Schon wieder ein Krankenhaus, erkenne ich, als ich zu mir komme. Aber ich bin froh darüber, dass ich noch lebe, auch wenn sich meine ganze linke Seite taub anfühlt und mein Kopf schmerzt, als wäre er in der Mitte gespalten. Eine kühle Hand legt sich auf meine. Faysal, denke ich, aber dann spüre ich, dass sie zu groß ist. Die winzige Drehung des Halses nach rechts sendet Schmerzwellen wie Nadelstiche in den Schädel und den Rücken, aber ich erkenne die Person an meinem Bett: Jasmin.
»Madiha, endlich kommst du zu dir!« Ihr sorgfältiges Make-up ist verschmiert, die Augen sind rot. Sie beugt sich über mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn, drückt ihre Wange an meine.
Ich stöhne.
»Entschuldige, wie dumm von mir. Hast du schlimme Schmerzen?«
»Ja«, krächze ich. Das ist ein Fehler, denn selbst dieses eine Wort löst einen Hustenreiz aus, der mir ein wahres Feuerwerk an Schmerzen im Kopf beschert. Als der Husten nachlässt, hilft Jasmin mir, mit einem Strohhalm kleine Schlucke Wasser aus einem Plastikbecher zu trinken.
»Wie …«, flüstere ich.
»Schsch.« Sie legt den Finger auf die Lippen. »Du hattest einen Unfall, bist von einem Lastwagen angefahren worden.«
Mit einer kraftlosen Hand weise ich auf Jasmin.
»Wie ich hierherkomme? Ach so! Das ist einfach: Du bist immer noch in der Waldstraße gemeldet, mit Amelies Telefonnummer als Kontaktmöglichkeit. Amelie war froh, dass ich mich bereiterklärt habe, zu dir zu fahren, du weißt ja, wie viel sie immer zu tun hat.«
»Faysal?«, flüstere ich vorsichtig.
Jasmin schaut überrascht. »War er bei dir, als du den Unfall hattest?«
Meine Augen irren im Zimmer umher, als könnte Faysal irgendwo in der Ecke stehen, ohne dass Jasmin ihn bemerkt hätte. Nun schaut auch Jasmin alarmiert.
»Ich gehe mal die Schwestern fragen, ob sie den Jungen gesehen haben.«
Während Jasmin weg ist, versuche ich festzustellen, wie stark verletzt ich bin. Ich kann Hände und Füße bewegen, bin also nicht gelähmt. Das linke Knie schmerzt und fühlt sich stark geschwollen an, auch in Schulter und Ellenbogen spüre ich ein dumpfes Pochen, aber ich trage keinen Gips, nur einen dicken, weichen Kragen um den Hals. Allah hat es gut mit mir gemeint.
Wenige Minuten später kommt Jasmin mit einer großen Schachtel zurück. »Schau mal, Pralinen! Die sind eben für dich abgegeben worden.«
»Faysal!«, flüstere ich, so nachdrücklich ich kann.
»Nein, der ist nicht hier, und es kann sich auch niemand erinnern, überhaupt ein Kind in deiner Nähe gesehen zu haben. Es wurde auch kein Kind eingeliefert.« Jasmin runzelt die Stirn. »Sicher ist er bei deinem Onkel, oder jemand von den Nachbarn hat sich um ihn gekümmert.« Sie legt die Schachtel auf den Nachttisch und streift die Zellophanhülle ab. »Oh, eine Karte!«, ruft sie aus, zieht mit spitzen Fingern etwas Weißes aus der Folie und faltet die Karte auf. Die Hand, die das Papier hält, beginnt zu zittern, das Blut weicht aus ihren Wangen.
Ich greife nach ihrem Pullover und ziehe daran, bis sie mich mit Tränen in den Augen anschaut.
»›Halt den Mund oder Faysal stirbt‹«, liest sie vor, dann schlägt sie sich die Hand vor den Mund. Entsetzt starren wir einander an.
Hatte ich eben noch geglaubt, Glück im Unglück gehabt zu haben, bricht in diesem Moment eine Welt in mir zusammen. Ich spüre, wie meine Sicht sich verengt, wie die gegenüberliegende Zimmerwand auf mich zustürzt, dann umhüllt mich gnädiges Vergessen.
