Zwei Tage vergehen, in denen ich mich fühle wie ein Rührlöffel im Quittengelee. Mühsam ist das Vorankommen im klebrigen Sirup, und am Ende landen alle meine Gedanken doch nur wieder am Ausgangspunkt.
Ich dolmetsche stundenlang und entfliehe dem Lärm, sooft es geht, auf langen Spaziergängen im Nieselregen. Dieser Ausdruck ist neu in meinem Wortschatz, genau wie die Wörter ›Brandanschlag‹ und ›fremdenfeindlich‹. Auch das Gefühl der direkten, persönlichen Bedrohung, dem ich glaubte, in diesem sauberen, ordentlichen Land entkommen zu sein, holt mich ein, als ein Hund auf mich zustürmt und sich in meinem Mantel verbeißt. Es dauert lang, bis der Halter uns nicht mehr genüsslich beobachtet und das Tier zurückpfeift. Wegen der neuen Gefahr, die auf den Feldwegen auf mich lauert, verzichte ich auf die Spaziergänge und verliere den Ausgleich zu der quälenden Enge und dem Lärm der Unterkunft.
Ich bin so erschöpft, dass selbst meine Gedanken formlos bleiben, aber am dritten Tag nach dem Feuer erfasst mich eine ungewohnte Unruhe. Habe ich genug getan, um Harun zu finden? Wie oft habe ich Harun in Gedanken ›meinen Bruder‹ genannt, wohl wissend, dass keiner meiner Halb- oder Stiefbrüder mir je geholfen hat. Wäre er tatsächlich mein zwölf Jahre jüngerer Bruder, würde ich dann genauso handeln? Würde ich die Verantwortung an einen fremden Mann abtreten, von dem ich gar nicht weiß, ob er ihn wirklich sucht? Und selbst wenn – aus welchem Grund will der Kommissar ihn eigentlich finden? Darüber habe ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Vielleicht will er ihn abschieben?
Das Wort macht immer wieder die Runde, es lässt selbst die Großmäuler verstummen. Vielleicht stimmt es aber auch, was manche Flüchtlinge erzählen, nämlich dass der Arm der syrischen Regierung bis ins Ausland reicht, wo sie Oppositionelle aufspüren und kidnappen lässt, um diese dann in ihren dunklen Gefängnissen zu foltern. Kann das sein? Ist der Kommissar ein Handlanger des unglückseligen Präsidenten und sucht Harun nur, um ihn auszuliefern? Oder haben die dunklen Mächte Harun bereits in ihren Fängen, und der Kommissar will nun wissen, warum das Verschwinden ausgerechnet dieses Mannes so viel Staub aufwirbelt? Habe ich also dem Falschen vertraut? Kann ich überhaupt jemandem vertrauen?
Ich muss an Frauen wie Amelie und die anderen Helferinnen denken, um mich gegen solch irrsinnige Gedanken zu wappnen. Menschen wie sie legen Zeugnis dafür ab, dass es eine sichere, friedliche Welt gibt, in der gute Menschen denen helfen, die in Not sind.
Mitten in einem Gespräch, das ich nur unkonzentriert und mehr schlecht als recht dolmetsche, springe ich auf, entschuldige mich nicht einmal und verlasse die Unterkunft. In diesem Moment wird mir klar: Ich muss selbst nach Harun suchen. In meinem Leben gibt es niemanden mehr, der mir die Verantwortung abnimmt, niemanden mehr, der Entscheidungen für mich trifft – weder zum Guten noch zum Schlechten. Was in den vergangenen Tagen als Ahnung in mir aufgestiegen war, kommt erst jetzt richtig bei mir an, im Kopf, im Bauch, im Herzen: Ich habe keine Familie mehr, keine Nachbarinnen, keine Dorfgemeinschaft. Ich befinde mich in einer Situation, die daheim undenkbar wäre, unmöglich in einer Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zu einer Gruppe das Leben bestimmt. Aber das ist Vergangenheit. Meine Gegenwart besteht aus drei einfachen Wörtern: Ich. Bin. Allein.
Mit dem neuen Hidjab fühle ich mich nicht mehr ganz so nackt, aber eine Abaya ist momentan nicht aufzutreiben. Die Frau, die die Kleiderkammer betreut, verspricht mir, sich zu erkundigen. Sie steht, wie die meisten anderen Helferinnen, mit noch mehr hilfsbereiten Menschen in anderen Ortsteilen in Kontakt. Auf diese Weise können manchmal sogar Wünsche nach bestimmten Farben erfüllt werden, denn selbst in unserer Situation weigern sich die jungen Männer, Pullover oder Jacken in Rosa zu tragen.
Den Weg zur Polizei habe ich mir gemerkt, als ich mit Amelie dort war. Die Verständigung mit dem Busfahrer ist wieder schwierig, aber beim dritten Versuch schaffe ich es, ihm begreiflich zu machen, an welcher Haltestelle ich aussteigen möchte. Als ich endlich meinen Fahrschein in der zitternden Hand halte und nach hinten gehe, höre ich, wie die Frau in der ersten Sitzreihe eine abfällige Bemerkung über meine Aussprache macht.
