Es ist wie es ist: Da ich genau hingesehen habe, da ich gezwungen war, auch das zu suchen, was für das bloße Auge nicht sichtbar ist, habe ich zwangsläufig ein paar Entdeckungen gemacht, darunter auch Entdeckungen, die schwer zu ertragen sind. Aber das ist das Los von jemandem, der sucht, er stolpert irgendwann über etwas, wenn man das so sagen kann. Und in diesem Falle war der dickste Stolperstein ein Abkommen zwischen Japan und der Europäischen Union, das Frankreich und noch ein paar Staaten gestattete, die Honda 900 CBR Fireblade sofort nach ihrer Fertigstellung 1991 zu vertreiben. Damals wurde sie auf der Motorradausstellung von Paris vorgestellt und war einer der Stars dieses Jahres, obwohl sie in Japan weiterhin verboten blieb, weil als zu gefährlich eingestuft. Für den Straßenverkehr nicht zugelassen, ausschließlich für den Wettbewerb. Ein vierminütiger Film, der live auf der Messe gedreht wurde, stellt diesen neuen Supersportler vor, dessen Leistung mit den 1000ern dieser Kategorie vergleichbar ist. Bevor die Modifizierungen, die seither andauernd stattfinden, das Leistungsgewicht noch einmal erheblich senken (130 PS zu 180 Kg, für die Kenner), was dem Modell für den Jahrgang, der uns hier interessiert, nämlich die Version 1998 oder vierte Generation, erlaubte, eine Höchstgeschwindigkeit von 270 km/h zu erreichen. Mit anderen Worten: Tadao Baba wurde von seinem Arbeitgeber ermutigt, einen vorher nie dagewesenen Wettbewerb um die höchste Leistung zu beginnen.
Dass dieses Motorrad in Japan keine Zulassung bekam, weil es als zu gefährlich angesehen wurde, darüber komme ich nicht hinweg. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Ich weiß das seit der auf den Unfall folgenden Woche, seit dem Tag des Begräbnisses, an dem Claudes Schwager, ein erfahrener Motorradfahrer und großer Spezialist in Sachen Motorradführerschein, der seine Kindheit in der Sozialbausiedlung von Rillieux mit ihm verbracht hatte, bevor er seine Schwester Nicole heiratete, voller herzlichem Mitgefühl dabei gewesen war, und an dem er mir dann diese unerwartete Neuigkeit mitteilte. Sie wurde mir später von mehreren Freunden bestätigt, die sich im Zweiradmilieu auskannten und zu verstehen gaben, dass das in ihren Kreisen wohlbekannt war. Von Unfällen mit einer 900 CBR hatte jeder schon gehört. Das war ein Motorrad, das sie unbeherrschbar nannten, für die Rennstrecke gebaut und den Wettbewerb.
Paul erklärte mir, dass es für bestimmte Modelle in Japan ein Veto gab, zum Beispiel für die 750er Kawasaki Ninja, auf die sich die heißblütigen französischen, italienischen oder spanischen jungen Männer geradezu stürzten, und die sie spaßeshalber die Todesmaschine nannten oder den Fliegenden Sarg. Mit der Honda 900 CBR verhielt es sich genauso, eine Maschine für Könner, eine Bombe für einen Kamikaze. Verboten bei den Japanern, die angesichts ihrer meist schmalen und kurvigen Straßen keine Lust auf einen Abflug in die Botanik hatten. Ihre Industrie unterschied die Produktion für den Heimatmarkt vom Export. Wie alle Industrien, allerdings nach merkwürdigen Kriterien. Paul erzählte mir auch, dass die französischen Motorradfahrer sich über die Japaner lustig machten: Wir fahren bessere Bikes als die, dabei sind sie es, die sie gebaut haben! Als wäre das ein Privileg, als wäre diese Freiheit ein weiterer Beweis für die Überlegenheit der Franzosen über den Rest der Welt. Die bauen sie, aber wir bringen uns damit um. Ein bisschen wie mit den Waffen, die die französische Industrie über die Weltmeere schickt. Bloß kann man bei einer Waffe darauf kommen, dass sie zum Töten gedacht ist.