Es kann nicht viel Zeit vergangen sein, denn als ich wieder zu mir komme, steht Jasmin immer noch mit der Nachricht in der Hand neben meinem Bett. Allerdings schaut sie erwartungsvoll zur Tür, wo eine Krankenschwester auftaucht und auf mich zueilt.
»Na, da sind Sie ja schon wieder.«
Die Frau in hellblauer Kleidung und mit einem Namensschild über der Brust hantiert an mir herum. Ich lasse es geschehen, während ein einziger Gedanke immer und immer wieder in meinem Kopf hämmert: Ich darf nichts tun, was Faysal gefährden könnte.
Mitten in die soundsovielte Wiederholung platzt Kommissar Brocker. »Was ist dieses Mal passiert?«
Woher weiß er, dass ich hier bin?
»Frau Hammada, meine Geduld ist zu Ende. Ich will die ganze Geschichte hören, von Anfang an. Sofort.«
Er steht über den Polizisten, bei denen ich Harun als vermisst gemeldet habe. Er steht über den Polizisten, die bei Razans Tod die Gäste des Cafés befragt haben. Er muss ein ranghoher Kommissar sein, vielleicht arbeitet er für die Geheimpolizei. Er wird mich aus dem Krankenhaus holen und in ein Gefängnis bringen, aber foltern wird er mich nicht. Da bin ich ziemlich sicher.
»Frau Hammada!«
Wenn aber diejenigen, die Faysal entführt haben, wissen, dass ich im Gefängnis sitze, werden sie den Jungen töten, weil sie glauben, dass ich der Polizei alles erzählen werde, was ich weiß. Ich darf also nicht ins Gefängnis. Auf keinen Fall. Ich muss im Krankenhaus bleiben.
»Ich bin gestolpert«, flüstere ich.
»Blödsinn!«
Ich schaue auf meine Füße, um dem Blick des Kommissars auszuweichen, der am Fußende des Bettes steht. Jasmin neben mir versteht die Worte zwar nicht, aber ich bin sicher, dass sie weiß, worum es in diesem Gespräch geht, denn sie hebt die Karte mit der Drohung fast unmerklich hoch, bevor sie sie wie beiläufig in ihre Hosentasche steckt.
»Ein Hustenanfall ließ mich das Gleichgewicht verlieren.« Wie zur Bestätigung schüttelt mich ein Husten, der die Kopfschmerzen anschwellen lässt, als wäre ein Bienenschwarm in meinem Schädel aufgeflogen.
»Wir haben einen Zeugen, der sagt, Sie seien gestoßen worden.«
Mir wird heiß und kalt zugleich. Am liebsten möchte ich fragen, ob der Zeuge auch etwas über den Jungen gesagt hat, der mich begleitete, aber das darf ich auf gar keinen Fall riskieren. Lieber schweige ich, schließe die Augen und hoffe, dass der Kommissar weg ist, wenn ich sie wieder öffne. Das ist er natürlich nicht.
»Frau Hammada?«
»Er muss sich vertan haben.«
»Wen wollen Sie schützen?«, fragt der Kommissar.
Die Frage ist klug, obwohl er sicher glaubt, dass ich einen Schuldigen vor der deutschen Polizei schützen will. Nichts liegt mir ferner. Aber die Anweisung der Drohung ist eindeutig, also schweige ich. Ich muss dringend mit Jean sprechen. Vielleicht kann er durch Ahmad herausfinden, wo der Junge ist und wie es ihm geht. Da fällt mir ein, dass ich mit Jean telefonierte, als ich auf die Straße gestoßen wurde. Worum es in dem Gespräch ging, will mir aber beim besten Willen nicht einfallen.
»… wissen noch immer nicht, was der Mann dort zu suchen hatte. Vielleicht haben Sie ja inzwischen selbst etwas in Erfahrung gebracht?«, will Brocker nun wissen.
Da schon der Ansatz des Kopfschüttelns zu schmerzhaft ist, schließe ich kurz die Augen.
»Ihre Kooperationsbereitschaft hat sich erheblich verschlechtert, Frau Hammada. Ich sehe mich gezwungen …«
Jasmins wütende Stimme unterbricht ihn. Zwar wird er ihre arabischen Worte nicht verstehen, aber dass er Rücksicht auf meinen Zustand nehmen soll, kann er ihren Gesten und dem empörten Gesichtsausdruck entnehmen.