»Wie gut ist Ihr Arabisch?«, fragt der Busfahrer zurück.
Erschrocken ziehe ich den Kopf ein und suche mir schnell einen Platz weiter hinten, wo ich immer wieder die Scheibe freiwische, um die Umgebung zu betrachten. Der Himmel ist weiterhin grau, aber ein kleines bisschen höher als in den letzten Tagen.
Am Empfang sitzt wieder ein Polizist in Uniform. Ob es derselbe ist wie bei meinem letzten Besuch, kann ich nicht sagen. Ich schaue ihm nicht ins Gesicht.
»Ich möchte zu Kommissar Brocker«, flüstere ich so leise, dass er mich kaum versteht und nachfragen muss.
»Brocker? Gibt’s hier nicht«, erhalte ich dann als Auskunft.
»Aber ich habe mit ihm gesprochen …«
»Hier?«
Ich schüttele den Kopf. Dann fällt mir ein, dass Brocker mir seine Karte gegeben hat. Sie ist ein wenig zerknickt, aber der Polizist nimmt sie entgegen und stößt dann einen leisen Pfiff aus.
»Was haben Sie ausgefressen, dass sich das LKA für Sie interessiert?«
Ich verstehe nicht, was er damit meint, traue mich aber auch nicht nachzufragen.
»Kann ich bitte den Kommissar sprechen?«, setze ich noch mal an.
Eine Frau in Uniform tritt neben mich und legt einen Arm auf den Tresen. »Probleme?«, fragt sie mit schneidender Stimme.
Der Mann reicht ihr die Karte des Kommissars und sagt: »Den will sie sprechen. Sieh mal, ob du ihn telefonisch erreichst.«
Auf ihr Zeichen hin folge ich der Frau in ein Büro, nehme Platz und beobachte, wie sie die Telefonnummer wählt, wartet und schließlich die Schultern strafft. Sie spricht leise und schnell, so dass ich ihr nicht folgen kann, aber dann reicht sie mir den Hörer mit den Worten: »Kommissar Brocker möchte Sie sprechen.«
Die Stimme des Kommissars dringt verzerrt und mit Aussetzern aus dem Hörer, aber ich verstehe, dass er mich fragt, was ich von ihm will.
»Ich habe das Bild von Harun dabei, das ich Ihnen versprochen habe.«
»Geben Sie es der Kollegin. Und dann reichen Sie ihr bitte auch den Hörer.«
Ich halte ihr das Telefon hin, ziehe das Blatt Papier aus der Tasche und streiche es auf dem Tisch glatt.
Die Frau lässt einen ähnlichen Pfiff ertönen wie der Kollege unten am Empfang. »Haben Sie das gemalt?«
Ich nicke.
Sie nimmt die Zeichnung in die Hand und sagt ins Telefon: »Es ist eine Zeichnung, aber … Mann! Das ist das Beste, was ich je gesehen habe. Scharf wie ein Foto. Ob der Mann gut getroffen ist, kann ich natürlich nicht beurteilen.« Sie hört noch einen Moment zu, verspricht, Brocker die Zeichnung zukommen zu lassen, legt auf und gibt mir die Karte des Kommissars zurück. Dabei schaut sie mich neugierig an. »Wo haben Sie das gelernt?«
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Zeichnung einem anderen Menschen als meinem Vater zeige.
Meine Zeichnungen waren der Schlüssel zu seinem Herzen. Er, der nie ein Händler sein wollte wie alle anderen Männer seiner Familie, erkannte in mir eine Seelenverwandte. Zwölf Jahre lang hatte er jeden Gedanken an mich verdrängt, dann wurde ich vor seiner Tür abgeladen: ein Krüppel mit dem Antlitz meiner Mutter und ausgestattet mit dem künstlerischen Talent, das er mir vererbt hatte. Sehr zum Missfallen seiner zweiten Frau und der vier Kinder nahm er mich in seinen Haushalt auf. Ich arbeitete von morgens bis abends auf den Feldern, hielt Haus und Hof in Ordnung und ertrug schweigend Beleidigungen und Schläge im Gegenzug für die Stunden, die ich mit meinem Vater verbrachte. Gemeinsam entwarfen wir Intarsienmotive für Schränke, Kommoden, Schatullen und andere Kostbarkeiten. Sein langsames, bedächtiges Kopfnicken war das einzige Lob, das ich brauchte. Dass auch anderen Menschen meine Zeichnungen gefallen könnten, wäre mir nie in den Sinn gekommen.
»Sind Sie in Ihrer Heimat eine bekannte Künstlerin?«
Ich muss lächeln, während ich den Kopf schüttele, so absurd ist der Gedanke.
»Das ist so … lebendig! Nun, jedenfalls sollten wir den Namen daraufschreiben, damit das Foto auch richtig zugeordnet wird. Wie war er doch gleich?«
»Harun Dardari.«
»Wie schreibt man das?«
Noch während ich die Schultern zucke, wendet sich die Frau dem Computer auf ihrem Tisch zu und tippt etwas ein.