Mehrere Freunde empfahlen mir, einen Prozess anzustrengen. Aber wie auch immer er ausgegangen wäre, hätte nichts geändert, und ich hatte nicht vor, den Rest meines Lebens mit dem Versuch zu verbringen, nachzuweisen, dass ein Mann wegen eines übermotorisierten Motorrads gestorben ist. Ich hätte damit genau solche Schwierigkeiten gehabt wie die, die wegen eingeatmetem Asbest oder verschlucktem Glyphosat leiden oder während ihrer Militärdienstzeit in der algerischen Sahara verstrahlt worden sind. Ich hätte Beweise über Beweise anhäufen müssen, Expertisen erstellen lassen, und wäre aus dem Ganzen nie wieder aufgetaucht. Und davon abgesehen: Wie soll man beweisen, dass etwas, das vom französischen Staat homologiert wurde, in Wirklichkeit eine mörderische Falle ist? Wer homologiert ein für den Wettbewerb konstruiertes Motorrad in Frankreich, Spanien oder Italien für die Straße? Und was soll homologiert überhaupt heißen? Auch da habe ich entdeckt, dass der Gradmesser für Gefahr, also das Leistungsgewicht, kein Kriterium ist. Was die DREAL (Regionalbehörde für Umwelt, Flächennutzung und Wohnungsbau), die verantwortlich für die Zulassung ist, berücksichtigt: die Blinker, die Bremslichter, die Rückspiegel, das Nummernschild, die Abgaswerte, die Lautstärke. Kein Wort über Gefahren, wo doch in unseren Tagen die Sicherheitstechnik enorme Fortschritte gemacht hat mit Traktionskontrolle, Wheelie-Control, dem Bremssystem ABS, dem Regenmodus … was doch alles die Unfälle verringern helfen soll.
Claude hätte laut der Straßenverkehrsordnung sein Fahrzeug beherrschen müssen. Und genau da liegt das Problem, später mehr dazu. Denn man hat keine Ursache für den Unfall gefunden, das sagt der Polizeibericht. Auch wenn es obszön wirkt, dass das, was für die Japaner als gefährlich gilt, es nicht für die Franzosen ist. Auf der Basis welches Exportabkommens, welcher Handelsbilanz, welches Austauschs, welcher Globalisierung, welcher wirtschaftlichen Kriterien?
Ich habe viel Zeit mit Nachforschungen rund um diesen Skandal verbracht und um die Spuren, die von dieser Anomalie noch sichtbar sind. Mit Spuren meine ich die im Internet (aber damals gabs noch kein Internet, also wenig Worte), persönliche Erfahrungen, Blogs, Diskussionsforen und auch solche aus Zeitschriften. Ich wollte Gewissheit: War es Claude oder war es das Motorrad? Lag es am Schicksal, das ich bereits einmal erwähnt habe? Lag es an der Unreife dessen, der ausborgt, dessen, der nimmt? Lag es an einem Ölfleck auf der Fahrbahn, einem Wespenstich, der Sonne in den Augen, einer Katze, die die Straße überquerte? Lag es an der Freude und dem Enthusiasmus, die einen zu heftig am Gasgriff drehen lassen? Lag es an der Angst vor dem Umzug? Sie wissen doch, wie wichtig es ist, jemandem die Schuld zuzuschieben. Auch wenn man es selbst ist.
Ich bin an den Ort des Geschehens zurückgekehrt, ich habe alles ins Kalkül gezogen, die Ost-West-Richtung der Fahrt, den Pollen, der zu dieser Jahreszeit zwischen den Platanen umherweht, die beiden Fußgängerüberwege, die Bushaltestelle, die Platzierung der Mülltonnen, die Parkplätze, die Kreuzung mit der Rue Jacquier, die Portale der Bürgerhäuser entlang des Boulevards, die Namen auf den Briefkästen – nur um irgendeinen Hinweis zu finden.
Ach ja: Und das Motorrad gibt es nicht mehr, diese lügnerische Honda ist schließlich im Jahr 2004 vom Markt genommen worden. Auf dem aktuellen Portal der Firma Honda, einem Wunder von elegant designter Website, ist zu lesen, dass sie der 1000 CBR Fireblade Platz gemacht hat, die nun unter der Rubrik Supersport eingeordnet ist und nicht mehr bei Tourer und Sporttourer , und damit ist die Diskussion beendet. Die Überschrift über diese Rubrik lautet Absolute Leistung . Damit gibt es nun keine Verwirrung, und eine unscharfe Vergangenheit gibt es auch nicht mehr.
Bleiben mir noch die Websites der Zeitschriften, wie Auto Moto , Moto Journal oder Moto Mag , auf denen Journalisten Testberichte und Kommentare veröffentlichen. Was ich da lese, ist vielsagend, beispielsweise, dass die Honda 900 CBR »es erlaubt, allerdings auf eigene Gefahr und unter schrecklichen Bedingungen, den Tacho auf runde 260 hochzubringen«. Ich versuche mich an diese Terminologie der Katastrophe zu gewöhnen, an diese Lyrik der Lebensgefahr, die denjenigen, der das Abenteuer versuchen will, offenbar auf das große Zähneklappern vorbereiten soll.
