Die Worte der Krankenschwester kommen zu schnell, das Verwaltungsdeutsch ist mir nicht geläufig, so begreife ich praktisch nichts von dem, was die Frau mir bei der Entlassung aus dem Krankenhaus erklärt. Ich traue mich nicht nachzufragen.
Die medizinischen Details, die mir kurz zuvor der Arzt erläutert hat, habe ich einigermaßen verstanden. Mein Allgemeinzustand sei schlecht, der Blutdruck extrem niedrig, mein Gewicht viel zu gering, es mangele mir an verschiedenen Vitaminen, besonders D, und an Flüssigkeit. Insgesamt nichts Dramatisches. Viel Schlaf, viel essen, viel trinken und viel Ruhe würden mich wieder auf die Beine bringen. Stress solle ich vermeiden.
Fast hätte ich gelacht. An nichts davon ist überhaupt zu denken. Mein Zimmer in der Unterkunft ist zwar wieder bewohnbar und das Bett dort bequemer als die Sofakissen im Keller des Pfarrgemeindehauses, aber der Lärm von Hunderten Menschen, der die ganze Nacht herrscht, erschwert den Schlaf, der vielleicht möglich wäre, wenn die Gedanken zur Ruhe kämen. Zum Essen fehlt mir der Appetit, trinken würde ich gern mehr Tee, aber den gibt es nur zu den Mahlzeiten. Kaltes Leitungswasser hingegen lässt mich nur noch mehr frieren. Ich weiß, dass mein Zustand sich unter den gegebenen Umständen kaum verbessern wird.
An der Bushaltestelle vor dem Krankenhaus suche ich die Liniennummer, die zur Unterkunft Waldstraße fährt, finde sie aber nicht. Stattdessen sind acht Liniennummern angegeben, die ich nicht kenne. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, wo ich mich befinde. Ich erinnere mich, in der Nähe des Polizeigebäudes eine große Kirche mit bunten Glasfenstern und einem hohen, schlanken Turm mit spitzem grauem Dach gesehen zu haben. Diesen Orientierungspunkt suche ich nun, aber das Krankenhaus reicht in zwei Richtungen bis zum Himmel. Wie kann man sich orientieren, wenn Steine und Beton den Blick verstellen? Über den Parkplatz und die Straße hinweg sehe ich Hausdächer. Es sind zu viele, wird mir plötzlich bewusst. Zu viele Hausdächer, zu viel Lärm. Der Parkplatz und das Krankenhaus sind zu groß, als dass sie in die kleine Gemeinde passen würden, in der unsere Wohncontainer stehen. Ich befinde mich in einer Stadt, deren Namen ich nicht kenne und von der ich nicht weiß, wo sie liegt.
Mit hängenden Armen stehe ich eine Weile vor dem Fahrplan, der mir nicht hilft, und überlege, was ich tun kann. Mein Kopf ist vollkommen leer. Mir fehlt die Kraft, den kurzen Weg zum Krankenhausempfang zu laufen und dort zu fragen, wo ich bin und wie ich zur Unterkunft komme. Mir fehlt die Kraft, darüber nachzudenken, was ich sonst tun könnte. Ich lasse mich auf die Bank im Wartehäuschen sinken und hoffe, dass ein Bus kommt, der mich irgendwohin bringt, wo ich umsteigen kann. Ich spüre, dass meine Zehen kalt werden, dann schmerzen sie, und irgendwann spüre ich sie nicht mehr. Aber ich bleibe einfach sitzen.
Zweimal nicke ich ein, daher bin ich noch etwas durcheinander, als ein Auto vor mir hält. Die Seitenscheibe fährt automatisch herunter, der Fahrer beugt sich über den leeren Beifahrersitz, so dass ich sein Gesicht sehen kann. Es ist der Kommissar.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Steigen Sie ein.«
Verwirrt bleibe ich sitzen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir verabredet waren.