Bevor er reagieren kann, kommt eine Krankenschwester herein. »So, wenn der Besuch jetzt bitte gehen würde, der Doktor kommt gleich.«
»Wir sehen uns wieder, Frau Hammada«, sagt der Kommissar. »Sehr bald.«
Ich erkenne eine Drohung, auch wenn sie in freundliche Worte gekleidet ist.
Nachdem der Arzt mir erklärt hat, dass ich offenbar vom Außenspiegel des Lastwagens am Kopf getroffen wurde und meine gesamte linke Seite einen kurzen, aber umso heftigeren Kontakt mit der Beifahrerseite hatte, begutachtet er Röntgenbilder, an deren Aufnahme ich mich nicht erinnern kann.
»Sie hatten unglaubliches Glück«, sagt er mehr als einmal. »Allerdings könnte es sein, dass die alte Verletzung jetzt neue Probleme macht. Sehen Sie hier diesen haarfeinen Riss? Das ist heute passiert.«
Ich erkenne nichts auf den Bildern und verstehe auch von den Fachwörtern, die er benutzt, kein einziges. Außerdem spricht er leise und schnell, so dass ich nach seinem Besuch nicht mehr weiß als vorher. Egal. Im Moment interessiert mich ausschließlich Faysals Schicksal.
Als Jasmin ins Zimmer zurückkehrt, bitte ich sie daher als Erstes, Jean anzurufen. Seine Nummer weiß ich auswendig – zum Glück, denn mein Telefon ist seit dem Unfall vermutlich nur noch ein Häuflein Schrott.
»Weißt du, wo Faysal steckt?«, platzt es aus mir heraus, als Jean sich meldet.
»Madiha, ich habe jetzt keine Zeit.«
»Bitte!« Meine Stimme versagt.
»Ich bin schon fast bei der Polizei. Ich liefere ihnen Ahmad, Riad und Ali, das ist der Letzte in der Kette, dessen Namen wir kennen. Vielleicht findet die Polizei noch weitere Mitglieder dieser Mörderbande, aber wenn sie wenigstens diese drei festnehmen, vor allem Ahmad, der meine Buschra getötet hat …«
Mein Krächzen geht in einen Hustenanfall über. Nein, will ich schreien, geh nicht zur Polizei! Nicht jetzt! Nicht, bevor Faysal in Sicherheit ist! Aber ich bekomme kein Wort heraus.
»Leb wohl, Madiha.«
Je mehr ich versuche, Jean von seinem Vorhaben abzuhalten, desto weniger kann ich sprechen. Der Husten wird so schlimm, dass ich ernsthaft fürchte, hier und jetzt auf der Stelle zu ersticken, aber plötzlich löst sich der Krampf, ich bekomme wieder Luft und flüstere: »Sie haben den Jungen, Jean, bitte tu nichts, bis er wieder bei mir ist.«
Aber die Leitung ist bereits tot. Immer noch zitternd und wegen der Tränen halb blind versuche ich, die Wahlwiederholung zu finden, aber vor meinen Augen verschwimmt alles. Jasmin nimmt mir das Gerät mit sanfter Bestimmtheit aus der Hand.
»Ruf ihn noch einmal an«, sage ich. »Er darf nicht zur Polizei!«
Sie wählt einmal, zweimal, dreimal, aber Jean hat sein Telefon abgestellt.
Ich kann nichts mehr für Faysal tun.
Eine Krankenschwester rauscht herein, ihre Sohlen quietschen auf dem glänzenden Bodenbelag. Sie stellt sich ans Fußende meines Bettes, ergreift mit beiden Händen das Stahlrohr des Fußteils und sagt mit missmutiger Miene: »Ihr Onkel lässt Ihnen ausrichten, dass er seine Reise abbricht und morgen hier sein wird. Bitte sagen Sie Ihren Verwandten, dass wir kein Sekretariat sind, das Telefongespräche entgegennimmt und Verabredungen trifft.«
Genauso schnell, wie sie kam, geht sie wieder. Ihre Haltung drückt Missbilligung aus, aber das ist mir vollkommen egal. Stattdessen schwanken meine Gefühle zwischen Erleichterung und Verlegenheit. Dass ich meinem Onkel zur Last falle und er gar seine beruflichen Pläne meinetwegen ändern muss, ist mir unangenehm. Gleichzeitig hoffe ich auf seine Unterstützung, selbst wenn das bedeutet, dass ich ihm die ganze Geschichte erzählen muss. Zwar weiß ich nicht, was er für Faysal tun soll, habe keine Ahnung, wie er dem Jungen helfen könnte, aber trotzdem verspüre ich einen Funken Zuversicht.
