Kurz darauf fand ich mich inmitten einer kleinen Siedlung wieder. Die Häuser waren so hübsch aneinandergereiht, dass ich befürchtete, in Pleasantville 2 gelandet zu sein. Ich hatte tatsächlich eine ältere Frau nach dem Weg fragen müssen! Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals zuvor irgendwen nach dem Weg gefragt zu haben.
Für einen Moment hatte ich überlegt, die Frau um Hilfe zu bitten. Aber als sie bei meiner Begrüßung ihre behaarte Oberlippe grimmig nach unten gezogen hatte wie ein Bullterrier, hatte ich mich auf die Frage nach der Route beschränkt. Rückblickend hätte ich eine Zweitmeinung einholen sollen …
Nach einer dreißigminütigen Odyssee war ich endlich am Ziel angekommen. Ritter stand auf dem Klingelschild und ich wusste, was mich hinter dieser Haustür erwarten würde: Emmas fröhlicher, blonder Schopf. Mir fiel wirklich nichts Besseres ein.
Jetzt würde sich herausstellen, ob Emma ihre freundliche Fassade aufrechterhielt, wenn ich nachmittags vor ihrer Tür auftauchte. Ein leichtes Surren ertönte, als ich auf die Schwelle trat. Ein Junge machte die Tür auf. Er war ungefähr zehn und hatte zwei große Kratzer auf der Stirn, als hätte er gegen ein Raubtier gekämpft. Hatte Emma wieder ihre Krallen ausgefahren?
»Wer bist du denn?«, fragte ich völlig perplex.
Mir war gar nicht in den Sinn gekommen, dass hier auch andere Menschen lebten.
Die Striemen an seiner Stirn verformten sich zu verkrusteten Wellen.
»Das sollte ich dich fragen«, erwiderte der Junge achselzuckend und lief weg.
Er wurde von seiner Mutter abgelöst.
»Ja, bitte?«, fragte Frau Ritter. Ihr schlanker Körper war in eine Schürze gehüllt.
»Guten Abend. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Mav. Ich bin eine Freu … äh … Schulkameradin von Emma«, stellte ich mich vor. »Ist sie zu Hause?«
Emmas Mutter wich zur Seite und machte mir Platz.
»Sie ist oben. Geh einfach hoch.«
Ich kam mir vor wie ein Eindringling, als ich mich in den Hausflur bewegte. Ich wusste nicht, wieso ich angenommen hatte, dass ich mich hier besser fühlen würde. Ich lief förmlich in die Höhle des Löwen. Eine Höhle, in der es unverschämt intensiv nach Zimtröllchen und Kakao roch. Mein Magen meldete sich sofort.
Unsicher schritt ich die Treppe hinauf. Emmas Zimmer war nicht schwer zu entdecken. Der goldene Schriftzug mit den Worten »Emma’s World« sprang mir direkt entgegen. Ich konnte nicht anders, als bei dem Anblick das Gesicht zu verziehen.
In diesem Moment flog die Tür auf und meine geliebte Feindin stand mir gegenüber. Selbst in Jogginghosen sah sie gut aus. Wie machte sie das nur? Emmas Kinnlade klappte nach unten, als sie mich erblickte.
»Nora-Sophie. Was machst du denn hier?«, fragte sie verblüfft.
»Das ist eine berechtigte Frage.«
Emmas Augen funkelten erfreut. »Ist Ben auch da?«
»Nein«, seufzte ich.
Ben und ich verbrachten viel Zeit miteinander, aber wir waren keine siamesischen Zwillinge. Die Freude wich so schnell aus Emmas Gesicht, wie sie gekommen war.
»Oh«, war alles, was sie herausbrachte.
Sie wandte sich wieder wortlos von mir ab.
Unsicher, wie ich mit dieser Reaktion umgehen sollte, folgte ich Emma in ihr Zimmer. Emmas Welt gestaltete sich einfacher als ich es mir vorgestellt hatte. Bett, Schrank, Schreibtisch und Kommode nahmen beinahe den gesamten Raum ein. Jeder Gegenstand erfüllte seinen Zweck. Auf dem Wallpaper über der Kommode flimmerte lautlos ein altes Musikvideo in einem Fenster. In einem weiteren Fenster war der Terminkalender für die nächsten Tage zu sehen. Ein drittes Fenster zeigte Textausschnitte über die Verfassung der Vereinigten Staaten. Anscheinend hatte ich Emma beim Lernen gestört.