»Ich habe Frau Lenders angerufen und erfahren, dass Sie im Krankenhaus sind.«
Frau Lenders? Ach so, Amelie! Ich traue mich nicht, ihn zu fragen, was er von ihr wollte.
»Nun steigen Sie ein, bitte! Ich bringe Sie heim.«
Erst im zweiten Anlauf gelingt es mir, auf die Füße zu kommen. Das Kribbeln in den Zehen schmerzt, und fast verliere ich das Gleichgewicht, aber dann erreiche ich das Auto und suche die hintere Tür. Es gibt keine. Wo soll ich hin? Eine Frau sitzt immer hinten, das haben inzwischen sogar die Taxifahrer im Ort verstanden, die gelegentlich einen von uns zum Arzt fahren. Männer vorn, Frauen hinten. Hier geht das nicht.
»Steigen Sie ein, es wird kalt!«
Notgedrungen lasse ich mich auf den Beifahrersitz sinken. Im Auto ist es warm, es riecht nach Pfefferminz. Und es ist still bis auf das Motorengeräusch.
Der Kommissar fährt langsam, fast zögerlich. Dann sagt er unvermittelt: »Es ist Mittagszeit, und ich wollte etwas essen gehen. Leisten Sie mir Gesellschaft?«
Essen gehen? In einem Restaurant? Und dann noch in einem deutschen? Vor Schreck zieht sich mein Magen zusammen. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie in einem Restaurant. Ich kann keine Speisekarte lesen. Selbst wenn ich die Wörter entziffern könnte, wüsste ich kaum, was sich hinter Gerichten wie Leipziger Allerlei verbirgt – ein Wort, das ich einmal von Amelie gehört habe und das ich wegen seines Klangs mag, aber ein Rätsel, wenn es um die Zutaten geht. Wenn ich also wählen könnte, würde meine Antwort lauten: »Nein, auf gar keinen Fall!« Eine Ablehnung wäre aber sehr unhöflich und ist daher undenkbar.
»Ja.«
»Schön. Ich kenne ein Restaurant, das Ihnen sicher gefallen wird.«
In Gedanken gehe ich alle Gerichte durch, von denen ich weiß, dass sie Schweinefleisch enthalten. Es ist wichtig, das zu wissen, denn die Frage danach bringt bei Deutschen häufig nur ein Schulterzucken hervor, wie mir Jasmin berichtet hat, die schon zweimal mit ihrer ehrenamtlichen Betreuerin in einem Restaurant war. Schnitzel besteht aus Schweinefleisch, in Frikadellen ist meist welches drin, und selbst eine Bohnensuppe wird entweder mit Speck oder Wurst aus Schweinefleisch zubereitet. Ich habe gehört, dass es sogar Salate gibt, die aus Nudeln gemacht werden und Schweinewurst enthalten. Wie sollte ich in einem Salat Schweinefleisch vermuten? Es führt kein Weg daran vorbei: Ich werde einen fremden Mann, noch dazu einen Polizisten, bitten müssen, mir etwas aus der Karte zu bestellen. Hätte ich doch nur nicht zugestimmt! Aber jetzt ist es zu spät, und so versuche ich mich von meiner Angst abzulenken, indem ich konzentriert aus dem Fenster schaue.
In den vierunddreißig Jahren meines Lebens habe ich bei Weitem nicht so viele Menschen gesehen wie hier in nur einer einzigen Woche. Und nie zuvor sah ich so viele Menschen, die es so eilig hatten. Mit verschlossenen Gesichtern hetzen sie aneinander vorbei, nirgendwo sieht man Leute zusammenstehen und reden. In dieser Stadt, deren Namen ich nicht kenne, gibt es viele Fahrspuren nebeneinander, dazwischen liegen Schienen mitten auf der Straße. Eine Bahn fährt auf diesen Schienen, der Kommissar muss mit seinem Auto warten, bis der schmale Zug vorbei ist. Ich spüre, dass mir der Mund offen steht. Ein Zug, der mitten durch die Stadt fährt! Das Gewimmel wird immer dichter, Autos, Fahrräder und Fußgänger laufen und fahren durcheinander, dann biegt der Kommissar ab, und plötzlich ist alles anders.