So sehr war ich in meine Gedanken vertieft, dass Jasmin mich erst sanft an der Schulter rütteln muss, um meine Aufmerksamkeit auf ihre Frage zu lenken, die sie offenbar bereits mehrfach gestellt hat.
»Was sagte die Frau?«
Ich übersetze die Worte der Krankenschwester und füge meine eigenen Überlegungen gleich hinzu.
Jasmins Augen füllen sich mit Tränen. »Ach, Madiha, ich bin so glücklich, dass du nicht mehr allein bist!«
Den Rest des Tages verbringe ich mehrheitlich schlafend und freue mich, dass Jasmin an meinem Bett sitzt, wenn ich aufwache, und mir Mut zuredet, wenn meine Hoffnung zu schwinden droht.
Jasmin ist auch am nächsten Tag früh zur Stelle. Sie hat irgendein Formular von Amelie dabei, das ich ausfüllen muss, aber da Jasmin kein Deutsch spricht und ich nicht lesen kann, legen wir das Papier zur Seite. Dann warten wir gemeinsam auf meinen Onkel.
Stattdessen erscheint gegen zehn Uhr Kommissar Brocker.
»Sie wissen, warum ich hier bin«, sagt der Kommissar.
Ich wage ein Kopfschütteln. Die Schmerzen sind nicht mehr so schlimm wie gestern, trotzdem verziehe ich das Gesicht und halte lieber wieder still.
»Jean Malik war gestern auf dem Präsidium und hat dort eine wilde Geschichte erzählt, in der auch Sie eine nicht unerhebliche Rolle spielen.«
Ich denke an Faysal und halte den Mund. Vielleicht tun sie – wer auch immer sie sind – dem Jungen nichts, wenn Jean keine Beweise hat.
»Ich brauche Ihre Aussage, Frau Hammada, sonst können wir die Männer nicht festhalten.«
Ich schließe die Augen, denke an Faysal und hoffe, dass die Männer schnell wieder freigelassen werden. Und bete, dass es dann noch nicht zu spät für den Kleinen ist. Die Ungewissheit über sein Schicksal und die Unmöglichkeit, etwas für ihn zu tun, sind eine größere Qual als alle körperlichen Schmerzen zusammen.
»Hören Sie auf mit Ihren Spielchen, und sagen Sie mir endlich, was Sie über Ahmad Labwani und seine Rolle bei dem Brand des Restaurants wissen! Und über Harun Dardaris Verschwinden!«
Je ärgerlicher die Stimme des Kommissars wird, desto fester wird der Druck von Jasmins Hand, die meine hält.
»Und dann wäre da noch Ihre eigene Entführung, die uns eine Handhabe geben würde, die wir dringend brauchen.«
Ich schweige für dich, Faysal. Ich tue alles, um dich zu schützen – sosehr es mich auch peinigt, dass ich dabei die Gerechtigkeit verraten muss.
»Sobald Sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, erhalten Sie eine offizielle Vorladung. Wenn Sie dann weiter schweigen, lasse ich Sie wegen Behinderung der Justiz festnehmen.«
Wie lange wird es nach der Freilassung von Ahmad und den beiden anderen Männern dauern, bis seine Entführer den Jungen laufen lassen? Ein paar Tage? Wochen? Werden sie ihn gar nicht mehr freigeben, sondern als Druckmittel behalten? Oder ist er bereits tot, weil Jean zur Polizei gegangen ist, und alle meine Hoffnung, ihn gesund und munter wiederzusehen, vergebens? Nein, das darf ich nicht einmal denken!