Mein Blick wanderte von der glänzenden Wand weiter zu einer großen Steeldrum, die in der Ecke des Zimmers stand. Zwei Schlagstöcke lagen in der gewölbten Oberfläche.
»Machst du das immer noch? Trommeln?«, fragte ich und erinnerte mich an das Referat, das Emma einmal zu dem Thema gehalten hatte.
Sie war schon seit einigen Jahren Mitglied einer Gruppe, die Rhythmen mit ihren Steeldrums spielte. Wäre es das Hobby einer anderen Person gewesen, dann hätte ich es vielleicht interessant gefunden. Stattdessen hatte ich eine Abneigung gegen jegliche Formen des Trommelns entwickelt. Erst vor kurzem hatte Emma versucht, Ben dafür anzuwerben.
»Ein bisschen eintönig, oder?«, kommentierte ich und meinte dies in der Tat wörtlich.
Emma verschränkte die Arme vor der Brust. »Im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens Hobbys, die keine Displays beinhalten. Du und das Teil, ihr seid ja förmlich miteinander verschmolzen«, bemerkte sie und deutete auf das Screenpaper an meinem Handgelenk. »Das ist doch total old school. In welchem Jahr befinden wir uns? 2016?«
»Sehr komisch«, gab ich trocken zurück.
Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich die Angriffslust in Emma geweckt hatte. Wir würden heute keine Freundinnen mehr werden.
»Also, was kann ich für dich tun?«, fragte sie mich und ließ sich auf ihr Bett plumpsen.
Die Frage warf mich zurück in meine unangenehme Wirklichkeit. Emma und ich konnten so viele schnippische Kommentare austauschen wie wir wollten, in Sicherheit brachte mich das nicht. Nur fiel mir in diesem Moment nichts ein, was dieses Mädchen tatsächlich für mich hätte tun können. Mit ihren Drumsticks konnte sie die Typen nicht in die Flucht treiben, wenn sie auftauchten. Vielleicht aber mit ihrer Art. Abiturientin verjagt Ganoven mit unerträglicher Persönlichkeit.
»Wieso grinst du so?«, wollte Emma wissen.
Ich schüttelte nur den Kopf.
Sollte ich Emma einfach bitten, einen Notruf auszusenden, und auf die Polizei warten? Aber wenn ich die Polizei rief, wie würde ich ihnen die ganze Sache erklären können? Ich hatte den Tatort fluchtartig verlassen und das war bereits über eine Stunde her. Meine Fingerabdrücke waren in diesem Moment vermutlich die einzigen Beweise, die in dem Laden vorzufinden waren.
Und wer war der zweite Mann, der den Hawk-Doppelgänger in der S-Bahn aufgehalten hatte? War er etwa auf meiner Seite? Vielleicht würde er mich beschützen. Es gab zu viele Fragenzeichen. Mir kam nur eine Sache in den Sinn, die mir in dieser Lage von wirklich großem Nutzen sein würde.
»Du musst mir dein Auto leihen«, sagte ich schließlich.
»Ich muss was? Ich habe überhaupt kein Auto«, antwortete Emma irritiert.
»Dann leih mir das Auto deiner Mutter.«
Emma sah mich entgeistert an. »Dir ist die Absurdität deiner Anfrage aber schon bewusst, oder?«
Ich fuhr mir ungeduldig mit der Hand über die Stirn. »Hinterfrag das jetzt bitte nicht. Das Einzige, um das ich dich bitte, ist das Auto.«
»Das Einzige, um das du mich bittest«, wiederholte Emma etwas atemlos. »Das ist ja echt nicht zu fassen.«
Ich musste mich etwas mehr bemühen, wenn ich eine realistische Chance auf das Auto haben wollte.
»Du müsstest mich nur für ein paar Stunden für den Wagen autorisieren und eh du dich versiehst, steht er wieder in der Garage. Deine Mutter wird gar nichts davon mitbekommen. Ich fahre ganz vorsichtig. Ich kann dir auch Geld dafür geben, wenn du willst. Danach werde ich dich nie wieder um etwas bitten, das verspreche ich dir.«
Emma musterte mich misstrauisch. Sie fragte sich sicherlich, in was für einer miserablen Lage ich mich befand, wenn ich ausgerechnet sie um einen Gefallen bat. Ich konnte ihr auf keinen Fall die ganze Geschichte erzählen. Der Mord, die Fingerabdrücke, die Verfolger … das alles klang wie die Fantasiegeschichten einer Verrückten. Wahrscheinlich hielt sie mich schon jetzt für wahnsinnig.
