Im schützenden Rahmen des Fahrzeugs fühlte ich mich direkt sicherer. Das Elektroauto glitt gemächlich über die Straßen. Auf der Windschutzscheibe wurde mir die genaue Route angezeigt. Einem Sternenbild ähnlich schimmerte sie vor meinen Augen. Die wichtigsten Kreuzungen leuchteten als Punkte auf, die durch Linien miteinander verbunden waren. Durch das Geflecht zog sich eine lange blaue Schlangenlinie. Das war meine Route. Die Fahrt würde rund dreißig Minuten dauern.
Ich wünschte, dass ich mich einfach zu Ben beamen konnte. Ich hätte so gerne seine beruhigende Stimme gehört und meinen Kopf an seine Schulter gelehnt. Ben schaffte es immer, mich zu beruhigen, wenn ich aufgeregt war.
Ich legte den Kopf schief. Vielleicht war es sogar möglich, mit ihm zu sprechen. Ich war schließlich mit Emmas Profil eingeloggt. Demnach müsste ich auch Zugang zu Emmas Kontaktliste haben. Vorsichtig zog ich den rechten Ärmel über meine Hand und tippte auf das Display neben dem Lenkrad. Problemlos konnte ich mich in das Kommunikationsmodul von Emmas Safe einwählen. In ihrer schier endlosen Kontaktliste befand sich auch Bens Name. Zwischen Bemitleidenswertes Miststück und Benjamin NachnameVergessen. Für einen Moment zog ich in Erwägung, das Bemitleidenswerte Miststück anzurufen. Dann befürchtete ich, dass es sich bei diesem Eintrag um mich handeln könnte, und sah davon ab. Manchmal war es einfach besser, weniger zu wissen. Ich versuchte, die Verbindung zu Ben herzustellen.
Der Trick funktionierte. Innerhalb weniger Augenblicke tauchte Bens Gesicht auf der rechten Seite der Windschutzscheibe auf. Der Routenplaner zog sich auf ein kleines Fenster am oberen Rand der Scheibe zurück, um Platz für Bens eckigen Kopf zu machen. Er saß auf dem breiten Sofa im offenen Wohnzimmer der Dens.
»Mav? Ist alles in Ordnung?«, fragte er mich verwirrt.
»Wieso rufst du unter Emmas Namen an?«
»Sie hat mir geholfen einen fahrbaren Untersatz zu finden.«
»Emma hat dir geholfen? Das hätte ich gar nicht von ihr gedacht.«
Das hatte ich befürchtet. Ich verspürte ein leichtes Ziehen in der Magengegend.
»Ich komme zu dir«, sagte ich.
»Das ist gut!« Ben setzte sich aufrecht hin.
»Das ist gut«, wiederholte er.
»Was ist passiert? Warum wurde die Verbindung abgebrochen? Ich konnte dich nicht mehr erreichen.«
»Irgendetwas blockiert den Zugang zu meinem Safe. Ich könnte nicht einmal ein Wasser kaufen, wenn ich wollte. Oder einen Proteinriegel. Gott, ich bin am Verhungern! Wusstest du, dass Emma in Willy Wonkas Schokoladenland lebt? So riecht es zumindest bei ihr zu Hause.«
»Mav, ich muss dir etwas sagen«, begann Ben. »Ich war so in Panik, als wir die Verbindung zueinander verloren haben, dass ich die Polizei angerufen habe.«
»Du hast was?«, fragte ich empört.
»Ich habe die Polizei angerufen. Ich habe ihnen gesagt, dass du Mareks Leiche gefunden hast und danach verfolgt wurdest. Und dass du seitdem vermisst wirst. Was ja auch so war. Für mich zumindest.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Wenn die Polizei mich bisher noch nicht auf dem Schirm hatte, dann war sie mir spätestens jetzt auf den Fersen. Vielleicht durchsuchten sie bereits meine Wohnung. Hatte er ausgerechnet Marek erwähnen müssen?
»Warum hast du das gemacht, Ben?«
»Weil ich Angst um dich hatte«, gab er schnell zurück. »Was hätte ich denn tun sollen? Auf dem Sofa sitzen und abwarten, bis ich ein Lebenszeichen von dir erhalte?«
»Nein.«
Ich wusste, dass Bens Handeln gerechtfertigt war, dennoch kochte in diesem Moment die Wut in mir auf. Ich biss die Zähne aufeinander und versuchte, ruhig nachzudenken. Dass die Polizei nach mir suchte, konnte vielleicht zum Vorteil für mich werden – solange sie mich nicht fanden. Vielleicht brachten sie in der Zwischenzeit mehr über meine Verfolger in Erfahrung.
»Melde dich ab jetzt nicht mehr bei ihnen, okay? Ich hoffe, dass ich den Kerl abhängen konnte.«
Ich blickte auf die leere Straße vor mir. Das PuC manövrierte mich aus dem Wohngebiet heraus auf die Umgehungsstraße. Über mir brach die Dämmerung herein. Der Himmel verfärbte sich orange und rot.
»Bist du dir sicher? Das ist doch total verrückt«, sagte Ben. »Willst du das wirklich durchziehen?«
»Ob ich das durchziehen möchte? Ich habe keinerlei Einfluss auf die Geschehnisse. Das ist das Problem.«
»Was ist in dem Laden geschehen?«
Meine bisherigen Aussagen mussten Ben ein absolutes Rätsel sein. Aber wie konnte ich ihm die Vorgänge erklären, wenn ich sie selbst nicht einmal begriff?
