21

Auf der Straße will ich Jean anrufen und fordere Faysal auf, mir das Handy zu geben, aber er schüttelt den Kopf.

»Faysal, ich mache keinen Spaß.«

Sein Blick ist halb verzweifelt, halb trotzig, als er die Arme vor der Brust verschränkt und – noch entschiedener als zuvor – den Kopf erneut schüttelt.

»Faysal …«

Er greift nach meiner Hand und zieht mich den Weg zurück, den wir gekommen sind. Ich folge ihm unwillig, weil ich Jean so schnell wie möglich informieren möchte, aber schließlich hinke ich hinter ihm her.

Faysal schlägt nicht den Weg zum Bahnhof ein, sondern zieht mich in eine andere Richtung.

»Das ist der falsche Weg!«, sage ich. »Wir müssen zu unserem Zug nach Düsseldorf.«

Faysal verschränkt bockig die Arme vor der Brust und verstellt mir den Weg. Ich werde wütend, er weicht meiner Hand aus, die ihn am Schlafittchen packen will.

»Wir sind sehr spät dran«, erkläre ich, obwohl ich mir sicher bin, dass er das weiß. Warum also macht er plötzlich dieses Theater? Ich bin ungehalten. Wir haben bereits zwei Stunden vertan mit diesem Gespräch, das am Ende nichts gebracht hat. Weder wusste die Nachbarin den Fahrer des Autos zu beschreiben, noch konnte sie mir dabei helfen, herauszufinden, ob es Harun war. Es sei dunkel gewesen, sie habe ihn nur von oben gesehen, das Haar war schwarz, vielleicht lockig oder auch nicht, alle anderen Farben ungewiss. Wie groß, wie alt … ungeklärt. Nun drängt die Zeit. Wenn wir jetzt schnell nach Hause kommen, kann ich meinem Onkel vielleicht erzählen, es habe eben lang gedauert auf dem Amt. Aber je mehr Zeit vergeht …

All das erkläre ich Faysal, aber er lässt sich nicht dazu bringen, mir zum Bahnhof zu folgen. Stattdessen läuft er ein paar Schritte vor, dreht sich zu mir um und wartet. Als ich keine Anstalten mache, mit ihm zu gehen, zuckt er die Achseln und geht allein weiter. Ich werde nicht schlau aus dem Jungen, verstehe nicht, wohin er will, warum er sich mir widersetzt. Soll ich allein nach Hause fahren? Aber was ist dann mit dem Handy? Mein Onkel wird toben, wenn ich ohne das Gerät heimkehre. So schnell ich kann, eile ich hinter Faysal her, nicht ohne ihn für seine Frechheit zu verwünschen.

Außer Atem und nass geschwitzt komme ich beim Jugendamt an. Mein Bein schmerzt, und meine Wut ist inzwischen so groß, dass ich mich beherrschen muss, um den Jungen, der mich auf den Stufen des Gebäudes erwartet, nicht zu schlagen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen weiß er genau, wie knapp er dieser Züchtigung entgeht. Sobald ich in Reichweite bin, holt er das Handy aus der Tasche, tippt darauf herum und hält es mir mit demütiger Miene hin. Was soll das jetzt? Vor Überraschung starre ich ihn wortlos an. Erst, als er mir das Telefon mit noch mehr Nachdruck entgegenstreckt, greife ich danach, gebe es ihm aber gleich wieder zurück.

»Ruf Jean an.«

Seine flinken Finger wischen und tippen und reichen mir das Telefon.

Endlich höre ich Jeans Stimme. Ich berichte ihm, was ich erfahren habe, und spüre seine Enttäuschung, als er fragt, ob das alles sei.

