An diesem Morgen weckte mich das surrende Geräusch der Roboterarme, die die Sonnenkollektoren auf dem Dach unseres Mehrfamilienhauses reinigten. Das war eindeutig ein großer Nachteil an unserer Dachwohnung. Jeden Donnerstag dasselbe Spiel!
Die Wischarme glitten mechanisch über die Solaranlagen auf dem Flachdach und befreiten sie von Schnee und Dreck. Ich blieb schlaftrunken liegen und wartete auf den Einsatz des Weckers, dem die Roboterarme zuvorgekommen waren.
Nach wenigen Sekunden imitierte die Beleuchtung in meinem Zimmer einen Sonnenaufgang, der in der Natur nicht schöner hätte sein können. Warmes Licht durchflutete mein Zimmer und ermunterte mich zum Aufstehen.
Ich blinzelte der digitalen Morgenröte entgegen. Vor meinen Augen erschienen Ort und Uhrzeit, Tagestemperatur, meine Vitalwerte und die Information, dass eine Nachricht auf mich wartete. Meine Kontaktlinsen warfen mir die Angaben in geordneter Reihenfolge vor die Augen: Berlin, 06:20 Uhr, -5 Grad, 100 zu 60, meine Mutter hatte sich gemeldet.
Bevor ich darauf reagieren konnte, versperrte ein Bild von Napoleon mein Sichtfeld. Nicht schon wieder. Bonapartes Glubschaugen stierten mich arrogant an. Ich konnte seinem Blick nicht ausweichen. Warum ausgerechnet dieses Bild? Ich seufzte und rieb mir die Augen. Als ich meine Lider wieder öffnete, war das Bild von den Kontaktlinsen verschwunden.
»Guten Morgen«, murmelte ich und warf die Bettdecke beiseite.
Aus der Küche drang das brodelnde Geräusch des Wasserkochers, der zeitgleich mit dem künstlichen Sonnaufgang begonnen hatte, Wasser für meinen morgendlichen Tee aufzuheizen. Meine Wohnung erleichterte mir die Qual des Frühaufstehens.
Die nächtlichen Kodierungsarbeiten stressten mich zunehmend und früh aufzustehen fiel mir von Mal zu Mal schwerer. Von all den Verpflichtungen in meinem Leben hätte ich die Schule gerne als erste von der Liste gestrichen und mich voll auf die schönste Nebensache der Welt konzentriert: Codes schreiben.
Ich streckte meine Arme und Beine aus und tapste in Richtung Wohnküche. Ich kam jedoch nicht dazu, die Schwelle zu übertreten, denn ein gigantischer Kragenbär stand aufgerichtet in meiner Wohnung und sprang mir entgegen. Sein riesiges aufgerissenes Maul ging dem massigen Körper voran. Eine Reihe langer, scharfer Zähne blitzte mir entgegen, als ich zurückstolperte. Ein Bär? Was zur Hölle machte ein Bär in meiner Wohnung?
Auf einmal war ich hellwach. Mein Herz schlug noch hart gegen meinen Brustkorb, als ich endlich begriff, dass es sich bei dem pelzigen Monster um eine dreidimensionale Projektion handelte. Das Tier war einem Videoclip aus meinem Newsfeed entsprungen, der über die 3D-Funktion an der Wand lief und mich über das Weltgeschehen auf dem Laufenden hielt.
Ich hatte den Bären schon öfter gesehen. Zurzeit lief eine tägliche Berichterstattung über White Collar, den ersten Klon des bereits vor zwölf Jahren ausgestorbenen Kragenbärs. White Collar war ein Tier von vielen, die im Rahmen einer Cloning-Reihe zu neuem Leben erweckt worden waren. Erst waren es Passagiertauben gewesen und jetzt ein Kragenbär. Es hätte mich nicht überrascht, wenn mich eines Tages ein Pottwal in meinem Wohnzimmer begrüßt hätte.
»Keine News«, stöhnte ich.
Der Ton verstummte.
Unser defekter Haushaltsroboter Cutie kam mir entgegengerollt.
»Get your shit together!«, rief er mir entgegen.
»Dir auch einen guten Morgen«, murmelte ich.
Ich hatte einige Zitate aus meinem Lieblingsfilm »Fox & Hawk« auf ihm installiert. Sie ergaben außerhalb ihres ursprünglichen Zusammenhangs keinen Sinn. Und sie waren oft anstößig oder beleidigend. Manchmal auch beides.
»Mav, du hast eine Nachricht von Mama erhalten. Ansehen, aufbewahren oder löschen?«, surrte Cutie, als ich nicht auf sein spontanes Zitat einging.
»Das weiß ich. Ansehen. In zwei Minuten«, sagte ich mit einem langen Gähnen und schlurfte zur Küchenzeile.
Das Teewasser war heiß.
Cutie rollte surrend zur Seite. Das war mittlerweile die einzige physische Aktivität, zu der er noch in der Lage war. Keines der Patches oder Updates hatte ihn nach dem letzten Absturz wieder völlig funktionsfähig machen können. Mit meinen Programmierversuchen hatte ich die Situation eher verschlimmert. Nach dem ersten Absturz konnte er immerhin noch staubwischen und aufräumen, aber jetzt war das ewige Hin- und Herrollen seine einzige körperliche Aktivität. Manchmal sperrte ich ihn in die Abstellkammer, wenn er im Weg herumstand und mich nervte.