»Ich weiß es nicht.« Ich versuchte, nicht direkt wieder zu weinen. »Nachdem wir uns verabschiedet haben, bin ich noch zu Marek und wollte meine Linsen abholen. Ich hatte ja immer noch das Problem, dass das neue Paar nicht funktionierte und ich wollte mein altes zurück.«
Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich die defekten Kontaktlinsen noch immer in den Augen trug. Für gewöhnlich war ich mir meiner Kontaktlinsen immer bewusst, da sie mich ständig auf Dinge hinwiesen, die um mich herum geschahen. Sie zeigten mir die aktuellen Angebote der umliegenden Geschäfte an, boten mir Informationen zu anstehenden Terminen, informierten mich über die folgenden Bahnverbindungen, wenn ich mich einer Station näherte. Aber diese Linsen taten nichts dergleichen. Sie waren wie ein Prototyp, der noch nicht auf die Bedürfnisse des Trägers eingestellt worden war.
»Ich war mir sicher, dass der Hacktivist einen Fehler gemacht haben musste. Aber als ich in seinen Laden kam da …«, mein Atem stockt erneut, » … da lag er bereits auf dem Boden.«
»Was hast du gesehen?«
»Blut. Marek war mit Blut überströmt. Er war bereits tot. Ich habe noch nie in meinem Leben so etwas Grauenhaftes gesehen.
Jemand hatte mein Kundenprofil aufgerufen. Vermutlich der Mörder. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe auf dem Display herumgedrückt, um mein Profil zu schließen. Meine Fingerabdrücke sind überall.«
Das PuC verringerte die Fahrgeschwindigkeit.
»Denkst du, dass dein Profil mit der Sache im Zusammenhang steht?«
»Der Verrückte, der in meine Wohnung eingebrochen ist, auf Cutie geschossen hat und mich seitdem verfolgt, weist darauf hin, ja«, gab ich derart sarkastisch zurück, dass es mir direkt leidtat.
Ben versuchte lediglich, das Geschehene aufzuarbeiten, und ich strafte ihn dafür ab. Ein Knoten saß in meinem Hals fest.
»Und jetzt ist auch noch mein Safe gesperrt. Egal, was ich tue, ich kann nicht darauf zugreifen. Das kann alles kein Zufall sein.«
Das PuC fuhr jetzt nur noch in Schrittgeschwindigkeit.
»Es ist nur …«, begann Ben, »ich kann mir nicht vorstellen, wie das alles zusammenhängt. Was sollst du denn mit der Sache zu tun haben? Und woher sollten die wissen, wer du bist? Das klingt alles eher nach einem Überfall. Oder denkst du, dass Marek doch noch ein aktiver Hacker war und sie nun Informationen aus dir herauspressen wollen? Wer weiß, auf was für Geschäfte er sich eingelassen hat.«
Ich zuckte mit den Schultern. Bisher hatte ich nicht so weit gedacht. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, die Schuld bei Marek zu suchen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich selbst in derartig große Gefahr gebracht hätte.
Ich biss mir auf die Innenseite der Wange. Rein gar nichts an dieser Sache ergab Sinn für mich und ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, zu suchen. Aber schon im nächsten Augenblick gab mir ein einziger Blick aus dem Autofenster die Antwort.
Das PuC kam zum Stillstand.
»Erzähl mir von dem Verfolger«, fuhr Ben fort.
Ich hatte das Gespräch bereits verlassen. Meine Aufmerksamkeit war auf etwas völlig anderes gerichtet.
»Mav?«
Die Straße war von einem großen Geländewagen versperrt, der quer über die Fahrbahn manövriert worden war. Das PuC hatte ganz selbstverständlich aus Gründen der Verkehrssicherheit Halt gemacht. Es hatte schon vor einigen Hundert Metern erkannt, dass ein Objekt den Weg blockierte, aber erst jetzt erkannte ich, um wen es sich dabei handelte.
Vor der Fahrertür stand der Kerl, der Hawk am S-Bahn-Gleis verprügelt hatte.
»Mav, was ist mit dem Verfolger?«, wiederholte Ben.
»Vielleicht steht er gerade vor mir«, murmelte ich.
»Was? Der Mörder?«
Bens Stimme klang alarmiert.
»Nein, der andere.«
»Welcher andere?«
Der Mann bewegte sich langsam auf mein PuC zu. Vor dem blutroten Himmel wirkte er noch größer und unbezwingbarer als zuvor. Seine Schultern waren breit und seine Oberarme zeichneten sich kräftig unter den Ärmeln seiner schwarzen Jacke ab. Der Hawk-Doppelgänger dürfte keine Chance gegen ihn gehabt haben.
»Rückwärtsgang!«, rief ich mit vor Panik fast erstickter Stimme und verriegelte die Tür von innen.
Das PuC bewegte sich keinen Zentimeter.
»Autopilot: Rückwärtsgang«, wiederholte ich.
Absoluter Stillstand. Das Fahrzeug bewegte sich nicht von der Stelle.
»Diese Dreckssoftware«, fluchte ich und schlug mit der Faust auf das Lenkrad.
Ein kurzes, schreckhaftes Hupen hallte in die Nacht.
»Vielen Dank, dass Sie sich für PuC entschieden haben«, erklang die freundliche Stimme des Bordcomputers. »Ihr Konto wird mit 4,16 Euro belastet. Sie haben die Möglichkeit, bis zum 26. August 2031 Widerruf einzulegen. Danach werden Ihre Nutzungsdaten gelöscht. Für mehr Informationen sagen Sie bitte ‚Mehr Informationen‘ oder besuchen sie unser Kundenportal.«
Die 4,16 Euro gingen auf Emmas Konto. Dann schaltete sich der ganze Wagen ab.
