Ich habe nach dem Ereignis gesucht, nach der Nachricht, dem Sandkörnchen oder dem Skandal internationalen Ausmaßes, der Claude auf ein anderes Gleis gebracht und verhindert hätte, dass er die Honda nimmt. Was hätte geschehen müssen, damit Claude gewarnt gewesen wäre, welche Entdeckung, welche Zeitungsüberschrift, damit er das Odium der Gefahr spürt, das an diesem Tag in der Luft lag.
Ich wollte alles herausfinden, was am Vortag des 22. Juni 1999 in der Welt passiert war, und am Tag davor und an dem davor, und was dem Schicksal Steine in den Weg gelegt hätte, etwas, das Claude auf die Fragilität des Lebens aufmerksam gemacht hätte, ihm Angst eingejagt, ihm einen richtigen Schock versetzt hätte von der Art, dass man danach nur noch bei Grün über den Zebrastreifen geht. Aber ich habe nur Informationen gefunden, die nicht gerade umwerfend waren, nur routinierten Alltagskram, wie er den Planeten an diesem Ausgang des 20. Jahrhunderts beschäftigte.
Was ich gefunden habe, waren nebensächliche Sportergebnisse, wie dass Australien im Cricket gegen Pakistan gewonnen hatte, uninteressante Wirtschaftsmeldungen von der Art Elf verliert die Übernahmeschlacht um den Mineralölkonzern Saga, Infos aus der internationalen Politik. Ich fand Nachrichten über die Inspektoren des Gesundheitsministeriums, die schon damals protestierten und eine bessere finanzielle Ausstattung der Kliniken forderten. Ich entdeckte, dass der Schriftsteller Mario Soldati verstorben war, das hatte ich vergessen, immerhin Mario Soldati, das hätte etwas auslösen können, aber er war 92-jährig eines natürlichen Todes gestorben, also nichts Skandalöses, nichts, wo es einem kalt den Rücken runterläuft. Ich habe gesehen, dass Jacques Chirac bei der letzten Umfrage des Instituts IFOP 58 % Zustimmung erhalten hatte und dass die G7, die sich in Köln getroffen hatten, beschlossen, die Schulden der ärmsten Länder zu reduzieren, und dass in Iran Journalisten verhaftet worden waren.
Ich war enttäuscht, ich wollte etwas finden, das die Welt hätte stillstehen lassen, sogar nach hinten, selbst nach all dieser Zeit, ich wollte der Geschichte eine Chance geben, sich anders zu entfalten; es musste doch in all diesen Ereignissen, in dieser ganzen Lawine mehr oder minder bedeutender Informationen, die eine geben, die Claude in seinem Elan gestoppt haben könnte. Beim Durchblättern einer zwanzig Jahre alten Nummer des Nouvel Obs stieß ich auf eine Seite, die vom vorzeitigen Tod Elie Kakous am 19. Juni 1999 berichtete. Elie Kakou, da klingelte irgendetwas, also wollte ich mehr über diesen Tod wissen, 39 Jahre, das war fast das gleiche Alter wie Claude, aber hier war es Aids, daran hatte ich mich nicht erinnert. Elie Kakou, jetzt kam es mir wieder, das war der berühmte Sketch um Madame Sarfati, den wir mit seiner Familie während der Ferien im Süden gesehen hatten und der alle zum Lachen brachte, weil er sagte, sie hätten »da unten« alles zurückgelassen, die Pieds-Noirs, zu denen auch Claude und seine Eltern gehörten, und sie wären »eine Hand vorne, eine Hand hinten« nach Frankreich gekommen, derselbe Ausdruck, den auch Claudes Mutter benutzte mit dem dortigen Akzent und der für sie typischen Selbstironie. Alles brachte mich nur auf Claude, auch wenn der Tod Elie Kakous nichts geholfen hatte. Ich unterbrach alles und sah mir stattdessen auf meinem Bildschirm Sketche von Elie Kakou an. Ich war an meinem Schreibtisch festgenagelt, in dem kleinen Hinterzimmer, das zu meinem Arbeitszimmer geworden war, und ich lächelte, als ich ihn die Szene mit dem Kibbuz spielen sah, ich doppelklickte und lachte, ach ja, der gute Elie Kakou, ihm musste es gegen Ende auch dreckig gegangen sein. Ich sprang von Video zu Video, das war leichter als zu schreiben, aber es half nichts, der Tod Elie Kakous hatte den Claudes nicht verhindern können. Wenigstens konnte ich lächeln, während ich an Claude dachte, ich verbrachte lange Zeit auf YouTube, ich war ziemlich weit abgetrieben, und mir wurde bewusst, wie sehr erfüllt von Liebe ich noch zwanzig Jahre später war.
