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Dort standen sie nun, mitten im Schnee, mitten im Nirgendwo.

»Und jetzt?«, fragte Daniel.

»Weiß ich doch nicht«, gab Lukas zurück, ein bisschen giftiger, als er beabsichtigt hatte.

»Jungs, jetzt streitet doch nicht, wir finden bestimmt eine Lösung, wenn wir einen kühlen Kopf bewahren.«

»Wir haben einen kühlen Kopf«, erwiderte Daniel. »So kühl, er friert uns bald ab.« Er zog seine Mütze tiefer ins Gesicht.

Ilona schnalzte mit der Zunge. »Lukas, du hast doch bestimmt Straßenwalzes Tablet mitgenommen?«

Lukas hob die Hände. »Sieht das vielleicht so aus, als hätte ich es? Ich habe es in der Wohnung gelassen, als uns dieser Cratelatus-Typ geholt hat.«

Ilona schlug sich die Hände vors Gesicht. »Heißt das, dass alles auch noch völlig umsonst war?«

»Nicht umsonst«, warf Daniel ein. »Wir wissen immerhin, dass sie Herrn Stretmanni nicht in Strangecity gefangen halten, sondern bei uns. An einem Ort mit drei Zacken.«

»Bei McDonalds«, quietschte Linda und hüpfte aufgeregt herum.

»Nein, Linda.« Lukas seufzte genervt. »Das McDonalds-Zeichen hat nur zwei Zacken, und das sind auch eher Bögen. Außerdem waren die Zacken nicht gelb, das wäre uns doch sofort aufgefallen.«

»Das war ja auch nur ironisch gemeint.«

»Du weißt doch gar nicht, was Ironie ist.«

»Weiß ich dohoch.«

»Leute, jetzt seid doch mal leise. Ich will vielleicht heute noch eine Stunde oder zwei schlafen, damit ich vor Müdigkeit nicht den Berg hinunterkugle.« Ilona warf ihnen ihren Jetzt-ist-aber-mal-gut-Blick zu.

Schweigend stapften sie durch den Schnee zurück in ihre Unterkunft. Doch kaum hatte Lukas im Bett die Augen zugemacht, klingelte auch schon wieder der Wecker, und Sylvia klopfte kräftig gegen die Tür, um sie aus den Federn zu holen.

Lukas brauchte drei Tassen Kaffee, um einigermaßen aus den Augen zu sehen, und den Blicken von Ilona und Daniel nach zu urteilen schien es ihnen da nicht anders zu gehen.

Nur Linda hatte anscheinend eine nie endende Energiequelle, denn sie hüpfte und tanzte im Frühstücksraum herum, als wäre nichts gewesen.

Alles in allem war Lukas heilfroh, als sie wieder nach Hause fuhren.

Kaum zu Hause angekommen, warf er seine Reisetasche achtlos in eine Zimmerecke und machte sich auf die Suche nach Eezbeez. Er musste ihm alles erzählen. Von Eckbert, Resti und Nora. Von der wilden Jagd in den Gängen von Strangecity. Wie sie in Straßenwalzes Wohnung gekommen waren und schließlich vom Blackout. Vielleicht konnte er ja Nora kontaktieren. Vielleicht hatte sie es noch mal in Straßenwalzes Wohnung geschafft und konnte sein Statement holen. Oder vielleicht wusste Eezbeez, wo in Griedlohe sich diese ominösen drei Zacken befanden. Vermutlich kam er allerdings nicht so oft aus der Wohnung raus, aber schließlich war er Doktor-Doktor-was-wusste-er-schon.

Doch Eezbeez war nirgendwo.

Er war weder in Lukas’ Zimmer noch im Wohnzimmer, wo er sich am meisten aufhielt. Und auch das Arbeitszimmer von seinem Vater war komplett katzenlos.

Er klopfte an Lindas Tür, aus der schon wieder so ein Plastikpopquietschlärm kam.

»Linda!«

Keine Antwort.

»Linda!« Er stieß die Zimmertür auf, wo Linda gerade zu besagter Musik herumtanzte und die Klamotten aus ihrer Tasche quer durch ihr Zimmer warf. Als sie Lukas bemerkte, erstarrte sie und rannte wie eine Furie mit einem »Mach gefälligst die Tür wieder zu« auf Lukas zu.

Doch bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuknallen konnte, hielt Lukas den Türgriff fest und drückte dagegen.