»Ich habe keinen Zugang zu meinem Safe mehr. Ich kann niemanden um Hilfe bitten. Ich kann mir kein Auto mieten. Ich kann nicht mal mit der S-Bahn fahren«, erklärte ich weiter.
Emma stand auf und ging hinüber zu ihrer Kommode. »Es gäbe da vielleicht etwas, das du für mich tun könntest. Und im Gegenzug würde ich dir dann das Auto leihen«, verkündete sie.
Es gab doch noch einen Gott.
»Alles«, erwiderte ich erfreut. »Was soll ich machen?«
Emma griff nach einem Haargummi und fing an, gekonnt ihr langes Haar zu flechten.
»Da du und Ben so eng befreundet seid und ihr vermutlich jedes Geheimnis miteinander teilt, könntest du mein Schlüssel zum Erfolg sein«, begann sie. »Ben ist deine Meinung sicherlich wichtig. Ich nehme an, dass sich das auch auf die Wahl seiner Dates bezieht. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du ein gutes Wort für mich bei ihm einlegen könntest. Ich glaube, dass wir wirklich gut zueinanderpassen würden, aber Ben ist so zurückhaltend. Ein kleiner Schubs von seiner besten Freundin in meine Richtung könnte da vielleicht wahre Wunder bewirken.«
Ich fiel aus allen Wolken.
»Du willst, dass ich euch verkuppele?«, versuchte ich Emmas Geschwafel zu deuten.
Ein breites Lächeln machte sich auf Emmas Gesicht breit. »Korrekt.«
Sie war bei den Haarspitzen angekommen und verknotete sie mit dem Gummi.
Die reine Vorstellung von Emma und Ben als Paar ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Eine Beziehung zwischen den beiden würde unsere Freundschaft vergiften. Keine Minute würde ich es in der Anwesenheit beider aushalten. Schon Bens kurze Beziehung mit Miley hatte kurzzeitig einen tiefen Graben in unsere Freundschaft gerissen. Und überhaupt! Waren Miley und Emma nicht eigentlich Freundinnen?
»Das ist ein Witz, nicht wahr?«
Emma legte den Kopf schief. »Genauso wie deine Frage, ob du das Auto meiner Mutter fahren darfst?«
»Du meinst es also ernst.« Ich kniff erzürnt die Augen zusammen. »Du bist verrückt, wenn du denkst, dass ich Ben gegen ein Auto tausche.«
»Ach, gehört Ben jetzt dir?«, konterte Emma.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das Auto ist ja auch nicht deins.«
Mit diesen Worten machte ich auf dem Absatz kehrt und verschwand aus Emmas Zimmer. Am liebsten hätte ich das dämliche »Emma’s World«-Schild von der Tür gerissen. Wie konnte diese blöde Kuh sich herausnehmen, so etwas von mir zu fordern? Einen Teufel würde ich tun! Ich marschierte die Treppe hinunter und merkte, wie Emma mir folgte.
»Gehst du jetzt einfach, oder was?«, fragte sie eingeschnappt.
»Fahren lässt du mich ja nicht«, zischte ich und zog an der Haustür. Sie war verschlossen.
»Lass mich das machen«, sagte Emma und ließ ihre Iris scannen, um sie zu entriegeln. »Aber an deiner Stelle würde ich es mir noch einmal überlegen.«
»Ich verzichte. Danke«, lehnte ich erneut ab und zog die Tür auf.
Ich war dabei, mich von Emma zu verabschieden, als sie mir ihre Hand auf die Schulter legte.
»Du brauchst also unbedingt einen fahrbaren Untersatz?«
»War das bisher noch nicht deutlich?«, gab ich zurück.
Wie so oft klang es schnippischer als ich es meinte.
Emma legte den Kopf schief und wartete.
»Ich meine: Ja, sehr dringend!«, korrigierte ich mich.
»Ich kann dir ein PuC freischalten«, bot Emma mir an. »Das Geld will ich dann aber zurück. Und du musst mir versprechen, es nicht zu Schrott zu fahren.«
»Ist das bei den Teilen überhaupt möglich?«, lächelte ich erleichtert.