Ein Journalist setzt noch einen drauf: »Die Honda 600 CBR war schon bissig, aber es fehlten ihr die entscheidenden Pferdestärken, um sie wirklich gefährlich zu machen. Mit dem Motor der 900er überschreiten wir diese Grenze.«
Und um diese interessante Offenbarung noch zu verstärken: »Der Vierzylinder-Reihenmotor der 900 CBR von 1991 wurde überarbeitet, um noch zusätzlich an Kraft und Aggressivität zu gewinnen. Mit dem Schub, den er jetzt auslöst, ist man schneller als gedacht beim Wheelie . Anfänger sollten also ihrer Wege gehen und sich ein passenderes Modell heraussuchen, wenn sie sich nicht selbst Angst machen wollen oder Schlimmeres.«
Sic.
Genau das ist Claude beim Anfahren an einer Ampel geschehen. Aufbäumen aufs Hinterrad, Kontrollverlust, und dann tatsächlich Schlimmeres und Schlimmstes. Genau das, was in einem Testbericht einer Motorradzeitschrift ganz ernsthaft angekündigt wurde.
Wheelie bedeutet auf dem Hinterrad fahren. Niemand (außer Motorradfahrern) benutzte diesen Ausdruck damals. Mittlerweile gehört er angesichts der neumodischen Rodeos in der Banlieue, die nichts anderes sind als Wheelie -Wettrennen bei hoher Geschwindigkeit, zum Alltag.
Ich kann es immer noch kaum nachvollziehen, dass mein Leben manchmal aus nichts anderem mehr bestand als der Zeit, die ich damit verbrachte, aus irgendwelchen Motorradportalen Informationen zu ziehen. Ich suchte nach irgendeiner kleinen Netzcommunity, die wie ich die Gefährlichkeit dieser Honda teuer bezahlt hätte. Ich wollte nicht das Opfer spielen, aber ich suchte nach einer Bestätigung meiner Ahnungen. Ich habe versucht, vorsichtige Fragen zu stellen, unter Pseudonym, ich wurde zu Verstopfer, Vergaser . Ich wartete auf Antworten, auf Auskünfte, ich befürchtete, unter dem Ansturm der Reaktionen begraben zu werden, aber niemand hat sich jemals gemeldet, was mir auch schon wieder merkwürdig vorkam. Als gäbe es eine stillschweigende Übereinkunft, Gras über die bösen Erinnerungen wachsen zu lassen. Als würde das Korrekte vom Undenkbaren getrennt werden. Aber wer sollte eine solche Trennung vornehmen?
Es fiel mir schwer, es war nicht meine Welt, mich mit Motorradfahrern auszutauschen, von denen ich glaubte, sie hätten kein anderes Gesprächsthema als Pferdestärken und Geschwindigkeit, wie Claude manchmal gespöttelt hatte. Aber ich musste da durch, es war eines der wichtigsten Teile des Puzzles, das ich begann zusammenzusetzen.
Ich stelle mir das Motorrad vor, das in diesem Jahr 1998 aus der Honda-Werkshalle in Osaka kommt, den Transport im Lastwagen via Straße, Autobahn, Uferstraße über dem Hafen, dann die Einschiffung auf einen Frachter. Zollformalitäten. Elftägige Überfahrt, raue See, Mannschaft. Suezkanal. Mittelmeer. Atlantik. Ankunft im Hafen von Le Havre. Ausladen, Kräne, Hafenarbeiter, Möwen, Streik gerade noch abgewendet, Lagerung im Güterschuppen bis zur Einfuhrgenehmigung. Abstempeln der Lieferscheine, Zollabfertigung, Aufladen auf einen Transporter der Marke Renault Truck, LKW-Fahrer, dem das Spaß macht, Motorräder auszuliefern, er ist selbst Bikefahrer, ein Pole, wir sind in Europa. Homologation. Honda-Zwischenlager in der Pariser Banlieue. 1 Fahrzeug bestellt von meinem Bruder, Auslieferung im Herbst 1998 bei einem Händler in Lyon. Oktober, November, Dezember, Januar, Februar, März, April, Mai. In der Garage meines Bruders ist es weit weg, inexistent, ungefährlich. Und dann plötzlich steht es bei mir, bei uns, in der Garage des neuen Hauses, in das wir Samstag, den 26. Juni 1999 einziehen sollen. Unversehens durch unsere Tür gekommen, ein Einbruch.
Ich fasse zusammen.
Das Haus, die Schlüssel, die Garage, meine Mutter, mein Bruder, Japan, Tadao Baba, die Urlaubswoche, Hélène, meine Pressereise. Das fängt an, ein verdammtes Kuddelmuddel zu werden.