»Es tut mir leid. Ich muss zurück zu meinem Onkel, er wird böse sein, weil ich so spät komme. Ich wüsste auch nicht, was ich jetzt noch tun könnte.«

Ich will das Gerät in meine Gürteltasche stecken, aber mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und ohne dass ich seinen vorschnellenden Arm hätte sehen können, nimmt Faysal es mir aus der Hand und wischt darauf herum. Meine rechte Hand schlägt in einem Reflex zu, aber noch während der Bewegung wird sie mir bewusst, und ich nehme allen Schwung heraus. So bekommt der Junge keinen wohlverdienten Klaps, sondern fast eine Streicheleinheit. Wir starren einander kurz verwirrt an, bevor ich ihm das Telefon aus der Hand nehme, in meine Gürteltasche stecke und so schnell ich kann den Weg zurück zum Bahnhof gehe, wo ich mit starrem Blick auf den Zug warte und einsteige, ohne Faysal ein einziges Mal anzusehen.

Wir haben Glück, finden zwei gegenüberliegende Plätze am Fenster und lassen uns in die Polster sinken. Dem Jungen ist keine Anstrengung anzumerken, aber ich bin erschöpft.

Eine Weile strafe ich ihn noch mit Missachtung, dann hole ich das Handy aus der Tasche und bitte Faysal, mir zu zeigen, wie man damit telefoniert. Ich kann sehen, wie er mit sich ringt, aber nach einem Augenblick der Überlegung schüttelt er den Kopf. Dann zeigt er mit einem unsicheren Lächeln auf seine Brust.

Ich seufze in gespieltem Zweifel. »Du bist mir ein schöner Helfer. Ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast, mich den ganzen Weg wieder zurück zum Amt zu jagen.«

Faysal überlegt, dann tupft er sich mehrmals mit dem Zeigefinger unter das linke Auge. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, dass er auf die Stelle deutet, an der mein Onkel ein leuchtend rotes Muttermal hat.

»Du meinst meinen Onkel?«

Faysal nickt grinsend. Wieder geht der Zeigefinger unter das Auge, dann spreizt er Zeigefinger und Mittelfinger und deutet damit erst auf seine Augen, dann auf das Handy.

Dieses Mal muss ich länger überlegen, um auf die richtige Lösung zu kommen: »Mein Onkel kann das Handy sehen.«

Faysal nickt zwar, aber ich habe den Sinn dieser Erklärung noch nicht verstanden.

»Was bedeutet das?«

Natürlich bekomme ich keine Antwort, ich muss die Frage anders stellen. »Kann er hören, was ich mit anderen Leuten an diesem Telefon bespreche?«

Faysal zeigt auf die Ohren und schüttelt den Kopf. Also nicht hören.

Ich erinnere mich daran, dass diese Geräte Fotos und Filme machen können. »Kann er mich durch das Handy sehen?«

Kopfschütteln. Faysal zeigt auf den Boden und macht dann einen Kreis in der Luft.

»Er kann sehen, wo das Handy sich befindet. Mit einer Tracking-App«, sagt eine junge Frau, die auf der anderen Seite des Ganges sitzt.

Ich starre sie überrascht an. Sie hat blondes Haar, spricht aber Arabisch mit uns.

Faysal schaut kurz zu ihr herüber und grinst sie an, dann wird sein Blick wachsam, als er in meinen Augen nach einer Reaktion sucht.

Es dauert wieder eine ganze Weile, bis ich zumindest einen Teil dessen verstehe, was die Frau gesagt hat. »Mein Onkel weiß, wo dieses Telefon sich befindet?«

Faysal nickt.

»Jetzt?«

Er nickt wieder.

»Und als ich bei der Nachbarin war?«

Er schüttelt entschieden den Kopf.

»Wenn das Handy ausgeschaltet ist, funktioniert es nicht«, sagt die junge Frau. Sie steht auf, kommt herüber und setzt sich neben Faysal. Ihre Augen sind fast schwarz, ihre Haare gefärbt, wie ich aus der Nähe erkenne. »Es ist nicht erlaubt, einem fremden Handy nachzuspionieren«, sagt die Frau leise. »Aber wer hält sich schon daran? Denk daran, das Gerät auszuschalten, wenn du deinen Standort nicht verraten willst, Schwester. Auch in diesem Land gibt es Freiheit nur für die, die darum kämpfen.«