»… werden Sie bedroht?«
Obwohl ich nicht alle Worte der Frage gehört habe, ist mir klar, dass der Kommissar auf der richtigen Spur ist. Das sagt mir ein Blick in seine Augen, den ich unter halb geschlossenen Lidern wage. Der Ärger ist weg, Sorge liegt in tiefen Falten auf seiner Stirn. Plötzlich schaut er sich im Zimmer um, wendet sich dann wieder zu mir und sagt: »Natürlich! Der Junge!«
Ich beiße die Zähne so fest aufeinander, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn sie gleich in tausend Splitter zerspringen würden.
»Sagen Sie mir, was los ist, Frau Hammada. Wir sind die Polizei, wir können Sie schützen.«
Nein, denke ich, das könnt ihr nicht. Ihr habt keinerlei Zugang zu diesen Leuten, die in eurem Land ihr eigenes Leben leben. Ihr kennt ihre Mentalität nicht. Ihr habt keine Erfahrung mit ihrer Entschlossenheit, die Sachen selbst in die Hand zu nehmen, weil auf den Staat kein Verlass ist oder weil die Vertreter des Staates gar die schlimmsten Kriminellen sind. Ihr kennt das ungeschriebene Gesetz nicht, das die Familien zusammenschweißt auf Gedeih und Verderb. Selbst wenn ihr ihre Sprache sprechen würdet, verstündet ihr nur die Worte, nicht aber den Sinn dessen, was sie sagen. So geht es mir mit den Deutschen – und euch geht es so mit uns.
Ein Seufzer des Kommissars verrät mir, dass er aufgibt. »Bitte reden Sie mit mir, Frau Hammada. Jederzeit. Rufen Sie mich an, Tag oder Nacht. So oder so sehen wir uns bald wieder. Gute Besserung.«
Ich öffne die Augen erst wieder, als seine Schritte verklungen sind.
Ich lasse eine Untersuchung und das Mittagessen über mich ergehen und sehne mich schon jetzt nach dem Moment, in dem ich wieder selbst in der Küche stehen und kochen kann. Jasmin leistet mir weiter Gesellschaft, verschwindet nur kurz, um in einem Imbiss etwas zu essen. Als sie wieder hereinkommt, riecht sie nach Pommes frites. Obwohl Kartoffeln in der syrischen Küche kaum eine Rolle spielen und sie gekocht nach nichts schmecken, sind sie frittiert doch recht geschmackvoll. Allein der Duft des heißen Fetts, der in Jasmins Kleidern hängt, regt meinen Appetit mehr an, als der matschige Brokkoli in einer mehligen Sauce und das geschmacklose Fleisch, das mir serviert wurde, es je könnten. Aber ich esse meinen Teller leer, denn ich brauche Kraft.
Jasmin ist schweigsamer als gestern, und ich brauche Ruhe, daher sprechen wir nicht viel. Immer wieder nicke ich ein.
Als ich irgendwann die Augen öffne, sitzt mein Onkel neben dem Bett.
»Madiha, ich habe mir solche Sorgen gemacht!«
Ja, er sieht wirklich besorgt aus. Seine Haut ist grau, die Augen rot geädert, dicke Tränensäcke hängen darunter. Aber er versucht ein Lächeln, was mich rührt.
Jasmin hält sich im Hintergrund, aber ich winke sie zu mir und stelle sie meinem Onkel vor. Er bedankt sich höflich für ihre Hilfe, schaut aber irritiert, als ich sie auffordere, sich zu uns zu setzen.
»Sie kann vieles von dem berichten, was ich dir mitteilen muss«, krächze ich, denn meine Erkältung ist noch immer nicht ganz abgeklungen. Und so wechseln wir uns ab. Ich fasse Haruns Hilfe während der Flucht, sein Verschwinden und den Teil meiner Suche, den mein Onkel bereits kennt, kurz zusammen. Dann übernimmt Jasmin. Mir ist es lieber, dass sie von meinen Nachforschungen in der Nachbarschaft der ›Drei Zedern‹ berichtet, die ich ihr anvertraut habe, und dass sie auch von den wieder aufgetauchten Schuhen erzählt, denn so entlädt sich bereits ein Teil des Unmuts, bevor ich zu den wirklich furchtbaren Ereignissen komme.