Hier herrscht zwar Durcheinander, aber keine Hektik. Die Menschen gehen langsamer, einige Männer stehen in Grüppchen zusammen und reden aufeinander ein, viele der Frauen, die ihren mit grünen oder orangefarbenen Plastiktüten beladenen Männern folgen, tragen lange Mäntel und Kopftücher. Die Schaufenster der Geschäfte sind nicht elegant dekoriert, sondern randvoll, als wollte der Händler alles zeigen, was er im Angebot hat. Diese Straße erinnert mich an meine Heimat. Ich starre aus dem Fenster und kann gar nicht schnell genug schauen, um alle die seltsam vertrauten und doch irgendwie fremden Eindrücke aufzunehmen. Aber so schnell muss ich auch gar nicht mehr sein, denn der Wagen wird langsamer. Schließlich parkt der Kommissar das Auto am Straßenrand. Ich habe Mühe, auszusteigen, schaffe es aber allein. Nur der Stock hat sich verhakt, und so bin ich dankbar, dass der Kommissar sich in den Wagen beugt, um ihn zu befreien.
»Da sind wir.«
Er zeigt auf ein Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Über der Eingangstür strahlt eine Leuchtreklame mit drei großen grünen Zedern, im Fenster hängt die libanesische Flagge: eine grüne Zeder auf rot-weiß-rotem Grund. Ein libanesisches Restaurant? Wieder bin ich völlig überrascht, dann mischt sich ein weiteres Gefühl in mein Staunen: Erleichterung. Und plötzlich: Appetit. Ein so unbändiger Appetit überfällt mich, dass ich mich kaum beherrschen kann. Seit Monaten esse ich, was man mir vorsetzt. Ich esse, um den Hunger zu bändigen, der manchmal so schlimm war, dass ich glaubte, ein Tier sitze in meinen Eingeweiden und fresse mich von innen her auf. Ich aß Brot, trocken wie Staub oder verschimmelt. Ich aß wilde Feigen, Nüsse und Kohl, den man uns vor die Füße warf, einen ganzen Kopf, roh, ohne Salz, Öl oder Zitrone. Hier schiebe ich mir das seltsam geschmacklose Essen in den Mund, das man uns in der Unterkunft vorsetzt, auch weil die Mahlzeiten eine Abwechslung bieten. Ich kaue, schlucke, werde satt. Aber Appetit habe ich schon ewig nicht mehr verspürt. Bis jetzt.
»Ist das nicht nach Ihrem Geschmack?«, fragt der Kommissar. Vielleicht ist er verunsichert, weil ich wie angewachsen vor dem Restaurant stehen geblieben bin. »Das Restaurant genießt einen guten Ruf, vor allem auch unter Arabern. Es heißt, es sei ein beliebter Treffpunkt für Ihre Landsleute. Aber wenn Sie lieber woanders …«
»Es ist ganz wunderbar«, bringe ich mühsam heraus. Ich meine, ein Lächeln auf meinem Gesicht zu spüren, bin aber nicht sicher, ob es stark genug ist, um sichtbar zu werden.
Der Kellner begrüßt uns mit höflicher Zurückhaltung, bringt uns zu einem Tisch am Fenster und legt die Speisekarten auf den Tisch. Ich hefte meinen Blick auf die Karte, greife aber nicht danach.
Der Kommissar schlägt die Karte auf und schaut mich an. Dann räuspert er sich und klappt seine Karte wieder zu. »Sie wählen aus«, sagt er. In seiner Stimme schwingt die Andeutung eines Lächelns mit.