Während ich noch versuche, ihr blondes Haar und ihre elegante Geschäftskleidung mit ihrer arabischen Herkunft in Einklang zu bringen, verstehe ich plötzlich, warum der Onkel am Tag zuvor nachfragte, wo ich noch gewesen sei. Er fragte, obwohl er die Antwort schon kannte, obwohl er wusste, dass ich in der Straße bei den ›Drei Zedern‹ gewesen war. Ich bin erleichtert darüber, dass ich mir keine falsche Geschichte zurechtgelegt hatte, bin erleichtert über meine Unfähigkeit, spontan eine Ausrede zu erfinden. Hätte ich mir eine falsche Antwort ausgedacht, hätte der Onkel mich sofort der Lüge überführt.

»Aber warum tut er das?«, murmele ich erschüttert.

»Sie wollen dich beschützen, aber sie verstehen nicht, dass Kontrolle nicht gleich Schutz bedeutet und dass die Freiheit manches Risiko wert ist.« Der Zug wird langsamer, die junge Frau steht auf. »Nur Mut, Schwester!«

Gedankenfetzen wirbeln wie Schneeflocken durcheinander. Mein Onkel meint es gut mit mir, aber noch nie hat jemand meine Schritte kontrolliert, und so soll es auch bleiben. Neben dem Lesen und Schreiben fehlen mir noch ganz andere Fähigkeiten, die offenbar jeder andere in diesem Land beherrscht, sogar ein kleiner, stummer Junge ohne Angehörige. Freiheit, Kontrolle, Schutz, Risiko – entscheide ich mich für das eine, entscheide ich mich gegen das andere. Oder bin gar nicht ich diejenige, die die Entscheidung trifft?

Alles, was ich kann, was mir daheim selbstverständlich erschien, was mir Selbstvertrauen gab, ist hier wertlos. Wem nützt mein Zeichentalent? Wem mein Wissen um den Anbau von Gemüse und Oliven, um die Haltung von Kleinvieh, die Herstellung von Ziegenkäse? Was nützen meine Fertigkeiten in einem Land, in dem die Felder so groß sind, dass sie nur noch von Maschinen bearbeitet werden können, und kein Mensch eigenes Vieh im Hof hält? Wie passe ich in diese Welt? In welche überhaupt? In die meines Onkels, der mich kontrollieren und beschützen will? Oder in die von Jasmin, die nach Freiheit strebt? Und die blondierte Araberin, lebt sie in einer dritten Welt oder zwischen den anderen? Lebt oder kämpft sie? Oder ist das das Gleiche? Ich weiß es nicht.

Verwirrt und traurig kann ich nur hoffen, dass der Onkel meiner Geschichte von der langen Wartezeit auf dem Amt Glauben schenkt. Die Chancen stehen gut, denn wenn er tatsächlich über irgendeinen Weg verfolgen kann, wo sich das Telefon befindet, wenn es angeschaltet ist, dann hat er es nur auf dem Weg zum Jugendamt, dort und auf dem Rückweg gesehen. Der Ausflug zur Nachbarin der ›Drei Zedern‹ müsste ihm dank Faysals Tricks verborgen geblieben sein.

 

»Oh ja, die deutschen Behörden!«, sagt der Onkel einige Stunden später und lehnt sich gesättigt und zufrieden zurück. »Und dann war es noch nicht einmal deine Mutter, die dort nach ihrem Sohn suchte. Es tut mir leid, mein Junge.«

Faysal, der, wie es sich gehört, sofort zu essen aufhört, als der Onkel satt ist, neigt den Kopf.

Der Junge hatte meinen Blick gemieden, als der Onkel mich vor dem Essen um mein Handy bat, um zu sehen, ob der Akku noch ausreichend aufgeladen war. Ich gab es ihm mit einem Gefühl leichter Anspannung, unsicher, ob er wirklich nur nach dem Akkustand schauen wollte. In dem Moment, in dem mir einfiel, dass es sicher auch eine Taste für die Wahlwiederholung gab, die unser Telefon daheim gehabt hatte, bekam ich einen Schreck. Er würde sehen, dass ich mit Jean telefoniert hatte. Was sollte ich ihm über den Inhalt des Gesprächs sagen, wenn er sich danach erkundigte? Wieder klebten meine Gedanken an der Frage, anstatt sich in die Luft zu erheben und nach einer Antwort zu suchen, aber er hatte nicht gefragt, sondern mir das Telefon wiedergegeben und den Wohlgeruch des Eintopfes gelobt, der ihm schon das Wasser im Munde zusammenlaufen lasse. Dann ging er sich waschen.