»Und dann wurde ich auf dem Heimweg überfallen und entführt.«
Der Wechsel im Gesichtsausdruck meines Onkels von leichter Besorgnis zu völliger Fassungslosigkeit hätte mir unter anderen Umständen ein Lächeln entlockt.
»Ahmad, so heißt der Mann mit der geteilten Augenbraue, sprühte mir etwas ins Gesicht – ein Pfefferspray, wie ich mittlerweile weiß – und schloss mich in einem Keller in der Nähe des Bahnhofs ein. Er sagte, er habe den Auftrag, mich zurück nach Syrien zu bringen.«
Diese Information versetzt dem Onkel einen neuen Schock.
»Als er die Tür öffnete, erwartete ihn Faysal, schlug ihn mit meinem Stock nieder, und dann war er unser Gefangener und gab zu, Harun und unabsichtlich auch Buschra getötet zu haben. Haruns Leiche hat er zerteilt und in einer Tonne für Schlachtabfälle entsorgt.«
Das Gesicht des Onkels verliert sämtliche Farbe.
»Jean überredete ihn, uns die Männer zu liefern, die zu diesem Netzwerk gehören, das ehemalige Kämpfer des Daesh hier in Deutschland aufspürt und tötet. Zu diesem Zweck dachten sie sich eine Falle aus, nämlich die Frage, ob Ahmad mich töten dürfe, weil ich ihm bei der versuchten Entführung entwischt wäre und auch nicht aufhören würde, weiter Fragen zu stellen. Und zwei Tage später stieß mich jemand vor den Lastwagen.«
Eine lange Zeit sitzt der Onkel zusammengesunken auf seinem Stuhl und streicht sich immer wieder über das Gesicht. Ich bin überrascht, wie sehr ihn der Bericht mitnimmt, und gräme mich, ihm den nächsten Schlag auch noch versetzen zu müssen.
»Und dann kamen diese Pralinen mit einer Nachricht.«
Jasmin reicht ihm die kleine Karte mit der Drohung.
Der Onkel saugt hörbar Luft ein, steht auf, geht im Zimmer herum. Er ist aufgewühlt, fassungslos, entsetzt. Seine Reaktion ist heftiger, als ich erwartet hatte, aber ich muss mir eingestehen, dass ich ihn gar nicht gut genug kenne, um beurteilen zu können, welche Gräuel er selbst schon erlebt hat oder wie stark seine Nerven sind.
»Der Kommissar war schon zweimal hier«, übernimmt Jasmin.
Der Onkel fährt zu ihr herum. »Warum?«
»Jean hat Ahmad, seinen Kontaktmann Riad und dessen Kontaktperson Ali angezeigt und dem Kommissar die ganze Geschichte erzählt. Nun möchte der Kommissar, dass auch Madiha als Zeugin aussagt. Aber das kann sie nicht, solange wir um den Jungen fürchten müssen.«
In seiner Verzweiflung sieht der Onkel meinem Vater ähnlicher als je zuvor. Der Ausdruck von Traurigkeit, Resignation und wehmütigem Schmerz in seinem Blick presst mir das Herz zusammen. Lastet auf den Männern dieser Familie ein Fluch? Und sind es immer die Frauen, die ihnen zum Verhängnis werden? Erst meine Mutter, die das Leben sowohl meines Onkels als auch meines Vaters aus der vorgezeichneten Bahn warf, und nun ich, indem ich die weiblichen Tugenden der Demut und Duldung missachtete und selbstsüchtig meinen Willen nach Aufklärung durchsetzen wollte. Und wohin hat es geführt? Der Junge, der mir sein Leben anvertraute und meins rettete, ist in höchster Gefahr, und mein Onkel, der mir ein Zuhause gab, als ich nichts mehr hatte, wird ungewollt in diese Sache mit hineingezogen. Die Scham raubt mir den Atem und erdrückt mich fast. Endlich spüre ich, wie die Spannung aus mir herausbricht und die Tränen heiß über meine Wangen fließen.