Mein Magen knurrte, als ich auf das Display am Kühlschrank blickte. In einer trostlosen Liste wurde mir angezeigt, dass sich darin noch Milch, Joghurt und ein Stück Kuchen befanden. Den Kuchen hatte meine Oma mir zu meinem sechzehnten Geburtstag gebacken. Die Geschmacksrichtung ging wohl mittlerweile gefährlich in Richtung »blauer Schimmel«. Ich überlegte kurz, ein paar Lebensmittel nachzubestellen, doch ich erinnerte mich daran, dass meine Großmutter sich in dieser Woche um die Einkäufe kümmern wollte.
Mein Blick wanderte über die glatte Oberfläche der Kühlschranktür zu den Notizen und dem Video, das in der Mitte platziert worden war. Es handelte sich dabei um einen kurzen Clip, der in einer Endlosschleife über die digitale Oberfläche der Tür flimmerte. Mein Vater und ich rasten darauf mit einem Schlitten in eine große Schneewehe hinein. Früher hatte meine Mutter jeden Monat ein neues Video darauf gespeichert, doch seit über einem Jahr flimmerten die immer gleichen Bilder über die Außenseite unseres Kühlschrankes.
Die Szene wiederholte sich Tag für Tag und Nacht für Nacht, als wäre dieser Augenblick auf der Oberfläche des Kühlschrankes gefangen. Je länger ich hinsah, desto komischer kamen mir unsere Gestik und unsere Mimik vor. Unsere Bewegungen waren ausladend und übertrieben, als steckte eine unsichtbare Hand in unseren Körpern, die gleichzeitig alle Finger spreizte.
Mit meiner Teetasse in der Hand ging ich hinaus auf die Dachterrasse. Ich hatte keine Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen.
»Guten Morgen, mein Schatz«, hörte ich die Stimme meiner Mutter aus dem Wohnraum hallen. Die zwei Minuten waren schneller vergangen, als ich erwartet hatte.
Ein eiskalter Windzug ließ mich am ganzen Körper erzittern, als ich im Halbdunkel in den kleiderschrankgroßen Wintergarten huschte, der ein Viertel der Terrasse einnahm. Meine Oma hatte mir bei der Aussaat der Radieschen geholfen. Es würde noch vier bis fünf Wochen dauern, bis die ersten roten Knollen aus der bröckeligen Erde hervorlugten. Seufzend wandte ich mich von dem Beet ab.
»Du stehst in ein paar Stunden schon wieder auf, und bei uns geht gerade ein langer Tag zu Ende …«
Ich blieb im Türrahmen stehen und blickte auf die circa zwei Meter große Projektion an der Wand. Der Kopf meiner Mutter wirkte wie aufgeblasen. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Dennoch schien sie gut drauf zu sein. Wie so oft lag ein leicht verschmitztes Lächeln auf ihren Lippen, das sie jugendlich wirken ließ.
»Dein Vater ist noch bei der Arbeit. Er hat sich gestern mit dem Leiter des Standortes angelegt. Du kennst ihn ja. Manchmal ist er durch und durch Spanier. Er sah heute Morgen nicht sehr glücklich aus. Aber er kriegt sich schon wieder ein. Und ich …«
Sie hielt inne. Ihr Blick schweifte ab.
Ganz offensichtlich war sie mal wieder mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigt. Meine Mutter war eine Sklavin des Multitaskings.
»Hat dein Vater sich schon wegen Ostern bei dir gemeldet? Ich weiß, dass du es gerne hättest, wenn wir zu dir kommen würden, weil wir an deinem Geburtstag nicht da waren. Aber Ostern wäre der ideale Zeitpunkt, um nach Vancouver zu fliegen. Nur kurz. Ich war schon so lange nicht mehr da.«
Na wunderbar, statt herzlicher Umarmungen würde es zu Ostern wohl wieder nur einen Video-Chat geben! Es war lange her, dass ich meine Eltern zuletzt live und in Farbe gesehen hatte. Ich zählte die Monate an den Fingern ab. Noch reichte eine Hand aus. Noch …
Meine Mutter schwieg für einen Moment. Für mich war sie das größte Rätsel. Jeden Code, mit dem ich mich jemals auseinandergesetzt hatte, konnte ich leichter knacken als das Verhalten meiner eigenen Mutter. Im Gegensatz zu meinem Vater sprach sie nicht oft über ihre Gefühle und Gedanken.
Meine Mutter lehnte sich zurück.
»Wie auch immer. Da können wir auch morgen noch drüber reden. Ich wollte dir nur einen schönen Tag wünschen. Wer weiß, vielleicht wird er ja der beste deines Lebens.«
Dann verschwand sie von der Bildfläche.
»Möchtest du eine Antwort senden?«, fragte Cutie.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt.«
Ich hätte nie gedacht, dass meine Welt innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in sich zusammenstürzen würde wie ein schlecht konstruiertes Kartenhaus.