Aber ich gab nicht auf, ich versuchte das Ereignis dingfest zu machen, unmöglich, dass keinerlei Aktualität, kein Skandal, keine Tragödie an jenem Tag Claude beeinflusst hatte, dass der Schmetterlingsflügel ihn nicht wenigstens gestreift hat. Die Nachricht über die Schließung von Tschernobyl änderte nichts, die Börsenrallye in Paris in jener Woche ebenso wenig, die Anklage gegen Claude Évin wegen fahrlässiger Tötung in der Affäre der verunreinigten Transfusionen ebenfalls nicht.
Ich fing an, wütend zu werden, ich wollte, dass die Tagesaktualität endlich ihren Überraschungscoup ausspuckte, der unter der Hand bis ins Bewusstsein Claudes vorgedrungen wäre und verhindert hätte, dass er zum Haus der Merciers hinaufgeht.
Ich war mir sicher, dass es diese Information irgendwo geben musste, ich zerbrach mir den Kopf, um mich zu erinnern. Nach der Verschnaufpause mit Elie Kakou blätterte ich Terminkalender durch, wühlte mich durch Archive, die Ausgaben von Le Monde von 1999 (in einigen von denen Artikel Claudes waren), die ich beim Umzug mitgenommen und in Reichweite in einem Karton aufbewahrt hatte, denn ich hatte mir gesagt, dass ich dort vielleicht eines Tages so etwas wie eine Spur von Claudes letzten Tagen finden würde, so etwas wie eine Zeitstimmung, eine Atmosphäre, die mich mit ihm verbände, und die ich um nichts in der Welt vergessen wollte. Außerdem hatte ich einige Ausgaben von Libération behalten und den gesamten Jahrgang der Inrockuptibles , von Rock & Folk und vom New Musical Express , also all die Blätter, die sein täglich Brot dargestellt hatten.
An diesem Tag arbeitete ich wie meistens nicht, sondern blätterte durch die Zeitungen, sah mir Videos an, irrte umher und war wieder einmal kurz davor, mit alldem aufzuhören. Meine Suche kam mir sinnlos vor, wofür sollte sie schließlich und endlich denn gut sein?
Und dann entdeckte ich einen Artikel, der von dem Unfall berichtete, den Stephen King drei Tage vor dem von Claude erlitten hatte, also am Samstag, dem 19. Juni 1999 gegen 16.30 Uhr, während er dort auf dem Land in Maine, wo er lebte, seinen täglichen Spaziergang machte. Ich erinnerte mich, wie sehr uns das mitgenommen hatte, ich hatte es vollständig vergessen, Stephen King war von einem Kleinbus erfasst und in den Straßengraben geschleudert worden. Er war in einem üblen Zustand, bewusstlos, mit multiplen Knochenbrüchen, geborstenen Rippen und einer durchbohrten Lunge.
Claude war ein Leser Kings, vor allem aber ein wahnsinniger Fan von Shining , worauf er beim Kauf des Hauses, das auch ein wenig isoliert lag, angespielt hatte, und von der Musik dieses Films (komponiert von Wendy Carlos), die ihn so beeindruckt hatte, dass er sie zum Thema eines Seminars für seine Studenten gemacht hatte (ab und zu wurde er mal als Dozent eingeladen).
Als wir von Stephen Kings Unfall erfuhren, fragten wir uns, welche Titel wir von ihm in unserer Bibliothek hatten, aber die Bücher waren alle bereits eingepackt oder sogar schon an unsere neue Adresse transportiert.
Das war sie also, die Nachricht, die Claude davon hätte abhalten können, sich in Gefahr zu begeben, wäre sie nur etwas schlimmer gewesen. Stephen King schwerverletzt, aber das war nicht ausreichend, er hätte schon tot sein müssen.
Er war mit einem Hubschrauber ausgeflogen worden, und Journalisten aus der ganzen Welt standen Schlange vor dem Krankenhaus, in dem die Chirurgen gezögert hatten, ihm ein Bein zu amputieren. Er war gerade so davongekommen, kräftig durchgeschüttelt, aber am Leben. Und genau das macht den ganzen Unterschied aus, es erinnert uns zwar daran, dass der Tod irgendwo lauert, löst stattdessen aber den großen Nervenkitzel aus, der einen eher risikobereit macht, als besonders vorsichtig. Was ich später erfuhr, da nur ich noch in der Lage bin, noch etwas zu erfahren, das ist, dass Stephen King genau die Schmerztabletten verschrieben bekam, die ihn wieder in seine Abhängigkeiten stürzten, und dass er eine fetischistische Fixierung auf die Zahl 19 entwickelte, weil der Unfall an einem 19. Juni passiert war, genau wie ich von da ab der Zahl 22 einen ängstlichen Kult widmete.
Stephen King kam davon, er entging um Haaresbreite der Katastrophe, die, wäre sie geschehen, Claude mit Sicherheit dazu gebracht hätte, es sich zweimal zu überlegen. Ich glaube, ich habe es Stephen King nicht verziehen, dass er es überlebt und nie etwas für mich getan hat.