Der Onkel tritt an mein Bett und legt seine Hand auf meinen Arm. »Ich werde mich umhören, Madiha, und versuchen, über meine weit gestreuten Geschäftskontakte herauszufinden, wer den Jungen hat und was wir tun können, damit sie ihn freilassen.«
Seine Güte macht mich noch verlegener. Statt mit mir zu schimpfen, bietet er seine Hilfe an. Damit beweist er die gleiche Großherzigkeit, die sein Bruder in dieser Situation gezeigt hätte. Ich nehme seine Hand, küsse sie und flüstere meinen Dank, bis er den Raum verlassen hat.
Wieder schlafe ich ein, träume von meinem Vater und erwache, weil jemand meinen Namen ruft.
Es ist Jean. Außer ihm ist niemand im Zimmer, draußen ist es dunkel.
»Du musst der Polizei sagen, was du weißt«, sagt Jean statt einer Begrüßung.
Er sieht furchtbar aus. Unrasiert, mit wächserner Haut, blutunterlaufenen Augen, ausgezehrten Wangen. Am schrecklichsten aber ist sein Blick. Jede Freundlichkeit ist daraus verschwunden. Sie hat einer eisigen Härte das Feld überlassen, die mich trifft wie ein Strahl kaltes Wasser.
»Wie geht es dir?«, stammele ich. Ich wage kaum, es mir einzugestehen, aber ich fürchte mich vor diesem Mann.
»Was denkst du wohl, wie es mir geht?« Der Spott klirrt in seiner Stimme. Es erschüttert mich zu sehen, dass nur wenige Tage ausreichen, um aus einem der gütigsten Menschen, die ich kannte, einen gebrochenen, unbarmherzigen Rächer zu machen. Es ist keine Frage der Zeit, sondern der Erlebnisse. Ein Augenblick kann die Welt verändern. Meistens zum Schlechten.
»Warum hast du Ahmad angezeigt?«, frage ich leise.
Jean dreht sich weg und schaut aus dem Fenster, so dass ich sein Spiegelbild, eine kleine Gestalt mit vornübergefallenen Schultern, in der Scheibe sehen kann. Seine Stimme ist rau und kraftlos, als er sagt: »Er sollte mich zu dem Mann führen, der die Befehle gibt. Bis zu diesem Ali konnten wir die Spur verfolgen. Riad traf sich mit ihm und erzählte die Geschichte, die wir uns für ihn ausgedacht hatten. Dann sagte Ali, er werde die Frage weitergeben und Riad Bescheid sagen. Faysal blieb unauffällig in Alis Nähe, wartete, bis er telefoniert hatte, und klaute sein Handy. Die Telefonnummer, die Ali anrief, war die Zentrale eines Import-Export-Unternehmens in Frankfurt. Ob Alis Kontaktmann dort sitzt oder ob der Anruf gar nichts mit dem Netzwerk zu tun hatte, konnten wir nicht feststellen.«
Bei Jeans Bericht fällt mir siedend heiß ein, dass Faysal mir auf Alis Handy die Gesichter vieler Männer zeigte, unter denen auch Harun war. Was wir dann mit dem Telefon gemacht haben, will mir allerdings gerade nicht einfallen. Hat Faysal das Gerät wieder eingesteckt? Liegt es noch im Wohnzimmer meines Onkels?
»Nachdem die Spur bei Ali endete, schlug Ahmad vor, abzuwarten, bis sich Riad wieder bei ihm meldete, um ihn anzuweisen, was mit dir geschehen solle.« Jean schweigt eine ganze Weile, bevor er sagt: »Ich habe ihm vertraut, Madiha. Aber dann hörte ich nichts von ihm, er war am Telefon kurz angebunden. Ich rief dich an, um zu fragen, ob du Neuigkeiten von ihm hast, stattdessen hörte ich dieses furchtbare Geräusch … Dann war die Leitung tot, deine Nummer nicht mehr zu erreichen.«
Ich versuche mich zu erinnern, ob ich Ahmad oder jemand anderen gesehen habe, bevor ich auf die Straße gestoßen wurde, aber da ist nichts. Und ich bin mir fast sicher, dass Ahmad nicht in meiner Nähe war, denn jetzt, da ich darüber nachdenke, fällt mir der aufdringliche Geruch seines Rasierwassers nach Muskatnuss und Limone ein. Hätte ich dieses Aroma nicht wiedererkannt, wenn Ahmad mir nah genug gekommen wäre, um mir einen Stoß zu versetzen? Aber wenn er es nicht war, wer dann? Hat derjenige, der die Entscheidungen fällt, jemand anderen geschickt, weil Ahmad schon einmal nicht mit mir fertig geworden ist? Möglich wäre es. Ebenso denkbar wäre aber auch, dass meine verstopfte Nase den Duft des Rasierwassers nicht bemerkte.