Ich war mit Faysal in der Küche zurückgeblieben. Sein Blick suchte meinen. War da ein Zwinkern in seinem Augenwinkel? Hatte Faysal, der sich offenbar nicht nur mit Handys gut auskannte, sondern auch weit vorausdachte, einen Weg gefunden, meinen Anruf bei Jean zu verbergen?

Interessiert hatte der Onkel meiner Schilderung des Besuchs beim Jugendamt zugehört und dann Faysal bedauert. Jetzt sitze ich hier mit einem schlechten Gewissen. Hätte der Onkel mit mir geschimpft, wäre mir wohler gewesen. Er sorgt sich um meine Sicherheit, das ist nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht als Familienoberhaupt. Und ich hintergehe und belüge ihn absichtlich. Aber wie sonst sollte ich allen gerecht werden?, frage ich mich. Schließlich bin ich auch Jean verpflichtet, einem wildfremden Mann – eine Situation, in die keine Frau kommen sollte. Die Familie geht vor, immer, absolut. Allerdings hatte ich zu dem Zeitpunkt, als ich Jeans Freundlichkeiten annahm, keine Familie. Eine vertrackte Situation, die jedoch bald enden wird. Ich habe mein Bestes getan, um Jean zu helfen, meine Schuld ihm gegenüber abzutragen, meiner Pflicht gerecht zu werden. Ich bin gescheitert und kann nur noch hoffen, dass die Polizei die Schuldigen des tödlichen Anschlags findet.

 

Den nächsten Tag verbringe ich damit, die Wohnung zu putzen einschließlich der Fenster. Nur das Arbeitszimmer meines Onkels kann ich nicht saubermachen, weil die Tür verschlossen ist. Stattdessen gebe ich mir mit dem Rest die größte Mühe. Dabei bin ich allein, die Wohnung ist still, denn Faysal ist draußen. Erst als es zu regnen beginnt, hockt er sich auf seine Matratze und spielt mit dem Würfel.

So von allem abgeschnitten war ich selbst daheim nicht, wo ich Radio hörte und meine Nachbarinnen hatte, die mich mit Klatsch und Tratsch versorgten. Frauen wie sie muss es hier in dieser Nachbarschaft auch geben. Wo treffen sie sich? Sicher nicht in den Cafés, denn dort verkehren nur Männer, die oft auch die Einkäufe erledigen. Aber vielleicht gibt es ein Geschäft, in dem die Frauen einkaufen. Einen Laden mit einer Nachrichtenzentrale wie Aishas Gemüsehandel gegenüber den ›Drei Zedern‹. Ich habe bisher nicht darauf geachtet, nehme es mir aber für einen der nächsten Tage vor. Außerdem werde ich meinen Onkel bitten, mir zu zeigen, wie das Radio angeschaltet wird, und einen Erkundungsgang durch die Straße machen, die jetzt mein Dorf ist.

 

Vom Putzen staubig und verschwitzt, lasse ich mir ein Bad ein. Was für ein unglaublicher Luxus! Auf der Flucht habe ich mich in kalten Flüssen notdürftig waschen können, in der Unterkunft gab es nur Duschen, die oft genug nicht richtig warm wurden. Wie viele Monate ist das letzte Bad her? Ich bin so ehrfürchtig vor dem heißen, wohlriechenden Wasser, dass ich mich kaum überwinden kann, hineinzusteigen. Faysal ist zu alt, um mir Gesellschaft zu leisten, aber ich habe ihm versprochen, dass er nach mir dran ist. Bis dahin hoffe ich, dass er keinen Unfug anstellt in der Wohnung, aber ich zweifle an seinem Versprechen, in unserem Zimmer zu warten, bis ich ihn rufe. Der Junge ist neugierig und geschickt. Eine gefährliche Kombination.