Ich schnappe nach Luft. Das geht nicht!, will ich sagen. Er hat mich hierher eingeladen, also bestellt er die Speisen. Niemals verlangt ein Gastgeber von seinem Gast, aus der Vielfalt zu wählen. Stattdessen ordert er selbst eine reichhaltige Zusammenstellung von Gerichten, von allem etwas. Aber offenbar macht man es so nur in meiner Heimat, nicht hier. Hier soll ich, die nicht einmal lesen kann, eine Auswahl treffen. Ich greife nach der Karte, lege sie aber sofort wieder hin, als hätte ich mich daran verbrannt.
»Sie brauchen die Karte vermutlich gar nicht, weil Sie ja die Küche kennen.« Der Kommissar reibt sich die Hände. »Ich hingegen war noch nie libanesisch essen und habe keine Ahnung, was gut ist und was nicht. Bestellen Sie also, was immer Sie wollen, die Rechnung geht natürlich auf mich.«
Bevor ich etwas erwidern kann, ruft er den Kellner und erklärt ihm seine Idee. Dann schweigen beide erwartungsvoll.
Ich weiß, worauf ich Appetit habe, aber für den Kommissar mitzubestellen ist eine Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühle. Was, wenn ihm meine Wahl nicht gefällt?
»Nur Mut, meine Schwester!«, sagt der Kellner auf Arabisch. »Was willst du essen?«
Sein Arabisch klingt anders als meins, aber ich verstehe ihn gut und fühle mich schlagartig besser. Der kleine, dicke Mann macht einen freundlichen, gelassenen Eindruck. Er ist sicher über sechzig, aber sein Haar ist dick und voll und auf dem runden Schädel mit reichlich Pomade in Form gebracht. Mit dieser altmodischen Frisur erinnert er mich an den Barbier, den mein Vater schätzte, weil er sehr belesen war.
Ich frage nach den Gerichten, die ich aus Syrien kenne, und lasse mir vom Kellner die jeweilige libanesische Variante beschreiben. Dann bestelle ich verschiedene Mezze, darunter gefüllte Weinblätter, pikantes Sesammus und den Petersiliensalat Taboulé. Als Hauptgang wähle ich ein Gericht, das aus Hackfleischbällchen mit Gemüse und Brot besteht und im Libanon Kibbaye biryani genannt wird, wie ich vom Kellner erfahre. Es ist nicht ganz dasselbe wie das syrische Kibbeh Mischwye, klingt aber gut. Außerdem ordere ich Tee.
Der Kellner notiert alles, verbeugt sich leicht und watschelt in seltsam kurzen Schritten in den hinteren, dunklen Teil des Restaurants. Wir sind die einzigen Gäste.
Ich schaue auf den Tisch, weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Den Umgang mit fremden Menschen bin ich nicht gewöhnt. Als Frau bleibt man im Haus oder auf den eigenen Feldern, aber man geht nicht aus, es sei denn zur Nachbarin oder zu Verwandten, wo die Frauen gemeinsam kochen und die Männer Pfeife rauchen und reden. Nachdem meine Stiefmutter tot war, führte ich meinem Vater den Haushalt. Kamen aber Kunden ins Haus, was selten geschah, brachte ich ihnen nur Wasser, Tee, Kaffee, Obst und etwas zu essen, setzte mich jedoch niemals dazu. Wenn ich in der Unterkunft dolmetsche, sitze ich zwar mit am Tisch, bin aber nicht als Person am Gespräch beteiligt. Auf der Polizeiwache war ich Bittstellerin. Was bin ich nun?
»Danke für das Bild«, sagt der Kommissar. »Es ist eine kunstvolle Zeichnung.«
Sein Lob freut mich sehr, aber ich bringe nicht mehr zustande als ein leichtes Kopfnicken.
»Amal Arabi«, fährt er fort.
Ich bin verwirrt und spiele mit dem Saum der Tischdecke.
»Der Name in dem Pass. Er lautet Amal Arabi. Aus Sarghaya. Wissen Sie, wo das liegt?«
Ich schüttele den Kopf.
»An der Grenze zum Libanon.«
Ich weiß darauf nichts zu antworten und nicke nur.