»Hast du vielleicht Eezbeez gesehen?«, fragte er, während er sich mit seinem gesamten Gewicht gegen die Tür stemmen musste, um nicht ausgesperrt zu werden.

»Nein, der ist doch bei dir.« Linda warf sich nun auch mit ihrem gesamten Gewicht gegen ihre Tür. »Und jetzt. Geh. Weg.«

»Nein, bei mir ist er nicht.« Lukas stemmte sich weiterhin gegen die Tür.

»Na, dann ist er eben in seinem Geheimversteck.«

Lukas ließ die Tür ein bisschen lockerer, was fast dafür sorgte, dass sein Fuß in der Tür eingeklemmt wurde. »Eezbeez hat ein Geheimversteck? Wo ist das?«

»Keine Ahnung, aber er muss doch eins haben, wo soll er sonst seinen ganzen Kram aufbewahren?« Linda war anscheinend müde, die Tür zu machen zu wollen, und rieb sich die Ellbogen.

Die Haustür klackerte, und sie sahen, wie ihr Vater hereinkam, beladen mit Akten. Er balancierte den Aktenberg mit einer Hand, während er mit der anderen versuchte, sich seinen Mantel auszuziehen. Nach einigen Minuten hatte er es geschafft und kam lächelnd auf sie zu.

»Na, meine Schneehasen, wie war die Skifreizeit?«

»Papa, wo ist Eezbeez?«, fragte Linda stattdessen mit hochgezogenen Augenbrauen.

Das Lächeln gefror auf seinen Lippen. Er legte seinen Aktenstapel auf dem Boden ab, nahm seine Brille von der Nase und wischte sich über die Stirn. »Nun ja, die Sache mit Eezbeez …« Er setzte sich die Brille wieder auf. »Eigentlich wollten wir euch die Sache schonender beibringen, aber … naja … Eezbeez wurde einen Tag, nachdem ihr weggefahren wart … von einem Auto überfahren.«

WAS?

Lukas fühlte sich, als hätte ihm jemand ohne Vorwarnung eine Ladung Eiswasser in den Nacken gekippt. Eezbeez. Auto. Überfahren. Irgendwie kamen die Worte in seinem Gehirn an, doch sie machten in diesem Zusammenhang einfach keinen Sinn.

Eezbeez konnte nicht von einem Auto überfahren worden sein! Er war doch keine normale Katze. Das war unmöglich! Sie hatten doch auch noch miteinander telefoniert! Wie konnte das sein?

Er warf einen Blick zu Linda, deren große Augen mit Tränen gefüllt waren. Sie sagte keinen Ton, was bei ihrem Herumgequietsche sonst eine beunruhigende Entwicklung war.

»Aber … das kann doch nicht …«, stammelte er.

»Wir können uns das auch nicht erklären«, sagte sein Vater mit einem betrübten Gesicht. »Wir haben extra zweimal nachgesehen, dass alle Fenster und Türen geschlossen sind. Und er ist auch bisher nie auf die Straße gegangen. Aber als ich letzte Woche Mittagessen gemacht habe, habe ich ihn plötzlich auf die Straße laufen sehen … direkt in ein Auto rein.« Er sah auf den Boden. »Wir haben ihn gleich im Garten vergraben. Bis ihr wiedergekommen wärt, hätte er schon angefangen zu stinken.«

Linda hatte anscheinend genug gehört. Sie warf die Zimmertür zu, worauf ihnen nach wenigen Sekunden Time to say goodbye entgegenschallte.

Lukas und sein Vater sahen sich an.

»Tut mir leid, dass es so gekommen ist.« Sein Vater begann, seine Akten aufzusammeln. »Ich weiß, dass Eezbeez euch ziemlich wichtig war. Wenn ihr wollt, können wir nächste Woche ins Tierheim gehen und eine neue Katze holen. Das ist vielleicht nicht Eezbeez, aber …«

»Ist in Ordnung.« Lukas merkte, dass sein Hals ganz trocken war. »Ich … Linda muss das erst noch verarbeiten, bis wir … bereit für eine neue Katze sind.« Dann ging er in sein Zimmer.

Er warf sich aufs Bett. Obwohl er hellwach war, fühlte er sich so müde. Er musste Daniel und Ilona davon berichten, aber er hatte keine Ahnung, wie. Alles, was er schreiben wollte, erschien ihm zu respektlos Eezbeez gegenüber. Nach dem dritten Versuch warf er sein Handy gegen die Wand, wo es geräuschvoll auf den Boden knallte. Egal. Es war ja sowieso schon kaputt.