Zweimal lasse ich heißes Wasser nachlaufen, beide Male mit einem schlechten Gewissen. Es ist helllichter Tag, und ich liege faul im warmen Wasser. Sicher gäbe es noch etwas, das ich tun könnte, um mich bei meinem Onkel erkenntlich zu zeigen für die Gastfreundschaft, aber mir fehlt die Kraft. Nur mit Mühe raffe ich mich schließlich auf, verlasse die Wanne und kleide mich an. Ich will schon den Mund öffnen, um Faysal zu rufen, aber dann ändere ich meine Absicht.

Ganz leise öffne ich die Tür und lausche, kann aber nichts hören. Unendlich behutsam trete ich einen Schritt in den Flur und bleibe mit klopfendem Herzen stehen. Die Tür zum Arbeitszimmer meines Onkel steht einen Hauch offen, nur so viel, wie es braucht, um das leise Klicken eines einrastenden Riegels zu vermeiden. Faysal! Wie hat er das geschafft? Mein Onkel verschließt die Tür immer sorgfältig, bevor er die Wohnung verlässt.

Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, taste ich mich mit der Hand an der Wand entlang zur Tür und schiebe sie langsam auf. Der Junge steht vor dem Regal, in dem der Onkel seine Akten aufbewahrt. Mit dem Zeigefinger fährt er über die Rücken, langt nach einem Karton, hebt den Deckel ab und schaut hinein. Er legt den Deckel zu Seite, greift mit der rechten Hand in den Karton und nimmt etwas heraus, das er erst mit schräg gelegtem Kopf betrachtet und dann in seine Hosentasche steckt. So schnell, wie ich es mir ohne Stock gar nicht zugetraut hätte, bin ich hinter ihm, drehe ihn an der Schulter zu mir herum und schlage ihm die flache Hand ins Gesicht.

Er hebt die Hände, will sich vor weiteren Schlägen schützen, aber mich interessiert der Inhalt seiner Hosentasche. Ich greife nach allem, was ich in der geräumigen Tasche an der Seite des Oberschenkels finde, und schaue mir die Schätze auf der flachen Hand an. Ich finde einige hübsch geformte Steine, zwei Bonbons, ein Stück Schnur, eine Plastikfigur, die wie ein Krieger aussieht, und einen Perlmuttknopf. Zwischen all diesem Zeug ist das einzig Wertvolle ein Taschenmesser.

»Hast du das hier gerade gestohlen?«, frage ich. Meine Stimme ist schrill, wütend, entsetzt.

Faysal blickt zu Boden und antwortet nicht. Ich zerre ihn am Arm und greife, als er sich weiterhin meinem Blick entzieht, nach seinem Ohr. Jetzt muss er mich ansehen. Tränen rinnen ihm übers Gesicht, Rotz läuft aus der Nase, die Augen sind riesig. Ich lese die Antwort darin. Was sonst sollte er auch aus dem Karton meines Onkels genommen haben? Den Plastikkrieger?

»Bist du von Sinnen, Unglückseliger?«, rufe ich. »Was hast du sonst noch angestellt? Was noch gestohlen?«

Er schüttelt den Kopf, seine Augen betteln, aber das alles ist nicht mehr wichtig. Seine Zeit in diesem Haus ist abgelaufen. Die Trauer zerrt an meinen Kleidern, meinen Gliedern, ich kann mich kaum bewegen, aber mit äußerster Kraftanstrengung lege ich das Taschenmesser zurück in den Karton, gehe in die Küche, um das Essen vorzubereiten, und schicke Faysal, bevor der Onkel heimkommt, ohne Bad und ohne Abendessen zu Bett.