»Das Problem ist, dass ich immer noch nicht sicher bin, ob der Harun, den Sie suchen, und der Mann, dessen Pass Sie mir gebracht haben, ein und dieselbe Person sind.«
Das weiß ich auch nicht, obwohl ich Harun persönlich kannte und nicht nur nach einer Zeichnung urteilen muss.
Eine Weile ist es still. Aus der Küche dringt Musik herein, jemand singt ein arabisches Lied mit. Ich suche in meinen Erinnerungen, ob Harun mir etwas über einen Namenswechsel anvertraut hat, aber da ist nichts. Nur Bilder von dem Mann, der an der türkischen Grenze zu unserer Gruppe stieß. Er war erschöpft, hatte rote Augen und hohle Wangen, schlief aber wenig. Dazu war er zu nervös. Obwohl er sich verhielt wie ein Tier in einem Käfig, verließ er die Unterkunft, in der wir auf den Grenzübertritt warteten, kein einziges Mal. Als es endlich weiterging, blickte er sich häufig um, aber ich kämpfte mit meinen eigenen Problemen und fragte ihn nicht, wen oder was er fürchtete. Dieses Versäumnis liegt schwer auf meinem Gewissen.
Aus dem Dunkel des Restaurants nähern sich die watschelnden Schritte des Kellners. Er trägt die Mezze auf. Alles sieht etwas anders aus als in meiner Heimat, aber die Speisen verströmen Aromen, als hätte die Sonne Syriens sie geküsst. Die Petersilie duftet leicht bitter, der Kreuzkümmel erdig und warm, die Zitrone fruchtig-kühl. Zum ersten Mal seit Monaten schaue ich auf sorgfältig zubereitete, kunstvoll angerichtete Köstlichkeiten in satten Farben. Das warme, dünne Brot, das in einem kleinen Plastikbeutel geliefert wird, damit es nicht austrocknet, lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Erklären Sie mir, was das alles ist?«, fragt der Kommissar.
Ich beschreibe die Speisen und ihre Zutaten, erkläre ihm, dass dieser spezielle Salat, auf dem die Weinblätter angerichtet sind, Chass heißt und in Syrien gut wächst, weil er Wassermangel und große Temperaturschwankungen toleriert. Ich erläutere den besten Erntezeitpunkt der Weinblätter und den entscheidenden Unterschied, den das Anbraten der Füllung in Hammelfett macht.
»Hammelfett?«, fragt er in einem Tonfall, der irgendwo zwischen Überraschung und Abscheu liegt.
»Ich glaube nicht, dass hier welches verwendet wurde, denn es hat ein spezielles Aroma, das diesen Speisen fehlt.«
Ich verrate mein Geheimrezept für starke Petersilienpflanzen – die Reste vom Salatputzen rund um die Pflanzen auf dem Beet verteilen und regelmäßig mit Zwiebelschalenbrühe umgießen, um die Wurzelschädlinge fernzuhalten – und kann mich gar nicht sattsehen an den Speisen. Dann nehme ich vorsichtig das Brot, reiße ein Stückchen ab und greife damit nach einem gefüllten Weinblatt. Die muntere Säure der Weinblätter belebt die sanftmütige Füllung aus weichem Reis, aber ich habe recht: Es fehlt das Hammelfett. Dann kitzelt ein Aroma meinen Gaumen, das ich erst nicht zuordnen kann, aber nach dem zweiten Bissen reiße ich überrascht die Augen auf: Bitterorange!
»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
Ich habe das Erscheinen des Kellners wieder nicht bemerkt, so fasziniert war ich vom Essen.
»Bitterorange!«, ist das einzige Wort, das ich äußern kann.
Er lächelt überrascht. »Sie haben einen feinen Gaumen.«
Wir sprechen Deutsch, er siezt mich.