Wie sollten sie ohne Eezbeez zurechtkommen? Wer kontaktierte Nora? Sie konnten jetzt gar nichts mehr gegen Straßenwalze ausrichten, erst recht nicht nach dem Blackout. Verdammter Cratelatus! War das nicht der gewesen, den der weibliche Homocrok bei dem Videoanruf erwähnt hatte?

»Wenn Cratelatus nicht bei den Strasecs arbeiten würde, wären wir ratzfatz aufgeflogen!«

Natürlich. Deswegen war ihm auch der Name so bekannt vorgekommen. Vermutlich hatte ihn Straßenwalze gewarnt. Bestimmt hatte er irgendwas mit Eezbeez’ Tod zu tun. Lukas wusste zwar nicht, wie, aber anders konnte er sich das auch nicht erklären. Straßenwalze! Der war doch sowieso an allem schuld!

Lukas vergrub sein Gesicht in seinem Kissen. Wenn er schon an Straßenwalze dachte, wurde ihm schlecht. Dieses selbstgefällige Grinsen, das er auf dem einen Bild draufhatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Erst hatte er ihnen Herrn Stretmanni genommen, und jetzt auch noch Eezbeez. Straßenwalze musste weg. Egal wie.

Beim Abendessen bekam er kaum etwas herunter, und Linda schien es da genauso zu gehen. Nach dem Essen beeilte er sich, wieder in sein Zimmer zu kommen, und voller Tatendrang schaltete er seinen Computer an, um Straßenwalze endgültig das Handwerk zu legen.

 

Und? Was hat Eezbeez gesagt?

 

Daniels Nachricht ploppte auf seinem Desktop auf, kaum hatte er sein Passwort eingegeben.

Lukas erstarrte. Was sollte er nur schreiben? Das konnte er doch seinen Freunden nicht antun. Einfach so schreiben, dass Eezbeez tot sei?

Lukas saß wie versteinert auf seinem Schreibtischstuhl, unfähig, irgendetwas anderes zu tun, als auf den Bildschirm zu starren. Die Frage von Daniel brannte sich in seine Netzhaut ein und ließ seine Augen tränen. Am liebsten hätte er sich wieder aufs Bett geworfen. Er hob seine Hände, doch seine Tastatur schien meilenweit weg zu sein. Die Buchstaben darauf verschwammen, immer mehr kam es Lukas vor, als hätte er eine riesige, komplizierte Maschine vor sich.

Wie konnte er in so wenigen Minuten plötzlich das Schreiben verlernt haben?

 

Hallo? Lukas? Noch da?

 

Was ist los? Ilona war nun ebenfalls online gekommen. Hat Eezbeez was gesagt? Hast du was wegen der drei Zacken herausfinden können? Was meint er zum Blackout? Können wir da was machen?

Lukas bekam langsam keine Luft mehr. Er fühlte sich zu gar nichts mehr fähig. Vielleicht wäre es besser, einen Video-Call zu starten oder eine Sprachnachricht aufzunehmen? Aber er war sich sicher, dass er kein Wort rausbringen würde. Er sah, wie Daniel und Ilona tippten. Sie würden sicher wieder fragen, was los sei. Er musste es ihnen sagen, es führte kein Weg dran vorbei.

Lukas holte tief Luft.

Und noch einmal.

Und dann tippte er mit nur einem Finger, langsam, Buchstabe für Buchstabe.

 

Nein.

 

Daniel und Ilona hörten auf zu tippen.

 

Eezbeez ist tot.

 

Und dann konnte er es einfach nicht mehr halten.

Die Tränen liefen ihm in Sturzbächen die Wangen hinunter. Er schluchzte, die Nase lief ihm, und er spürte, wie sein ganzer Körper zitterte. Er legte seinen Kopf in seine Arme, versuchte, seinen Atem wieder zu beruhigen und seine Tränen abzuwischen, doch es kamen immer wieder neue. Schließlich gab er ihnen nach und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Warum passierte in letzter Zeit einfach so viel Scheiße? Was hatte er falsch gemacht? Hätte er Eezbeez öfter anrufen sollen? Hätte er sich besser vorbereiten sollen? Wäre es besser gewesen, Eezbeez wäre mitgekommen? Nein, Eezbeez wollte ausdrücklich nicht mitkommen. Das hatte er nun davon!

Langsam gingen Lukas die Tränen aus, und mit schmerzendem Kopf und trockenem Hals wischte er sich diese aus dem Gesicht und wendete sich wieder seinem Computer zu.