 

Sein erster Weg führt ihn in sein Arbeitszimmer. Den Schlüssel zur Tür holt er aus der Hosentasche. Wieder frage ich mich, wo Faysal gelernt haben mag, wie man Schlösser öffnet und schließt, ohne Spuren zu hinterlassen, aber offenbar war er erfolgreich, denn der Onkel öffnet die Tür, ohne zu stutzen. Ich halte die Luft an, während ich die letzten Vorbereitungen erledige, und lausche auf Geräusche aus dem Arbeitszimmer. Aber auch alle anderen Spuren hat der Junge offenbar vollständig verwischt.

Ich weiß, dass es falsch ist, dem Onkel nichts von dem Einbruch zu sagen, aber ich möchte Faysal die Prügel ersparen, denn in diesem Fall würde er nicht mit einem einfachen Klaps davonkommen. Die Fragen des Onkels nach meinem Tag beantworte ich also ausführlich, sofern es um das Putzen und Kochen geht, bitte ihn um die Besorgung weiterer Gewürze und eines Stahlschwamms für die Töpfe. Mein Bad erwähne ich in einem Nebensatz, Faysals Diebstahl gar nicht. Ich beginne zu verstehen, was die Nachbarinnen in der Heimat meinten, wenn sie davon sprachen, dass der Gatte alles wissen müsse, was im Haushalt vor sich geht – aber eben doch nicht jedes Detail.

Um von mir abzulenken, frage ich den Onkel, ob er mir eine Frage beantworten kann, die mich seit Wochen beschäftigt. Er wirkt geschmeichelt.

»Warum haben die Menschen hier es immer so eilig? Was tun sie alle in der Zeit, die sie damit gewinnen, dass sie schnell gehen und schnell sprechen?«

Der Onkel lacht. »Darüber grüble ich seit vier Jahren nach. Die meisten Menschen arbeiten weniger als acht Stunden am Tag. Sie haben nur ein oder zwei Kinder. Die Frauen kaufen Fertiggerichte, anstatt richtig zu kochen, aber niemand hat Zeit.« Er wirft die Arme in die Luft und lacht wieder. »Ein Wunder der modernen Zeiten.« Dann wird er ernst. »Viele Männer, mit denen ich geschäftlich zu tun habe, wissen nichts über ihre Geschäftspartner, viele haben sie noch nie persönlich getroffen. Sie reden über die Waren, über Termine, Mengen und Preise. Trifft man sich persönlich, stellen sie statt eines Kaffees oder eines Tellers mit Gebäck ein Aufnahmegerät auf den Tisch, um später die getroffenen Vereinbarungen abzutippen und zu unterzeichnen.«

Ich lausche ihm gebannt, kann ihm aber nicht glauben. Wie kann Papier mehr wert sein als eine persönliche Übereinkunft? Mit keinem einzigen seiner Kunden hatte mein Vater eine schriftliche Vereinbarung.

»Egal, was hier von Gleichberechtigung geredet wird, sind doch die Männer meistens diejenigen, die die Entscheidungen treffen, und die Frauen ihre Assistentinnen. Aber wenn es doch einmal einen Kaffee gibt, räumt auch oft der Mann die Tassen weg.«

Jetzt bin ich sicher, dass der Onkel scherzt, aber er schaut nicht listig oder schelmisch, sondern ehrlich verwundert, als könnte er immer noch nicht glauben, dass ein Mann solche Dinge tat.

»Und es gibt so viele Menschen, die allein leben. Viele wollen es so, sie widmen ihr Leben der Arbeit. Aber viele wären lieber verheiratet, finden nur nicht den richtigen Mann oder die richtige Frau, weil sie nach dem ganz großen Glück suchen. Dabei weiß doch niemand, ob es wirklich existiert …«

Seine Stimme ist so leise geworden, dass ich sie kaum noch verstehe.

»Ob sie die Einsamkeit nicht spüren, weil sie nie eine Familie kennengelernt haben?«, flüstert er. Dann strafft er die Schultern. »Aber meine Einsamkeit ist beendet, nun bist du ja da, Madiha. Es gibt nichts Wichtigeres auf der Welt als die Familie.«

»Ja«, sage ich voller Überzeugung. Zum ersten Mal, seit ich den Fuß in dieses kalte Land gesetzt habe, fühle ich mich nicht mehr völlig fremd.