»Scheiße«, fluchte ich.
Ich hatte mich soeben selbst aus Emmas Profil geworfen.
Ein Klopfen an der Beifahrertür folgte. Erschrocken riss ich den Kopf zur Seite. Lange Schatten zogen über sein Gesicht, als er durch das Seitenfenster lugte. Der Mann zeigte keinerlei Regung, als ich ihn mit weit aufgerissenen Augen musterte.
Er trug einen Bart, und ein paar graue Haare zeichneten sich in den Bartstoppeln ab. Das gegelte Haar fiel ihm lose ins Gesicht, und seine leicht zusammengekniffenen Augen wurden von dunklen, dichten Augenbrauen gekrönt. Ich konnte weder gute noch böse Absichten in diesen Augen erkennen. Er blickte mich einfach an, während ich erstarrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht dasaß.
Der Fremde machte keinerlei Anstalten, in das Fahrzeug zu gelangen. Stattdessen hob er langsam seinen Arm und hielt mir die Unterseite seines Handgelenkes vor die Augen. An seinem Arm befand sich ein Identifikationsarmband, das ihn als Kriminalbeamten auswies.
Bodo Bader (KK) flimmerten sein Name und die Abkürzung der Dienstbezeichnung über den digitalen Streifen.
»Wärst du so freundlich auszusteigen?«
Seine Stimme klang dumpf durch die geschlossene Scheibe.
Ich blieb stumm im Auto sitzen.
»Wovor hast du Angst?«, fragte er.
Seine Stimme war tief und fest.
Ich schwieg. Dieser Mann wusste ganz eindeutig, dass ich verfolgt worden war. Er selbst hatte meinen Verfolger aufgehalten. Und nun lauerte dieser Kerl mir mitten auf einer Landstraße auf.
»Was hast du denn damit vor?«
Sein Blick war auf den Fugenkratzer auf dem Beifahrersitz gefallen.
»Gärtnern«, gab ich durch die Scheibe zurück. »Warum tragen Sie keine Uniform?«
»Ich bin in Zivil unterwegs.«
Der knappe Wortwechsel zwischen uns klang gezwungen.
Ich musterte den Mann misstrauisch. Die Tatsache, dass er sich ausweisen konnte, hätte mich eigentlich beruhigen müssen. Stattdessen verspürte ich Unbehagen. Ich wusste nicht, ob ich diesem Fremden glauben konnte.
Vielleicht war es die Art und Weise, auf die er in mein Leben geplatzt war, die mich nun davon abhielt, ihm zu vertrauen. Sein Gesicht war wie die Fassade eines Pop-Up-Stores, von außen einladend, aber man wusste nie, was einen drinnen erwartete. Der gleiche Verkaufsraum bei ständig wechselnden Inhabern.
Ich tastete nach meinem Screenpaper. Doch in diesem Moment war es nutzlos für mich. Ich würde nicht um Hilfe rufen können. Es war absolut kein Zufall, dass ausgerechnet heute mein Safe ausgefallen war.
»Hast du etwa Angst vor mir?«, fragte der Ermittler.
»Unsere erste Begegnung ist nicht gerade harmonisch verlaufen. Und dass Sie mir hier den Weg versperren, verbessert die Situation auch nicht.«
Bodo Bader nickte einsichtig. »In der Kulmer Straße ist ein Mann tot aufgefunden worden. Er war Optechnician. Ist eine komische Geschichte. Es sieht ganz nach einem Überfall aus, aber was hätten sie sich dort schon holen können außer einigen Kundendaten?«, erklärte er und erzählte mir dabei nichts Neues. »Ein glatter Schuss hat genügt. Man hat ihm direkt ins Herz geschossen. Er hatte keine Chance.«
Die Worte trafen mich wie ein Fausthieb gegen den Brustkorb.
Der Kriminalkommissar legte den Kopf schief. »Ich war gerade auf dem Weg zum Einsatz, als ich dich die Straße herunter rasen sah. Du und dein Verfolger schienen es sehr eilig zu haben. So eine Verfolgungsjagd sieht man nur selten in der Stadt. Und dann bekommen wir auch noch diesen Anruf rein, dass ausgerechnet du vermisst wirst und das im Zusammenhang mit diesem Mord. Da schießt mir die eine oder andere Frage durch den Kopf, die ich dir gerne stellen würde.«
Der bloße Gedanke an Marek ließ mich mit den Tränen kämpfen. Ich wandte mich mit dem Gesicht von Bodo ab, aber er gab nicht nach.
»Was war da los zwischen dir und dem Kerl? Hast du vielleicht was beobachtet?«, hakte Bodo nach, als säße ich in einem Verhör. Vielleicht tat ich das auch.
»Nichts habe ich beobachtet«, schluchzte ich.
Ich spürte, wie der Mann mich von der Seite analysierte.
»War er ein Freund von dir? Der Optechnician?«
Ich schwieg.
»Es geht um einen Mord. Ich bin hier, um die ganze Sache aufzuklären. Das ist meine Aufgabe. Und dir will ich auch helfen. Du scheinst in Gefahr zu sein und ich werde dich sicherlich nicht hier im Nirgendwo zurücklassen. Wo willst du überhaupt hin? Fährst durch die Gegend, als gäbe es keine Gefahren hier draußen.«
Ich unterdrückte ein neues Schluchzen.