»Mir schmeckt es ausgezeichnet«, sagt der Kommissar. Er hat von jeder Speise eine kleine Menge auf seinem Teller. Wie ist das dorthin gekommen?, frage ich mich. Dann sehe ich die Löffel in den Schüsseln und werde rot. Offenbar bedient man sich hier beim Essen nicht mit einem Stückchen Brot aus einem Teller. Die Speisen sind libanesisch, aber die Tischsitten deutsch. Ich hätte daran denken sollen, schließlich sitzen wir an einem Tisch auf Stühlen und haben Besteck neben dem Teller liegen.
Der Kommissar greift wieder zu, häuft Taboulé, Hummus und Weinblätter auf seinen Teller, nimmt mehr Brot und isst mit sichtlichem Appetit. »Sie haben gut gewählt«, sagt er zwischendurch.
Ich freue mich über das Lob, lasse mich aber nicht vom Essen abhalten. Es kommt mir vor, als hätte ich monatelang gehungert. Die Gegenwart verblasst, sogar meine Verlegenheit schwindet, und ich konzentriere mich auf die Mahlzeit. Zwinge mich, kleine Happen zu nehmen, langsam zu kauen, zu genießen. Und als mir plötzlich klar wird, dass ich genau das tue, dass ich tatsächlich in der Lage bin, das Essen zu genießen, krampft sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Mein Gewissen brüllt auf wie ein wütendes Tier. Wie kann ich nur hier sitzen und genießen, während mein Vater tot ist, vielleicht nicht einmal begraben, ich weiß es nicht, habe mich nicht darum gekümmert.
Der Bus fuhr los, bevor ich aussteigen konnte, und als ich nach vorn rannte, schwankend wegen der holprigen Straße, wegen meines Beines und aufgrund des kalten Entsetzens in meinem Herzen, stoppte mich ein Nachbar, der ebenfalls auf dem Weg nach Norden war, und sagte leise: »Nicht, Madiha. Ich musste ihm versprechen, dich mitzunehmen, egal, was passiert. Ich lasse dich nicht zurück.«
Die Augen voller Tränen und die Hände fest auf den Mund gedrückt, springe ich auf und eile nach hinten, wo ich die Toilette finde und mich immer wieder übergebe, bis ich zitternd auf dem kalten Boden hocke und weine. All die Tränen, die sich seit Monaten in mir aufgestaut haben, finden endlich ihren Weg hinaus. Mit ihnen schwindet die Selbstbeherrschung, die meinen Körper aufrecht hielt seit dem Tag, an dem mein Vater mich fortschickte. Zurück bleibt ein Haufen Knochen in einem Sack aus Haut und fremden Kleidern. Ich lehne den Kopf an die Bretterwand der Toilettenkabine, schließe die Augen und wünsche mir nichts sehnlicher als den Tod.
Leise Schritte kommen näher, jemand berührt vorsichtig meine Schulter und sagt einige Worte, die ich nicht verstehe. Ich höre nicht zu. Will niemanden sehen. Mit niemandem sprechen. Aber die Person bleibt hartnäckig. Endlich öffne ich die Augen und sehe eine kleine, dicke Frau mit einem weißen Netz über den Haaren.
»Kann ich dir helfen?«, fragt sie auf Arabisch. Ihr Dialekt ist kaum zu verstehen.
Ich schließe die Augen wieder und wünschte, sie ginge fort, aber sie bleibt, beugt sich über mich, betätigt die Toilettenspülung und wischt mir mit einem Papierhandtuch, das sie am Waschbecken nass macht, über das Gesicht. Sie greift unter meine Achseln und zerrt mich hoch. Ich will nicht aufstehen, aber sie lässt nicht locker. Stellt mich hin, lehnt mich gegen die Wand, holt mehr Handtücher und wischt mir noch einmal über das Gesicht. Dann drückt sie mir Tücher in die Hand und zeigt auf einen Fleck auf meinem Mantel. Mechanisch reibe ich daran herum. Sie drängt mich zum Waschbecken, dreht den Wasserhahn auf und macht eine auffordernde Geste. Ich spüle mir den Mund mit Wasser aus und danach mit dem Pfefferminztee, den die Frau mir bringt, bis der saure Geschmack verschwindet. Dann lasse ich mich von ihr zurück an den Tisch führen.