»Du musst der Polizei alles sagen, was geschehen ist und was Ahmad uns erzählt hat. Wie er dich mit dem Spray betäubte, wie er zugab, Harun getötet und das Restaurant angezündet zu haben. Wenn du nicht bei der Polizei aussagst, werden sie ihn wieder laufen lassen.« Jeans Stimme hat wieder an Kraft gewonnen.
»Das kann nicht sein«, entgegne ich schockiert. »Ahmad hat doch alles zugegeben.«
»Nur in diesem Keller, Madiha. Bei der Polizei leugnet er.«
Natürlich, was hatte ich auch erwartet? Dass sich ein Mann wie Ahmad freiwillig von der deutschen Polizei verhaften lassen würde? Meine Augen füllen sich mit Tränen.
»Wirst du der Polizei sagen, was du weißt, Madiha? Das ist die einzige Möglichkeit, Ahmad ins Gefängnis zu bringen.«
Was wird Jean anstellen, wenn ich ihm jetzt sage, dass ich nicht zur Polizei gehen kann? Wird er eine Dummheit begehen? Gibt es noch irgendjemanden auf der Welt, zu dem er Kontakt hat? Der ihm Halt gibt? Wo war er in der Nacht, als das Restaurant brannte? Bei einer Geliebten? Auch wenn das ein Verstoß gegen die Lehren des Koran wäre, würde ich mich besser fühlen, wenn es so wäre. Ich nehme all meinen Mut zusammen. »Wo warst du in der Nacht, als das Restaurant brannte, Jean? Wo hältst du dich jetzt auf?«
Das Schweigen dehnt sich so lang, dass ich mir schließlich ein Herz fasse und Jean ansehe.
»Wenn ich es dir sage, versprichst du mir dann, dass du zur Polizei gehst?«, fragt er.
Ich senke den Blick. Kann es nicht versprechen.
»Gut«, sagt Jean. Er hat meine Reaktion missverstanden, interpretiert sie als Zustimmung, aber bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann, ob ich ihn korrigieren will, sagt er: »Ich war bei meinem Liebhaber.«
All meine Selbstbeherrschung reicht nicht, um meine Gesichtszüge zu kontrollieren, um die Augen gesenkt zu halten, um meine Fassungslosigkeit zu verbergen. Jean treibt Unzucht mit einem Mann? Ich schnappe nach Luft. Da ist es kein Wunder, dass er nicht sagen will, wo er war. Welch eine Schande!
»Ich sehe, dass du entsetzt bist, Madiha. Was hätte ich auch anderes von dir erwarten sollen.« Er lacht bitter. »Buschra jedenfalls hat es nichts ausgemacht. Sie akzeptierte mich, wie ich bin.«
Das tue ich auch, will ich sagen, aber es wäre eine Lüge.
»Nun, da du mein Geheimnis kennst, erfülle dein Versprechen. Mach deine Aussage bei der Polizei.« Jean zückt sein Handy.
»Ich kann nicht«, sage ich. »Jedenfalls nicht, bis …«
Sein Gesichtsausdruck wechselt von Erschütterung über Fassungslosigkeit zu Wut. »Du hast es versprochen, und es muss heute sein. Sonst müssen sie ihn laufen lassen, das sind die Gesetze in diesem Land.«
Die Art, wie er das Wort ›Gesetze‹ förmlich ausspuckt, schockiert mich. Immerhin war Jean derjenige, der in großer Ehrfurcht vom deutschen Rechtssystem gesprochen hatte.
»Ich kann nicht«, wiederhole ich.
»Nicht für einen Mann, der einen Mann liebt?« Jeans Stimme klingt wie die Schneide eines Damaszenermessers.
»Nein, das ist es nicht. Sie haben …«
Aber Jean hat den Raum bereits verlassen, meine Worte erreichen ihn nicht mehr.