätte ihren Spaß bei diesem Gespräch. Ihre Worte sind leichtfüßig und flink wie Eichhörnchen, die die gewünschten Antworten wie Nüsse vom Baum stehlen. Meine Sprache dagegen ist schwerfällig wie ein alter Hund, der sich mühsam auf drei Beinen herumschleppt und nur die Reste zu fressen bekommt, die ihm jemand vor die Schnauze wirft. Verlegen schaue ich auf die wenigen Einkäufe in meinem Korb und will schon aufgeben, als mir einfällt, dass Aisha eine Schwäche für Jean hat. Es ist grausam, ihr damit eine Falle zu stellen, und ich denke noch einmal verzweifelt über eine andere Lösung nach, finde aber keine.
»Vielleicht hat Jean der Frau eines anderen Mannes schöne Augen gemacht.«
Aisha wuchtet sich von ihrem Stuhl hoch und funkelt mich an. »Jean ist ein Mann, der weiß, was sich gehört! Was bist du für ein undankbares Weib, das Gehässigkeiten über den Mann in die Welt setzt, der dir Arbeit gegeben hat!«
Zwar habe ich nun eine Antwort, aber Aisha wird mir nichts weiter sagen, weil sie böse auf mich ist. Meine Idee war also genau die falsche. Warum habe ich diese Reaktion nicht vorhergesehen? Ich senke den Kopf und stelle meinen Korb auf die Ablage vor der Kasse, um meine Einkäufe zu bezahlen und dann so schnell wie möglich den Laden zu verlassen, aber Aisha ist noch nicht fertig mit mir.
»Ich weiß nicht, seit wann Jean das Restaurant hat, er war vor mir da und hat niemals, nicht ein einziges Mal einen Streit mit irgendjemandem gehabt. Er ist ein guter Mensch, der sogar Armen zu essen gegeben hat, ohne dafür Geld zu nehmen. Nein, es war keine persönliche Sache, das sagen alle Nachbarn, sogar die Männer, die wissen, dass ihre Frauen ihn sehr schätzen, denn er kann charmant sein, oh ja, das kann er, im Gegensatz zu vielen Ehemännern. Nein, es war kein Streit in der Nachbarschaft, und es war kein eifersüchtiger Ehemann. Es war jemand, der nicht hierhergehört. Ein Fremder. Niemand weiß, wer er ist oder woher er kam. Damaris hat ihn gesehen in der Nacht, weil sie nicht schlafen kann und dann stundenlang am Fenster steht und hinausblickt und an ihren Sohn denkt, der jetzt in Amerika lebt und den sie vermisst, aber ihr Mann will nicht fliegen, und deshalb sieht sie ihn nur einmal im Jahr, wenn er hierherkommt, um seine alte Mutter zu besuchen.«
Ich habe mich immer mehr geduckt, während Aisha immer lauter wurde und ihre Aussprache immer nasser, so dass ich jetzt ihren Speichel im Gesicht spüre, auf den Wangen, die glühen, weil ich aufgeregt bin und ungläubig und fast ein wenig stolz, dass ich eine Antwort bekommen habe, von der ich kaum zu träumen wagte.
»Hat sie das der Polizei gesagt?«, frage ich leise.
Aisha starrt mich mit funkelnden Augen an, beginnt dann plötzlich zu lachen und lässt sich wieder auf ihren Stuhl fallen, der unter ihrem Gewicht ächzt. »Natürlich nicht. Ihr Mann hat den Polizisten weggeschickt. Er ist gar nicht auf die Idee gekommen, dass seine Frau mehr weiß als er.«
»Sie hat ihm nichts davon erzählt?«
Aisha winkt ab. »Kindchen, du warst noch nie verheiratet, habe ich recht?«
Als wir aus Aishas Geschäft herauskommen, ist es viel zu spät, um noch zu der alten Frau zu gehen, die den Brandstifter gesehen hat. Stattdessen bitte ich Faysal, die Nummer anzurufen, die Jean mir gegeben hat.
Dann berichte ich Jean von dem Gespräch mit der Gemüsehändlerin.
»Hat sie sich nach mir erkundigt?« Seine Stimme ist traurig und leise.
»Ja. Aber ich habe mich an deine Anweisung gehalten und ihr nicht gesagt, dass du lebst.«
»Gut.«
»Sie wusste es trotzdem«, flüstere ich. »Als ich das Geschäft verließ, trug sie mir Grüße an dich auf.«
Ein seltsames Geräusch dringt aus dem Hörer. Ein Lachen? Schluchzen? »Sie ist schlauer, als sie aussieht.«
»Ich muss jetzt nach Hause fahren, aber sobald ich kann, werde ich die andere Frau fragen, was sie in der Nacht beobachtet hat.«
»Pass auf dich auf, Madiha«, sagt Jean eindringlich.
Die kalten Finger der Angst, die meine eitle Befriedigung über das Ergebnis der Befragung erfolgreich abgewehrt hatte, greifen wieder nach mir. Bevor ich Jean fragen kann, wo er sich befindet und ob er etwas gegessen hat, ist die Leitung tot.