»Es tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt oder getan habe«, sagt der Kommissar.
Mein Benehmen ist mir so unendlich peinlich, dass ich unfähig bin, ihm zu antworten.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Es kostet mich übermenschliche Anstrengung, den Kopf zu schütteln.
»Soll ich Sie zurückfahren?«
Bevor ich antworten kann, steht der Kellner mit den Hauptgerichten am Tisch. Er stellt die Platten in die Mitte, wünscht guten Appetit und sagt leise auf Arabisch: »Ein Unglück ist wie ein Stück Seife. Erst ist es groß, dann wird es klein.«
Wieder wollen Tränen in meine Augen steigen, und die Versuchung, sie einfach fließen zu lassen, ist unermesslich groß. Aber das darf ich nicht. Kurz vor unserem Abschied war mein Vater so ernst wie nie zuvor in seinem Leben. Er sah mir in die Augen, küsste mich auf die Stirn und sagte: »Sei stark, Madiha. Immer.« Ich habe es ihm versprochen, auch wenn ich damals nicht ahnte, was er von mir verlangte. Gleichzeitig spüre ich die Augen des Kommissars auf mir. Er ist geduldig. Das ist ungewöhnlich in diesem Land, in dem alle Menschen ständig in Eile sind.
Millimeter für Millimeter richte ich meine Wirbelsäule auf. »Entschuldigen Sie bitte.« Ich kann mich selbst kaum hören. »Bitte, essen Sie.«
Der Kommissar nimmt von beiden Gerichten, legt den Löffel auf die Platten zurück, überlegt es sich anders, nimmt ihn wieder in die Hand und tut mir ein Fleischbällchen mit etwas Sauce auf den Teller. Dann beginnt er zu essen.
Meine Hände greifen nach einem Stück Brot und tunken es in die Sauce. Ich koste. Die Sauce ist genau so, wie sie sein soll. Scharf und würzig, etwas bitter und ganz leicht säuerlich. Eher Granatapfel als Zitrone. Mit dem nächsten Stück Brot nehme ich das Fleischbällchen, von dem ich ein winziges Stückchen abbeiße, kaue, schlucke. Dann nehme ich mehr und spüre, wie mit jedem Bissen der Krampf im Magen nachlässt. Ich kann das Glück, das ich bei den Vorspeisen verspürt habe, nicht mehr empfinden, aber das warme Essen mit den gewohnten Aromen spendet ebenso viel Trost wie Kraft.
Wir beenden die Mahlzeit schweigend, und so habe ich Zeit, meine Gedanken aus den klebrigen Fäden der Erinnerung zu befreien und in die Gegenwart zurückzukehren. Der Kommissar bestellt Kaffee.
»Erzählen Sie mir von Harun.«
Das Wenige, was ich weiß, gebe ich wieder, obwohl ich nicht mehr sicher bin, ob auch nur ein Wort davon wahr ist: Er erzählte mir, er sei allein, seine Familie tot. Er habe studiert, bevor der Krieg ausbrach, um Ingenieur zu werden. Er wollte Brücken bauen, nichts anderes. Nur Brücken. In seinem Zimmer, erzählte er, habe er Hunderte Bilder von Brücken gehabt, von der Golden Gate Bridge in Amerika bis zur Brücke, die Dänemark mit Schweden verbindet. Ich hatte von keinem dieser Bauwerke je zuvor gehört und konnte mir nichts darunter vorstellen, aber Harun konnte stundenlang darüber sprechen. Und doch – das wird mir mit einem Mal klar – wird mir nichts von dem, was ich über ihn weiß, helfen, ihn zu finden.
Von dem Brief, dem Foto und dem Ring, die ich bei seinen Sachen gefunden habe, sage ich nichts – aus Scham darüber, dass ich sie früher nicht erwähnt, geschweige denn mit dem Pass ausgehändigt habe.