Bodo legte den Kopf schief. »Kommst du mit aufs Revier, um die Sache aufzuklären?«
Unsicher schaute ich zu ihm auf. Sein Blick wirkte jetzt bestimmter. Er sah mir direkt in die Augen, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. Die braunen Augen erinnerten mich an den tiefen Blick meines Vaters, wenn er ein persönliches Gespräch mit mir führen wollte.
»Was ist mit dem anderen Mann passiert?«, fragte ich.
»Der Kerl aus der S-Bahn?«
»Genau der.«
Bodo schob den Ärmel seiner Jacke noch etwas weiter nach oben. An seinem Unterarm befand sich ein provisorisch angebrachter Verband, auf dem sich ein Blutfleck in der Größe eines Eies gebildet hatte. Ich musste unweigerlich an den Blutfleck auf Mareks Hemd denken.
»Hat mich voll mit seinem Messer erwischt, als ich ihn gerade K.O. schlagen wollte. Ich war wie benommen. Da ist er mir entwischt.«
»Macht man das jetzt so bei der Polizei? Leute K.O. schlagen?«
»Ich gehe davon aus, dass du noch nicht oft einem mutmaßlichen Mörder auf den Fersen gewesen bist …«, konterte Bodo, doch ich gab ihm keine Chance:
»Leider nicht. Bisher waren die Mörder mir auf den Fersen.«
Er stieß ein tiefes Seufzen aus und klang dabei wie ein Vater, der aus seiner pubertierenden Tochter nicht schlau wurde.
»Willst du wirklich in diesem Auto sitzen bleiben?«, fragte er. »Wenn ich dich finden konnte, wie schnell wird dich dann wohl dieser Irre finden?«
Ich wandte meinen Blick erneut von ihm ab. Warum sollte er nicht die Wahrheit sagen? Wenn er den Fall lösen wollte, dann war es meine Pflicht, mit ihm zu kooperieren. Doch ich kannte diesen Kerl überhaupt nicht. Ich konnte ihm einfach nicht genug vertrauen, um aus der sicheren Hülle des PuC zu steigen.
»Okay«, nickte Bodo. »Wie du möchtest. Du bist der Boss. Ich werde in dem Wagen dort warten. Vielleicht überlegst du es dir nochmal.«
Mit diesen Worten richtete er sich wieder auf und setzte sein Versprechen in die Tat um. Erst als er sich von meinem Wagen entfernte, bemühte ich mich, das PuC wieder neu zu starten. Fehlanzeige. Ich hatte die Verbindung zu Emmas Safe verloren und mein eigenes Profil wurde nicht erkannt.
Nur wenige Kilometer von meinem Zuhause entfernt, war ich völlig abgeschnitten von meiner Umwelt. Was sollte ich jetzt tun? Bodo konnte sich immerhin ausweisen und er hatte mich vor dem Hawk-Doppelgänger beschützt.
Ich blickte auf den großen schwarzen Wagen vor mir, der langsam von der Straßenmitte rollte. Bodo platzierte den SUV am Straßenrand und stellte den Motor ab. Nun war ich es, die die Straße versperrte.
Hinter mir tauchte ein Auto auf und fuhr mit nervigem Hupen an mir vorbei. Das PuC hatte sich mitten auf der Straße deaktiviert. So viel zu der Verkehrssicherheit dieser Fahrzeuge …
Was tat ich hier eigentlich? Ich hatte mich auf einer Landstraße in einem PuC verschanzt und weigerte mich, mir von der Polizei helfen zu lassen. Mädchen verschanzt sich in Auto und blockiert Straße. Das klang nicht nach einer denkwürdigen Schlagzeile.
Ich wusste selbst nicht, worauf ich noch wartete. Wenn ich länger an dieser Stelle herumsaß, würden sich Bodos Worte bewahrheiten und Hawk würde mich einholen. Ich konnte wenigstens versuchen, dabei zu helfen, den Mord aufzuklären.
Ich zupfte das Screenpaper an meinem Unterarm zurecht, griff nach dem Fugenkratzer und stieg aus dem Wagen. Mit festen Schritten überquerte ich die Straße und ging zu Bodo hinüber. Der Polizist schien nicht sehr überrascht über meinen plötzlichen Sinneswandel. Das Seitenfenster fuhr summend herunter.
»Was kann ich für dich tun?«
»Denken Sie, dass Sie die Sache wirklich aufklären können?«
»Das ist mein Job. Und es würde sicherlich schon mal helfen, wenn du mir deine Version der Vorfälle erzählst.«
Ich nickte bestimmt und stieg in den Wagen. Wenn Bodo der Mörder gewesen wäre, dann hatte er bereits ausreichend Gelegenheit gehabt, mich umzubringen.
Immer positiv denken, Mav.
In dem Auto roch es nach Aftershave. Es hatte eine holzige Note. Der Geruch kam mir bekannt vor. Aus den Boxen plätscherte leise Folkmusik. Die Lautstärke war so niedrig eingestellt, dass die Melodie kaum erkennbar war.
»Wir fahren jetzt erst mal zur Station«, erklärte Bodo, als er den Wagen wendete. »Wissen deine Eltern, wo du steckst?«
Ich bemühte mich, nicht mit den Augen zu rollen.
»Mit meinen Eltern ist das so eine Sache. Sie wissen meistens, wo ich stecke. Ich weiß aber nur selten, wo sie stecken«, gab ich zurück.
»Machen sie sich keine Sorgen um dich?«
»Das bezweifle ich.«
Ich wandte den Blick ab und schaute stattdessen aus dem Seitenfenster in die nahende Dunkelheit. Die blutige Abendröte wich dem dunklen Schleier der Nacht. An dem Ort, an dem meine Eltern gerade waren, schien noch die Sonne.
