16.

Wenn ich meinem Bruder keinen Gefallen getan hätte

Man kann sich seine Gedanken machen über diesen so grundlegenden Begriff des »einen Gefallen tun«. Was mir gehört, gehört immer auch ein bisschen meinem Bruder. Seit unserer Kindheit. Ich gebe, ich nehme, ich gebe zurück. Einmal ich, einmal du. Wir sind Familie, wir schnauzen uns an, wir messen uns mit Blicken, wir werfen uns manchmal heimlich Beleidigungen an den Kopf, wegen der politischen Unterschiede, wegen dieser Unvereinbarkeit. Wenn dann noch die Liebe dazukommt, schlägt das verdammt hohe Wellen. Man geht an die Decke, man glaubt ja wohl seinen Ohren nicht, aber zum Geburtstag des kleinen Bruders stößt man miteinander an. Es gelingt einem, den Minimalkonsens zu wahren. Man sagt einander abfällige Sätze, man versteht sich einfach nicht, es geht hoch her, wenn einer von beiden seine Meinung verteidigt, man fährt einander in die Parade, und dennoch tut man sich zusammen für ein Geschenk an die Eltern. Man übergeht die Sturheiten, die Abstürze, man schließt die Augen angesichts der Lebensentscheidungen, man ist tolerant. Das ist das Schlüsselwort: Toleranz. Man toleriert, weil man Bruder und Schwester ist. Aber muss man eigentlich wirklich tolerieren? Ich halte mich nicht für schlauer. Ich belehre manchmal von oben herab als die große Schwester, die ich nun mal bin, und ärgere mich hinterher über den überheblichen Ton, der mir einfach so entschlüpft. Ich bekomme vorgeworfen, zur moralistischen Linken zu gehören, wenn ich die Migranten so großartig finde, warum lebe ich dann nicht mit ihnen. Mit der Zeit ist Moralist zu proislamischem Linken geworden. Solche Nadelstiche setzen wir, in dem Ton kommunizieren wir. Aber eben trotz allem Bruder und Schwester. Selbst wenn man sich den Bauch hält vor Lachen und sich die Nase zuhalten muss.

Mein Bruder lässt mich von den Preisnachlässen profitieren, die er in Geschäften aushandelt, wozu ich unfähig wäre. Ich habe ihm geraten, als er zwanzig war, sich nicht freiwillig für den Krieg im Libanon zu melden. Ein Ratschlag gegen Waren, die vom Laster gefallen sind. Er besorgt mir Autoteile, ich sitte mittwochs seine Tochter.

Er fährt Motorrad wie Claude, er liebt die Supersportler – danke, das hatten wir jetzt verstanden –, während Claude ruhig auf einem harmlosen Tourer rollt, manchmal quatschen sie über Technik, Fahrstil oder Ersatzteile. Sie haben da ein gemeinsames Feld, ein Gesprächsthema und ansonsten das geheime Einverständnis, das unter Schwagern herrscht. Ihre guten Tipps, was günstige Versicherungen betrifft.

Hätte ich Nein sagen können? Nein, du stellst dein Bike nicht in meiner Garage ab. Nein, ich habe kein gutes Gefühl dabei. Aber ich hatte keinerlei Vorbehalt dagegen, keinerlei Bedenken, nichts hat mich daran gestört, wirklich gar nichts. Im Gegenteil, es hat mich gefreut, ihm einen Gefallen tun zu können, ich war ohnehin überglücklich, dass ich endlich dieses Haus hatte kaufen können, diesen unverhofften Schatz, den wir jetzt in den Sommermonaten und im ganzen nächsten Jahr umbauen würden. Es freute mich, dass ich meinem Bruder einen Gefallen tun konnte, der nicht die Mittel besaß, sich ein Haus leisten zu können. Wobei er durchaus 10.000 Euro für ein Motorrad hinblätterte. Vielleicht ein Komplex, die Schuldgefühle derjenigen, die es sich leisten kann, obwohl ich mich gut erinnere, dass ich jedem, der es hören wollte, gesagt hatte, das Haus gehöre allen, ein Kommunismus neuer Art, der sogar den Privatbesitz umfasst.

Mein Bruder hat seine sehr sperrige Honda also am Freitagabend, dem 18. Juni, in unserer Garage abgestellt, oder besser gesagt, dem Raum im Erdgeschoß, aus dem unser zukünftiges Wohnzimmer werden sollte. Er hat eine massive Diebstahlsschutzkette am Vorderrad befestigt und das andere Ende an einem Stützpfosten (der Raum war ursprünglich ein Stall gewesen, in den Wänden sah man noch die Spuren der Futtertröge, darüber hatte ein Heuboden gelegen, dessen Gewicht die Balken mit der Zeit durchbog, so dass Stützpfeiler gesetzt werden mussten, das erklärte mir ein paar Jahre später ein Maurer, den ich gefragt hatte, ob man diese Pfosten mitten im zukünftigen Wohnzimmer nicht entfernen könne) und dazu erklärt, dass man ihm diese Maschine nicht klauen werde. Dann streichelte er ihren Sattel, als wäre es die Kruppe eines Pferds, mit einer Zärtlichkeit, die er gegenüber seinen Motorrädern zu zeigen in der Lage war, und entfernte sich schließlich, als müsse er sich losreißen. Seine Frau brachte ihn im Auto nach Hause. Dann fuhr er seelenruhig in Urlaub, mit Frau und Tochter, aber ohne unseren Sohn. Wir hatten ausgemacht, dass er bei seiner Rückkehr in einer Woche das Motorrad wieder abholen würde.

Claude sagte zu unserem Freund Marc, mit dem wir am Sonntag ein paar Stunden unter dem Kirschbaum verbrachten, um die neuen Gartenmöbel zu testen, die wir gerade auf dem Flohmarkt gekauft hatten, Claude sagte also, auf das Motorrad deutend, dessen massive Präsenz die Atmosphäre im Erdgeschoß des Hauses durcheinanderbrachte: Das ist echt verboten, eine scharfe Bombe, da darf man nicht drangehen.

Marc hat mir das hinterher erzählt.