Donnerstag, 14:10 Uhr

Die Fehlleistung, die ich anschließend im Geschichtstest ablieferte, übertraf meine schlimmsten Erwartungen. Genauso gut hätte ich die letzten Stunden damit verbringen können, mit Cutie zu plaudern. Ich hätte mehr Spaß dabei gehabt, und meine Testergebnisse wären wohl nicht schlechter ausgefallen.

Der kalte Wind pfiff mir um die Ohren und ich zog mir meine Kapuze tief in die Stirn. Ben und ich verließen das Schulgebäude.

»Wenn ich doch nur meine Kontaktlinsen gehabt hätte.«

Genervt zipfelte ich an dem Screenpaper, das mein Handgelenk umfasste wie eine zweite Haut. Die digitale Folie musste als Ersatz für die Kontaktlinsen herhalten, bis ich mit dem Hacktivist gesprochen hatte.

»Irgendwann erwischen sie dich noch beim Schummeln und dann wirst du suspendiert.«

»Ist das Schadenfreude in deinem Gesicht? Du weißt, wie sehr ich Wissenstests hasse! Jemand gibt dir vor, was du dir zu merken hast. Was wiederum dazu führt, dass du es umso schneller wieder vergisst, weil du es dir selbst nie merken wolltest«, meckerte ich. »Außerdem ist der Code mein geistiges Eigentum. Ich wüsste nicht, was daran verkehrt sein soll.«

Eigentlich wusste ich das ganz genau. Ich wollte es nur nicht zugeben. Aber manchmal dachte ich auch an meine Mitschüler. Indirekt. Seit Winteranbruch hatte ich das ein oder andere Mal mit dem Gedanken gespielt, das Heizsystem der Schule zum Abstürzen zu bringen, um ein paar freie Tage wegen ausgekühlter Lehrräume herauszuschlagen. Leider war es mir bisher nicht gelungen. Einmal hatte ich stattdessen für einen Stromausfall gesorgt. Immerhin …

»Vielleicht tut dir ein Tag ohne Kontaktlinsen mal ganz gut«, grinste Ben.

Ich kommentierte dies mit einem bösen Blick. »Ich finde das gar nicht lustig. Ich leide schon unter Entzugserscheinungen. Ich weiß nicht einmal, wann die nächste U-Bahn fährt.«

»Drama Queen! Du hast doch noch dein Screenpaper.«

»Das ist nicht das Gleiche.«

Ich schüttelte betrübt den Kopf.

Ben legte seine Hand auf meine Schulter. »Du weißt schon, dass ich dich nur ärgern will, oder? Wir sind alle genauso abhängig von den Teilen wie du. Du bist wenigstens noch in der Lage, selbst in das einzugreifen, was dir angezeigt wird. In Wirklichkeit bist du die Cleverste von allen. Mav, Meisterin aller Künste.«

Ich fühlte mich überraschend geschmeichelt von seinen Worten. Vielleicht lag es daran, dass Ben und ich schon lange beste Freunde waren und wir einander für gewöhnlich lieber aufzogen als Nettigkeiten auszutauschen.

Wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden, als wir gemeinsam in die fünfte Klasse gekommen waren. Das war nicht lange nach seinem Unfall gewesen. Alle Kinder hatten sich stutzig angeschaut, als er zum ersten Mal unbeholfen durch die Reihen zu seinem Sitzplatz gehumpelt war. Auch ich hatte ihm neugierig hinterher geblickt. Es war nicht nur seine überragende Größe, die verriet, dass er ein Jahr älter war als die restlichen Klassenmitglieder, nein, irgendetwas anderes stimmte mit diesem Jungen nicht …

Ich blickte zu Ben auf. Er überragte mich um fast zwei Köpfe. Bens graublaue Augen scannten den Schulhof. In diesem Moment strahlten sie unter den dunkelblonden Augenbrauen absolute Zufriedenheit aus. Er hatte ganz offensichtlich gelernt und war sich schon jetzt sicher, dass er bei diesem Geschichtstest gut abschneiden würde. Für einen Moment befürchtete ich, dass er das Kompliment nur ausgesprochen hatte, um mich von meinem schulischen Versagen abzulenken.

»Hey Ben!«, trällerte eine Stimme hinter uns.