»Sind deine Eltern nicht in der Stadt?«
Die Fragen, die Bodo mir stellte, waren mir altbekannt. Die Abwesenheit meiner Eltern rief die immer wieder gleiche Verwunderung bei meinen Gesprächspartnern hervor.
»Meine Eltern wohnen nicht einmal in dieser Stadt. Sie sind seit anderthalb Jahren in Kanada und leben dort ihren Traum«, warf ich zurück, als wäre Bodo schuld an der Situation
Bodo ließ sich nicht beirren.
»Was für ein Traum ist das?«
»Immer das zu tun, was sie machen wollen. Und nichts und niemand kann sie zurückhalten«, erläuterte ich, obwohl es Bodo nichts anging.
An meinen Augen zogen die Bäume, die die Straße säumten, wie dunkle, bedrohliche Gestalten vorbei.
»Klingt nach Generation Option«, bemerkte er.
»Ja. Und es gibt unendlich viele Optionen.«
Ich rollte mit den Augen.
»Brasilien, die USA, Südafrika”, zählte ich auf. »War alles mal im Gespräch. Einmal haben wir einen ganzen Sommer in Málaga verbracht, weil mein Vater sich in den Kopf gesetzt hatte, in seine alte Heimat zurückkehren zu müssen. Zu blöd, dass es dort weder die erhoffte Gehaltssteigerung noch den besseren Jobtitel für ihn gab. Nur noch mehr Stillstand. Und genau das wollten meine Eltern nicht.«
»Und dann?«
»Für eine Weile war es ruhig«, erinnerte ich mich.
Wir waren nach Berlin zurückgekehrt, als wären wir nie weg gewesen. Die hitzigen Diskussionen während des Abendessens endeten, genauso wie die Träume von einem Leben an der Südküste Spaniens.
»Aber nicht lange. Als sein Boss meinem Vater dann vor zwei Jahren einen Job als Projektleiter in Toronto angeboten hat, war das wie ein Ruf des Schicksals für meine Eltern.«
»Aber nicht für dich«, schloss Bodo aus meiner Erzählung.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich war vierzehn. Meine Eltern hätten mich zwingen können, mit ihnen nach Kanada zu gehen, aber das haben sie nicht getan.«
Natürlich hatten sie mich angefleht, mit ihnen zu kommen, genauso wie ich sie dazu hatte überreden wollen, in Berlin zu bleiben.
Meine Mutter und mein Vater waren an sich nette Menschen und ich kam gut mit ihnen aus. Sie waren nur eigennützig – aber vielleicht waren sie nicht einmal das. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie und ihre Generation einfach nur eine völlig andere Vorstellung von Freiheit und Glück hatten als ich.
»Aber wer kümmert sich jetzt um dich?«, fragte Bodo. »Der Optechnician vielleicht? War er eine Art Vaterersatz für dich?«
Ich konnte nur schwer ein Prusten unterdrücken. Meiner Meinung nach war es bereits eine Meisterleistung für Marek gewesen, gleichzeitig für sein eigenes Leben und seinen Laden zu sorgen, ohne dass eines von beiden den Bach runterging.
Ich befahl mir, meine eigenen Gedanken zu drosseln. Man redete und dachte nicht schlecht über Tote. So viel Moral hatten mir selbst meine Eltern noch mitgegeben.
»Ganz bestimmt nicht. Meine Oma wohnt bei mir. Manchmal.«
»Manchmal? Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Wir haben so eine Art Wohngemeinschaft. Aber meistens arbeitet sie oder ist bei – Gregor.«
Ich zögerte jedes Mal, wenn ich Gregors Namen aussprechen musste.
»Wer ist Gregor?«
»Ihr Freund.«
Meine Oma war fünfundsiebzig, verwitwet und hatte tatsächlich einen neuen Mann kennengelernt. Und ich war mit sechzehn noch immer Single. Na bravo!
»Mein Opa ist vor vielen Jahren gestorben«, erklärte ich. »Danach ist meine Oma vom Land nach Berlin gekommen, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. Finden Sie den Fehler …«
»Okay«, nickte Bodo und ich erkannte in seinem Gesichtsausdruck, dass gar nichts okay war.
Bodo sah aus, als würde er nachdenken. Ich stellte mir vor, wie sich in seinem Kopf alle Rädchen in Bewegung setzten, um meine Situation nachzuvollziehen.
»Und ihr versteht euch gut?«
»Klar«, nickte ich. »Wenn wir uns sehen … «
Trotzdem zahlte sie jeden Monat fleißig Miete an meine Eltern, denen die Wohnung gehörte. Es war absurd. Meine Großmutter kümmerte sich schon genug um mich, sie musste nicht auch noch meinen Eltern Geld dafür geben. Ich wusste, dass sie vor allem aus finanziellen Gründen in dem Geschäft arbeitete und ihr Geld lieber in sinnvolle Dinge hätte investieren sollen.
»Was denken Sie, warum Marek ermordet wurde?«
Ich wollte nicht weiter über meine Familie reden … oder nachdenken.
»Das muss ich dich fragen. Du kanntest ihn besser«, erwiderte Bodo.«
»Wir kannten uns nicht wirklich«, wehrte ich ab.
Wie alt mochte Marek wohl wirklich gewesen sein? Hatte er überhaupt eine Familie, die um ihn trauern würde? Auf einmal fühlte ich mich schuldig. Marek war ein fester Bestandteil meines Lebens und eine wichtige Stütze für mich gewesen. Aber ich wusste fast nichts über sein Privatleben. Ich nahm mir vor, diesen Fragen nachzugehen, sobald der Fall geklärt war.