 

Scheiße, wie ist denn das passiert?, schrieb Daniel.

 

Oh Gott, das tut mir so leid, kam von Ilona. Was machen wir denn jetzt?

 

Er wurde vom Auto überfahren. Lukas kostete immer noch jeder Buchstabe Überwindung. Ich habe keine Ahnung, was wir jetzt machen sollen. Nach kurzer Überlegung schrieb er weiter. Ich glaube, es steckt Straßenwalze dahinter.

 

Save tut er das, schrieb Daniel. Eezbeez wird ja nicht freiwillig vor ein Auto laufen. Wir müssen was machen. Wir müssen Eezbeez rächen!

Und dann postete er ein GIF mit einer Frau, die genüsslich ein Küchenmesser abschleckte.

 

Wir haben bis Dienstag Zeit, uns was auszudenken, schrieb Lukas zurück, froh, dass Daniel ihm zustimmte. Oder sollen wir nicht bis zur Mathestunde warten?

 

Leute, wir sollten uns jetzt nicht in blinden Aktionismus stürzen, warf Ilona ein. Lasst uns vorher erst mit irgendjemandem darüber reden. Vielleicht mit einem Lehrer oder einer Lehrerin?

 

Ja, weil die Helden in Filmen und Büchern ja auch immer vorher mit ihren Lehrkräften reden, bevor sie den Bösewicht besiegen. Lukas postete einen Augenverdreh-Emoji. Und danach schreiben wir einen Aufsatz drüber und eine Erörterung, warum Selbstjustiz verboten ist. Der Gedanke brachte ihn tatsächlich zum Lachen, und er fühlte sich gar nicht mehr so mies.

 

Ilona postete ebenfalls einen Augenverdreh-Emoji. Wir sind aber nicht in einem Film oder Buch. Und wenn es so wäre, würde ich euch liebend gerne gegen Miss Marple oder Leia Organa eintauschen, denn die würden so etwas nie machen.

 

Es folgte eine lange Pause, in der Ilona nur schrieb, wieder aufhörte und dann weiterschrieb.

 

Warum zum Teufel haben wir das nicht schon längst gemacht? Ich meine, die Sache ist ja nicht irgendein persönliches Problem, was wir haben. Ich meine, da bewegt sich in unserem Schulhaus eine Person herum, die fröhlich kidnappt und mordet, und ihr findet es ernsthaft eine gute Idee, das niemandem zu sagen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen? Wir müssen da jemanden einschalten, der es zumindest halbwegs in der Hand hat, die Sache zu beenden … wenn wir mal von der Homobestia-Geschichte absehen.

 

Lukas musste einsehen, das Ilona Recht hatte. Dennoch …

Wir reden nicht mit Herrn Schreiner. Der schmeißt mich hochkant aus der Schulzeitung.

 

Dann wenden wir uns eben an die Vertrauenslehrkräfte.

 

Lukas klickte auf das lachende Emoji. Keinen Plan, wer das überhaupt ist.

 

Überraschenderweise war es Daniel, der zuerst antwortete. Herr Stretmanni …

 

Nicht dein Ernst!

 

… und Frau Palan.

 

Das ist auch nicht gerade besser. Als wir ihr von dem Test erzählt haben, hat sie uns schließlich auch nur vertröstet. Und was sollen wir ihr erzählen? Hallo Frau Palan, unser Herr Stretmanni ist in Wirklichkeit ein Krokodil und hat irgendwo in der Schule eine Maschine versteckt, die ihn in einen Menschen verwandelt. Bitte helfen Sie uns, er hat meine Katze umgebracht.

 

Zum Beispiel.

 

Sehr schön, aber du erklärst das meinen Eltern, wenn wir dafür einen Verweis bekommen.

 

Ach, komm schon, Lukas, beschwor ihn Daniel.

 

Wir haben überhaupt keine Beweise. Er hat den Umwandler weggebracht, das haben wir doch auf Nasirs Handy gesehen. Und die Bilder von Straßenwalzes Statement haben wir auch nicht.

 

Hast du vielleicht eine bessere Idee?

 

Nein. Gut, dann reden wir eben mit Frau Palan.

 

Fein, antwortete Ilona. Ich bin dann raus, muss noch Reli lernen. Nachti, Jungs.

 

Auch Lukas und Daniel verabschiedeten sich, und Lukas surfte noch ein wenig und machte dann den Computer aus.

Mit wehmütigen Gedanken an Eezbeez legte er sich schlafen.