Noch bevor ich mich umschaute, wusste ich, zu wem diese schrille Stimme gehörte. Sie klang wie Gummireifen auf Asphalt bei einer Vollbremsung.

Emma blickte uns fröhlich entgegen. Genau genommen schaute sie Ben fröhlich an. Mich ließ sie völlig links liegen. »Soll ich dich wieder mitnehmen? Ich habe heute das Auto von meiner Mutter.«

Wie »nett« von ihr …

Ich fragte mich, ob Emma mir nicht aus Höflichkeit das gleiche Angebot hätte machen können.

Bens erste Reaktion war es, sich unbeholfen mit der Hand über den Nacken zu fahren.

»Furchtbar nett von dir. Aber ich fahre heute mit der Bahn. Ich muss noch ein, zwei Sachen erledigen«, lehnte er dankend ab.

»Bist du dir sicher? Wir können auch einen Zwischenstopp machen?«, versuchte Emma es erneut.

»Mach dir bloß keine Umstände, aber ich komme die Tage sicherlich noch mal darauf zurück.«

Er log.

»Wie du meinst.«

Damit ergab Emma sich vorerst. Sie trabte zum Parkplatz wie ein Pferd in die Manege. Ich verabscheute sie, und ich wusste nicht einmal genau, warum das so war. Vielleicht lag es daran, dass sie immer mit Miley zusammenhing. Miley wiederum war nach einer Popsängerin aus den 2010ern benannt und hatte Ben vor einiger Zeit das Herz gebrochen. Das reichte, um sie nicht ausstehen zu können.

»Jetzt wirst du sie nicht mehr los«, platzte es aus mir heraus, sobald sie außer Hörweite war.

Ich hatte weniger gehässig klingen wollen.

»Rede nicht so«, tadelte er mich und bewies mit seiner Besonnenheit mal wieder, dass er der Ältere von uns beiden war.

»Ach komm schon, Ben. Die ist von den Zehennägeln bis zu den Haarspitzen falsch und aufgesetzt. Du sagst doch immer, dass du eher auf den natürlichen Typ stehst. Warum bist du überhaupt mal mit ihr mitgefahren? Von all den Menschen mit einem Führerschein musst du ausgerechnet sie …«

»Waren wir nicht eben noch bei einem völlig anderen Thema?«, unterbrach mich Ben.

Mir wurde schnell klar, dass es keinen Sinn hatte, eine Diskussion über seine und Emmas Fahrgewohnheiten loszutreten.

»Machen wir nachher noch was?«, lenkte ich deshalb ein.

Ben blickte kurz zu Boden, als würde er etwas prüfen, und murmelte etwas von einem Mittagessen mit seinem Vater.

Ich musterte Ben heimlich von der Seite. Mein Blick blieb an der kleinen Narbe über seinem Ohr hängen, die seinen Kopf seit sechs Jahren prägte. Sie war eine von mehreren Verletzungen, die er erlitten und von der er sich erholt hatte. Ben schlurfte damals in die neue Klasse, weil er an seinem linken Bein eine Prothese trug. Er war dort vom Knie an abwärts gelähmt. Eine Carbonhülle legte sich wie eine zweite Haut um seinen Unterschenkel und um seinen Fuß. Sie wurde über einen Chip gesteuert.

Über den Chip wurden Bewegungssignale an die Prothese weitergeleitet. Ben musste sich kaum noch anstrengen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, wie er immer wieder betonte. Der reine Gedanke an den nächsten Schritt sorgte für den geschmeidigen Bewegungsablauf. Experten nannten das wohl intuitive Steuerung, ich nannte es verdammt brillant.

Ben war mit Abstand der athletischste Junge, den ich kannte. Kein anderer Junge in unserem Jahrgang konnte so schnell sprinten wie er. Im Sommer trainierte er Leichtathletik, im Winter übte er sich im Biathlon und Skilaufen. Er war schon eine ganz ordentliche Partie, wenn ich es objektiv betrachtete.

»Aber wir können später noch was machen, wenn du willst«, riss Bens Stimme mich aus den Gedanken.

»Okay«, nickte ich. »Aber jetzt gehe ich erst einmal zum Hacktivist und besorge mir meine Kontaktlinsen. Der kann sich auf was gefasst machen.«