»Aber du warst öfter da. Mein Kollege sagt, dass in dem Kundenprofil stand, dass du allein diese Woche dreimal da warst«, bemerkte Bodo.
»Und?«
»Du warst eine der letzten Personen, mit der der Optechnician gesprochen hat. Kam dir irgendetwas auffällig vor? Hat er sich anders verhalten als sonst?«, fragte der Polizist weiter.
»Wie soll er sich verhalten haben?«
»War er auffällig nervös? Hat er erwähnt, dass etwas nicht stimmt?«
Ich sah Bodo skeptisch an. »Meinen Sie nicht, er wäre gar nicht erst zur Arbeit gegangen, wenn er auch nur geahnt hätte, dass er heute ermordet werden könnte?«
Ich setzte zu einer tiefen Stimme an. »Oh, was steht denn heute auf dem Plan? Frühstücken, einkaufen und ermordet werden. Das ist doch schnell erledigt.«
Bodos Stirn wellte sich, als er die dichten Augenbrauen hochzog.
»Er war wie immer, weil er keine Ahnung hatte, dass das der letzte Tag seines Lebens werden würde«, fuhr ich fort. »Ich hätte in den letzten Stunden meines Lebens zumindest was Besseres zu tun als Kontaktlinsen zu verkaufen.«
»Ist das alles, was er gemacht hat? Kontaktlinsen verkaufen?«, wollte Bodo wissen.
Etwas in seiner Stimme verriet mir, dass er die Antwort schon kannte. Er wusste, dass Marek ein Hacker gewesen war. Er wollte herausfinden, ob ich das auch wusste. Ich spürte Bodos Blick auf meinem Gesicht und wagte nur kurz, ihm in die Augen zu blicken.
Ich dachte bei seinem Anblick an Fox, den doppelgesichtigen Verräter aus meinem Lieblingsfilm, der seinen Feinden seine gute Seite zeigte, um sie in eine Falle zu locken. Es gefiel mir gar nicht, dass ich plötzlich mit Fragen zu Mareks Person konfrontiert war. Ich umschloss den Fugenkratzer in meiner Hand etwas fester.
»Was wollen Sie damit sagen?«, versuchte ich mit einer Gegenfrage auszuweichen.
Ich fürchtete, dass jede Information zu Mareks Vergangenheit als Hacker auch dazu beitragen würde, mich als verdächtig einzustufen.
»Das frage ich dich. Hast du wirklich nur Linsen bei ihm gekauft?« Bodos Blick wurde stets fordernder.
»Geht es jetzt um mich oder geht es um Marek?«, wehrte ich ab.
Bodo schaute kaum noch auf die Straßenzüge, die uns wieder in den Randbezirk der Stadt lotsten. Mir wurde übel von der ruckartigen Fahrweise. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir uns über der zugelassenen Fahrgeschwindigkeit bewegten. Normalerweise hätte das Meldesystem des Wagens die Geschwindigkeit längst drosseln müssen. Ich schloss daraus, dass es sich bei dem Wagen um ein Aftermarket handeln musste. Durch einen Hack erkannte das Fahrzeug nicht mehr, dass es schneller fuhr als erlaubt, und der Fahrer hatte freie Verfügung über die Fahrgeschwindigkeit.
»Ist der Wagen gehackt? Warum fahren wir so schnell?«, versuchte ich, erneut abzulenken.
»Dienstwagen. Lenk nicht vom Thema ab«, forderte Bodo. »Es geht um euch beide. Es scheint mir kein Zufall, dass dein Profil am Tatort aufgerufen war und dass du verfolgt wirst. Was hast du heute dort gemacht? Was habt ihr dort besprochen?«
»Besprochen? Wir haben nichts besprochen. Ich hab nur neue Linsen bestellt. Nicht mehr und nicht weniger. So wie jeder andere Kunde vermutlich auch.«
»Und alte Linsen abgeholt?«
Das war schon ein richtiges Kreuzverhör. Mir war nicht klar, wo Bodo mit seiner Fragerei hinwollte. Verdächtigte er tatsächlich mich? Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war ein Paar Handschellen an meinen Handgelenken. Ich ärgerte mich, dass ich überhaupt in seinen Wagen gestiegen war.
Erst jetzt fiel mir auf, dass Bodo das Profil erwähnt hatte. Wie konnte er wissen, dass es geöffnet gewesen war, wenn ich es doch geschlossen hatte?
Ich muss aus diesem Auto raus …
»Abgeholt?«, wiederholte ich, während ich in meinem Hinterkopf nach Fluchtmöglichkeiten suchte.
»Hast du sie jetzt dabei? Trägst du sie jetzt, die Linsen?«, fragte Bodo weiter.
Seine dunklen Augen blitzten mich an. »Du weißt, dass alles, was mit diesem Fall in Zusammenhang steht, Gegenstand der Untersuchung ist.«
Ein drohender Unterton machte sich in seiner Stimme breit.
Ich war direkt in eine Falle gelaufen.
»Wenn du irgendetwas vom Tatort entwendet hast, dann sagst du es mir besser gleich«, sagte Bodo. »Sonst kann ich für nichts garantieren.«
Er drohte mir. In meinem Kopf kollidierten die Gedanken und formten sich zu einer Erkenntnis. Es ging ihm nicht darum, den Fall zu lösen. Er war auf die Kontaktlinsen aus.