»Ah, da ist er ja …« Sie liest und stutzt. »Hier stehen zwei Namen für dieselbe Person, nämlich der, den Sie gerade genannt haben, und ein anderer, der von einem syrischen Pass stammt.«
Mein Kopf ruckt hoch. »Wie lautet der Name?«, flüstere ich.
»Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen das sagen darf. Stellen Sie diese Frage lieber Kommissar Brocker, es ist sein Fall.«
Auf dem Heimweg nehme ich die Umgebung kaum wahr, so sehr bin ich in meinen trüben Gedanken gefangen. Hat Harun mir tatsächlich einen falschen Namen genannt? Warum? Weil er mir nicht traute? Aber warum hätte er mir misstrauen sollen? Und wenn der Name des einzigen Menschen, der mir seit meiner Flucht etwas bedeutet hat, eine Lüge ist – worauf kann ich mich dann überhaupt noch verlassen?
Die Fragen beschäftigen mich so sehr, dass ich fast die Haltestelle verpasse, an der ich aussteigen muss. Der Weg zur Unterkunft am Ortsrand fällt mir schwer, zu viel bin ich in den letzten Tagen gegangen, die ganze linke Seite schmerzt von der Schulter bis zum Fuß. Meine Füße brennen, die Zehen sind eiskalt, die Schuhe, die ich trage, sind nicht für dieses Wetter gemacht.
Wieder bin ich so in Gedanken versunken, dass ich den vom Wind zerrupften Gesang erst wahrnehme, als ich nur noch wenige Meter entfernt bin. Ich biege rechts ab in die Straße zur Unterkunft und sehe etwa fünfzig Menschen mit Kerzen in der Hand. Sie stehen in einem Halbkreis und singen ein Lied, das ich nicht kenne. Die Wörter ›Gott‹ und ›Frieden‹ kommen darin vor. Ich will ins Warme, dränge mich vorsichtig an den Menschen vorbei, aber plötzlich steht Amelie vor mir.
»Madiha, kannst du dolmetschen?«
Nein, will ich sagen, mir fehlt die Kraft dazu, aber so unhöflich zu sein kommt nicht infrage. Ich lasse mich von ihr führen, widersetze mich nicht, versuche, mich für eine neue Aufgabe zu wappnen, und stehe plötzlich vor den Sängern, die verstummen und mich erwartungsvoll anstarren.
Etliche Bewohner, vor allem Kinder, stehen vor der Unterkunft und beobachten das Geschehen mit reservierter Neugier.
»Wir möchten ein Zeichen gegen Gewalt setzen. Wir verurteilen den Anschlag auf euch und möchten euch sagen, dass ihr uns willkommen seid«, ruft Amelie den Flüchtlingen zu.
Ich beginne zu sprechen, aber nach den ersten Worten stößt Amelie mich an. »Wenn du so flüsterst, hört dich doch niemand.«
Jemand zupft mich am Ärmel und drückt mir ein Megaphon in die Hand. Ich starre darauf und spüre, wie eine Faust meinen Magen anhebt und zerdrückt, so dass sich seine Säure in meinen Körper ergießt. Sie kriecht ins Rückenmark, sprudelt in die Lunge, überschwemmt das Herz, steigt in den Kopf, fließt in die Augäpfel. Mit der Säure kommen Bilder, Geräusche, Gerüche, Empfindungen. Wie viele Anweisungen habe ich aus solchen Geräten erhalten? Während der gesamten Flucht, bei Tag und Nacht, in vielen Sprachen. Immer wieder sprachen Männer durch dieses Ding, überall – aber vor allem dort, wo das Grauen seinen Anfang nahm.
Dort, wo mein Vater seine Tasche abstellte, mir tief in die Augen sah und mir sagte, dass er mich mehr liebe als alles auf der Welt und im ganzen Universum. »Nimm die Tasche«, forderte er mich dann auf. Ich bückte mich, ergriff den Henkel und stand ungeduldig mit den zwei schweren Gepäckstücken neben dem Bus, der uns nach Norden bringen sollte.
»Steig ein, ich muss noch mit dem Mann dort reden.«
Ich dachte mir nichts dabei. Mein Vater hatte alles arrangiert und mir erst am Vortag Bescheid gesagt. Es gab nicht viel zu packen, unser Haus war zerstört, wir besaßen jeder eine Tasche. In seiner befanden sich die Wertgegenstände.
Ein Mann mit Megaphon rief zum Einsteigen auf. Ich folgte seinem Ruf und der Anweisung meines Vaters. Fand zwei Sitzplätze. Verstaute die Taschen. Schaute aus dem Fenster. Suchte in der Menge meinen Vater, fand seinen Blick. Er nickte mir noch einmal zu, hob die Hand und …
Mit dem Megaphon in der Hand, den Sängern im Rücken und den erwartungsvollen Blicken der Menschen vor mir spüre ich, wie meine Beine nachgeben. Dann wird alles schwarz.