»Hat Harun jemals eine Bemerkung darüber gemacht, warum er nach Deutschland wollte?«
Hat er? Wollte er hier die Universität besuchen, um Ingenieur zu werden?
»Nein.«
»Hatte er ein konkretes Ziel? Einen Ort? Eine Stadt?«
»Ich glaube nicht.«
»Aber dass er nach Deutschland wollte, das war klar? Nicht nach Dänemark oder Schweden, wo die Brücke über den Großen Belt führt, oder in die Niederlande?«
»Deutschland. Ganz sicher.«
»Hat er Namen erwähnt von Menschen, die er treffen wollte? Die ihm nahestanden? Oder von denen er sich Hilfe erhoffte?«
»Nein.«
Immer mehr will er wissen, aber ich kann ihm nicht helfen. Auch ist mir der Sinn seiner Fragen unbegreiflich, aber ich wage nicht, mich danach zu erkundigen.
»Halten Sie es für denkbar, dass der Mann, den Sie als Harun kennen, sich zwar noch in Deutschland aufhält, aber an einem geheimen Ort? Dass er nicht gefunden werden will? Von niemandem?«
Ich denke sorgfältig über diese Frage nach. Harun gab mir den Zweitschlüssel zu seinem Spind mit der Bemerkung ›falls mir etwas zustößt‹. Hätte er die Absicht gehabt, zu verschwinden, hätte er mir sagen können, dass unser gemeinsamer Weg nun zu Ende sei. Ich wäre traurig gewesen, hätte aber seine Entscheidung nicht infrage gestellt. Ich wäre nicht zur Polizei gegangen. Erst durch seine Bemerkung fühlte ich mich verpflichtet, mich in seine persönlichen Angelegenheiten zu mischen und ihn zu suchen.
»Nein, das glaube ich nicht.«
Den Mokka, den der Kellner aus einer Messingkanne mit geradem Griff in kleine Porzellantassen füllt, trinken wir schweigend. Dann sieht der Kommissar auf die Uhr. »Ich bringe Sie jetzt in Ihre Unterkunft – oder wohin Sie wollen.«
Ich wüsste nicht, wohin ich sonst gehen sollte, also nicke ich.
Er bestellt die Rechnung, zahlt und bedankt sich bei dem freundlichen Kellner.
Auch ich danke ihm mit gesenktem Kopf.
»Pass auf dich auf, meine Schwester«, sagt er auf Arabisch. »Und wenn du etwas brauchst, komm her!«
Überrascht hebe ich den Blick.
Er steckt dem Kommissar und mir jeweils eine Visitenkarte zu, nickt ernst und hält uns mit einer kleinen Verbeugung die Tür auf.
Wieder schaue ich während der Fahrt aus dem Fenster. Bald verlassen wir die Innenstadt, die Häuser weichen zurück, die Welt wird wieder flach. Der Horizont wird sichtbar, was große Erleichterung in mir auslöst, die mir erst klarmacht, wie sehr mich die engen Straßenschluchten ängstigen. Wie soll man sich ohne Horizont orientieren? Ohne Blick auf die Sonne, die hier so tief steht, dass selbst ein kleines Haus sie verdecken kann. Sofern sie jemals scheint. Es ist eine seltsame, fremde Welt in Grau und Braun, die draußen vorbeifliegt, aber wenigstens ist sie offen. Dann kommt der hohe, schlanke Kirchturm in Sicht, verschwindet links am Wagen vorbei nach hinten, und nach weiteren Minuten erkenne ich die Straßen des Ortsteils, in dem ich jetzt lebe. Am äußersten Rand einer blitzsauberen Stadt, mit vierhundertsiebenunddreißig fremden Menschen in einer Unterkunft aus Containern, die aus allen Nähten platzt.
»Passen Sie auf sich auf«, sagt der Kommissar, als ich die Tür öffne, um auszusteigen.
»Warum sagen Sie das?«, frage ich mit klopfendem Herzen. »Droht mir Gefahr, weil ich Harun kannte?«
»Ich hoffe nicht.«