Ich musste an Mareks letzte Worte denken. Erst jetzt schienen sie Sinn zu ergeben. Er hatte mich gewarnt, nicht einfach jedem mein Vertrauen zu schenken. Anscheinend konnte ich nicht einmal der Polizei vertrauen. Mein erster Impuls, davonzulaufen, war richtig gewesen. Jeder verfolgte seine eigenen Interessen. Das hatte Marek gesagt.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Ich war leider keine besonders gute Lügnerin.
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Bodo geradeheraus. »Schau mich an, wenn ich mit dir rede.«
Wir näherten uns viel zu schnell einer Straßenkreuzung, vor deren Ampel sich eine lange Schlange Autos gereiht hatte. Das Warnsystem des Autos war deaktiviert. Das Fahrzeug würde die Geschwindigkeit nicht automatisch drosseln.
»Du sollst mir in die Augen sehen«, forderte er erneut.
Er wollte etwas darin sehen. Er wollte prüfen, ob ich die Kontaktlinsen wirklich trug. Ich wusste, dass es risikoreich war, ihm in die Augen zu blicken. Wenn er wirklich erkennen konnte, ob ich Mareks Linsen trug, dann war ich in noch größerer Gefahr. Andererseits war dies vielleicht die einzige Möglichkeit, ihm zu entkommen.
»Zwei, drei«, flüsterte er.
Ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Als ich mein Gesicht von ihm abwenden wollte, griff er nach meinem Kinn. Sein Gesicht kam mir bedrohlich nahe, als er meinen Kopf zur Seite drehte, um mir in die Augen zu starren. Sein Atem roch nach Menthol.
»Drei, vier«, zählte Bodo erneut.
Mir war nicht klar, was die Zahlen zu bedeuten hatten. Seine dunklen Augen blitzten aufgekratzt auf.
»Ich wusste es«, zischte er.
»Sie sollten bremsen«, bemerkte ich, als es bereits zu spät war.
Bodo riss den Kopf herum und stieg sofort auf die Bremse. Ein heftiger Ruck durchfuhr den Wagen, als wir mit Vollbremsung auf das Auto vor uns knallten. Der Aufprall ging durch jeden meiner Knochen. Ich biss die Zähne zusammen, als der Gurt in meine Schulter schnitt und mich vor einer Kollision mit dem Armaturenbrett bewahrte. Jede Zelle meines Körpers vibrierte, als ich endlich wieder Luft bekam.
»Scheiße, was soll denn das?«, fluchte Bodo.
Der Bordcomputer warf eine Warnmeldung aus. Etwas zu spät.
Ich schüttelte meinen Kopf, als müsste ich nach dem Aufprall erst wieder einen klaren Kopf bekommen. Mein Nacken schmerzte. Zahlen tauchten vor meinen Augen auf.
Der Fahrer des Autos vor uns war bereits ausgestiegen und blickte fassungslos auf das verbeulte Heck. Bodo glitt vom Fahrersitz und lief zu dem Kerl. Er packte ihn am Kragen, als wäre es dessen Schuld, dass wir auf seinen Wagen geknallt waren. Sie schrien sich wütend an.
Vor meinen Augen baute sich ein Profil auf. Ich hatte die Zahlen nicht wegen des Aufpralls gesehen. Es war eine Initialisierung. Die Linsen waren aktiv. Wie war das möglich?
Ich durfte mich davon nicht ablenken lassen. Wenn ich die Flucht ergreifen wollte, dann war dies meine Chance. Doch zu Fuß war ich zu langsam. Bodo würde mich innerhalb weniger Sekunden einholen.
In diesem Augenblick war es, als knallte eine Sicherung in meinem Kopf durch. Ich rutschte auf den Fahrersitz, stellte den Rückwärtsgang ein und trat auf das Gaspedal ohne weiter darüber nachzudenken.
Jeder andere, nicht manipulierte, Wagen hätte blockiert. Das Risiko, ein umliegendes Fahrzeug zu rammen, war einfach zu groß. Aber dies war ein Aftermarket und damit die Absage auf jegliche Sicherheitsvorkehrungen. Die Räder drehten quietschend durch und ich rammte beim Lenken den Wagen hinter mir. Der Stoß ließ meinem ganzen Körper erzittern. Eine Schadensmeldung blinkte grell auf dem Bordcomputer auf. Bodo sprang verwundert vor den Wagen. Ich wechselte in den Vorwärtsgang.
Die Angst vor dem Verfolger ließ mich fester auf das Gaspedal treten. Das Fahrzeug machte einen kleinen Satz. Plötzlich sauste ich quer über die Kreuzung, riss dabei Bodo um und krachte beinahe in ein entgegenkommendes Fahrzeug. Es hatte sicherlich schon bessere Versuche in der Geschichte der Fahrerflucht gegeben.
Mir war egal, ob ich gerade eine Straftat beging oder nicht. Ich wollte schnell so weit wie möglich von Bodo wegkommen, bevor er sich ein Ersatzfahrzeug suchte und mich verfolgte. Ich ging davon aus, dass er das Auto tracken konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er mich fand, und auch die Straßenpolizisten und Sicherheitskontrollen würden bald auf mich aufmerksam werden.
Ich war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie alleine mit einem Wagen schneller als fünfzig Stundenkilometer gefahren. Nun raste ich mit hundert Stundenkilometern durch ein sonst seelenruhiges Wohngebiet, während die Kontaktlinsen mir bisher unbekannte Optionen aufwiesen. Ich krallte mich an dem großen Lenkrad fest und kniff die Augen zusammen, als ich über eine rote Ampel raste. Schweiß bildete sich unter meinen Handflächen, die schon fast mit dem Lederbezug verschmolzen. Ein Fahrzeug schlitterte von rechts mit quietschenden Reifen knapp an mir vorbei und ich stieß einen Schrei der Erleichterung aus. Zum Glück fuhren alle anderen mit aktiven Sicherheitssystemen.