PuC stand für Public Car. Die grünen Elektroautos wurden von der Stadt angeboten, um jederzeit mobil sein zu können. Jeder, der einen gültigen Führerschein und ein Bankkonto besaß, konnte sich in einen der Wagen setzen und direkt losfahren. Viele Berliner empfanden ein eigenes Auto als zu unpraktisch und zu teuer. Lieber mietete man sich für wenige Stunden ein PuC. Zudem waren im Stadtzentrum nur noch Elektroautos erlaubt.
Emma nickte und schnappte sich ihre Jacke. Sie würde mir tatsächlich helfen.
Es war noch kälter geworden.
Ich griff nach einem Fugenkratzer, der in einem Beet neben der Haustür steckte. Auch wenn er absurd klein für eine Waffe war, verlieh er mir das Gefühl von Sicherheit.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich mir den leihe?«, fragte ich.
Emma schüttelte den Kopf. »Ich hinterfrage einfach nichts mehr von dem, was du tust oder sagst. Ergibt sowieso alles keinen Sinn.«
»Kann ich dir nicht verübeln.«
Ich umklammerte den Holzgriff des Fugenkratzers. Seine Klinge war klein und spitz. Auf diese Weise hielt ich wenigstens irgendetwas in den Händen.
Wir machten uns auf die Suche nach einem PuC. Sie waren oft in der Nähe von Bahnhöfen geparkt, aber die nächste S-Bahn-Station war die, von der ich gekommen war. Wenn wir diese Richtung einschlugen, würden wir dem Hawk-Doppelgänger womöglich direkt in die Arme laufen. Ich wies Emma an, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen.
Zu Fuß wäre ich in dieser Gegend nicht sehr weit gekommen. Ich war froh, dass ich mich an Emma gewandt hatte. Nachdem wir ein wenig querbeet durch die Nachbarschaft gelaufen waren, deutete sie in eine kleine Nebenstraße.
»Da ist eins«, erklärte sie.
Ich konnte es nicht entdecken. Ihre Kontaktlinsen mussten ihr die Richtung zu dem PuC gewiesen haben. Wie ich das schimmernde Interface meiner Kontaktlinsen vermisste. Für gewöhnlich legte es sich wie ein Rahmen um die Welt und verlieh mir eine Richtung. Jetzt war ich auf mein eigenes Können und Wissen angewiesen – beziehungsweise auf das Können und Wissen von Emmas Linsen.
Ich folgte ihr und erblickte schließlich den grünen Wagen. Wir standen vor einem kleinen Vierpersonenauto.
»Lass mich das machen«, sagte Emma und tippte auf das Schloss unter der Seitenscheibe.
Ein klackendes Geräusch ertönte, sobald das System Emmas Profil erkannt hatte. Eine Stimme begrüßte sie mit einem freundlichen »Guten Tag!«
Sie setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Wagen für mich. Schließlich gab sie Bens Adresse in den Routenplaner ein. Ich hatte Emma noch nie so nett erlebt. Andererseits hatte ich mich bisher nicht viel mit ihr auseinandergesetzt.
»Startklar«, verkündete sie und stieg wieder aus dem Wagen.
Der Motor surrte beständig.
Unsicher blickte ich mich um. Keine Spur von Hawk oder dem anderen Kerl. Ich fragte mich, ob sie wirklich auf der Suche nach mir waren.
Ich umarmte Emma kurz, aber bestimmt: »Danke.«
»Nicht der Rede wert«, winkte sie ab. »Wobei … wenn du es in deinem nächsten Gespräch mit Ben erwähnen würdest, dann hätte ich natürlich nichts dagegen.«
Das hatte sie sich nicht verkneifen können. Ich bedankte mich ein letztes Mal und schloss die Tür, als könnte ich damit jegliche Bedrohung aussperren.
Das Auto fuhr von alleine an. Die Sicherheitseinstellungen waren auf Autopilot gesetzt.
Seufzend stellte ich fest, dass das PuC sich in jedem Fall an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten würde. Ich war bisher nur zwei- oder dreimal alleine mit einem Auto gefahren, und jedes Mal hatte ich Probleme damit gehabt, den Autopiloten zu deaktivieren. Nun da ich in Emmas Namen unterwegs war, traute ich mich erst recht nicht, irgendetwas an den Einstellungen zu verändern. Ich war froh, dass ich endlich auf dem Weg zu Ben war.