Ich hatte seit dem Fund von Mareks Leiche keinen klaren Gedanken mehr gefasst und auch jetzt wirbelten mir Ideen, Erinnerungen und Zweifel durch den Kopf. Anstatt meine Gedanken zu ordnen, trat ich einfach weiter auf das Gaspedal und hielt den Lenker fest umklammert. Der Wagen segelte über die Fahrbahn wie ein Schlachtschiff. Die Lichter der Vorstadt zogen wie Blitze an mir vorbei. So viel Kontrolle über ein Fahrzeug zu haben, gab mir ein Gefühl der Befreiung. Dabei war ich mir nicht sicher, ob ich das Auto steuerte oder das Auto mich.
Nach und nach kam mir die Gegend, durch die ich raste, bekannter vor. Die großen, freistehenden Häuser, die gepflegten Straßen, das vorörtliche Idyll. Ich war auf dem richtigen Weg. Ich war nicht mehr weit von Bens Nachbarschaft entfernt.
Die Linsen warfen mir die Fahrtrichtung voraus und welche Straßenabbiegungen folgten. Sie hatten erkannt, dass ich mit einem Auto unterwegs war.
Ich ging vom Gas und sah mich suchend um. Ich musste den Wagen an einer Stelle platzieren, die nah genug an Bens Zuhause lag, jedoch keinen Hinweis auf mein Ziel gab. Schließlich fuhr ich in eine Gasse, die unweit einer Bushaltestelle lag und stieg aus. Wenn ich Glück hatte, würde Bodo denken, dass ich wieder in einer S-Bahn gelandet war. In einer Stadt mit 3,8 Millionen Einwohnern gab es viele Wege, auf denen man abtauchen konnte.
Ich lief auf die Beifahrerseite und griff nach dem Fugenkratzer. Wenn Bodo mir folgte, dann wollte ich es ihm so schwer wie möglich machen. Ich zog die Schutzkappe von der Klinge ab und ging zum Hinterreifen. Mit etwas Schwung schlug ich die Spitze auf das solide Gummi des Reifens. Sie sprang zurück wie ein Flummi. Ich setzte erneut an und versuchte dabei etwas seitlicher in den Reifen zu stechen. Mit aller Kraft schlug ich zu. Zwar war ich nicht tief gekommen, aber die Spitze hatte sich in dem schwarzen Material verfangen und ein kleines Loch in den Reifen gebohrt. Triumphierend zog ich den Fugenkratzer heraus und ertastete, wie langsam Luft aus dem Reifen strömte.
Jetzt konnte ich auch noch Vandalismus auf der Liste meiner Straftaten vermerken. Wenn das in Kombination mit den Fingerabdrücken nicht eindeutig nach Flucht aussah. Ich rutschte immer tiefer in diese Sache hinein.
Ich lief in Richtung des kleinen Parks, den Ben und ich im Frühling und Sommer gelegentlich besuchten, und durchquerte ihn im Schutz der Bäume. Bens Haus lag ungefähr einen Kilometer von hier entfernt. Ich würde mich ihrem Grundstück von hinten nähern.
Die kalte Luft brannte in meinen Lungenflügeln und ich musste an die vielen Wettrennen mit Ben denken, die ich jedes Mal so kläglich verlor. Kleine Atemwölkchen stiegen in immer schnellerer Abfolge vor meinen Lippen auf. Unter meinen Rippen machte sich ein ziehender Schmerz bemerkbar.
Mit zitternden Händen kletterte ich über das Gartentor und fiel erschöpft über das Gitter. Das kühle Metall hinterließ weiße Abdrücke auf meinen Handflächen. Der Sturz löste den Bewegungsmelder aus und grelles Licht schien mir in die Augen.
Schwer atmend rappelte ich mich wieder auf und rannte quer über die lange Grasfläche auf das Wohnhaus zu. Diese Wohngegend war ganz anders als das volle, laute Berlin, in dem ich lebte. Die Dens hatten einen ausladenden Garten, von dem ich mit meiner kleinen Dachterrasse nur hätte träumen können. In den Ferien verbrachten wir viel Zeit hier, lagen nachmittags in der Sonne und veranstalteten nachts Freiluftscreenings mit den neuesten Filmen. Ben und ich hatten im letzten Sommer gemeinsam Tomatensträucher angepflanzt, deren unterkühlte Gerippe jetzt erschöpft von den Halterungen hingen.
Die Terrassentür sprang auf und ein großes haariges Geschöpf kam zunächst knurrend und dann winselnd auf mich zugelaufen. Argos hatte mich noch im Lauf wiedererkannt und sprang mich schließlich freudig erregt an. Erleichtert griff ich ihm in das weiche Fell und suchte nach Halt. Selten hatte ich mich in der Gegenwart eines Hundes so geborgen gefühlt. Argos war ein Akita, ein besonders flauschiger japanischer Hund. Er war seit vier Jahren treues Mitglied der Familie Den.
»Mav?«, rief Ben und lief auf mich zu.
Erleichtert fielen wir uns in die Arme.
»Was ist passiert?«
»Er wollte mir nicht helfen«, keuchte ich.
Ich hatte soeben sein Auto gestohlen. Wenn Bodo zuvor doch auf meiner Seite gewesen war, dann war er dies jetzt sicherlich nicht mehr.