Donnerstag, 20:38 Uhr

Das eiskalte Wasser fühlte sich wunderbar an auf meiner Haut. Ich spritzte mir einen weiteren Schwall in mein Gesicht, bevor der Strom an Wasser erlosch. Erschöpft richtete ich mich auf und schaute in den Spiegel. Ich sah aus, als hätte ich drei Nächte durchgemacht. Derartig fertig hatte ich zuletzt nach Linus-Laurins Geburtstagsparty ausgesehen. Und diesmal war keine Wodkamelone im Spiel.

Ich atmete dreimal tief ein und wieder aus und verließ die Damentoilette. Ben begrüßte mich vor der Tür mit einem Becher Fruchtsaft.

»Wo ist Hawk?«, fragte ich ihn und ein Teil von mir hoffte, dass er sich einfach in Luft aufgelöst hatte.

Ben deutete in Richtung Bestelltresen. Hawk stand mit verschränkten Armen vor der Anzeigetafel und blickte unentschlossen auf das Angebot.

»Können Sie Ihren Entscheidungsprozess etwas beschleunigen?«, stöhnte ich.

»Ich habe sehr viele Unverträglichkeiten. Ich kann nicht einfach so irgendetwas bestellen.«

»Dann lassen Sie es eben sein.«

Wir hatten an einem Drive-In gehalten, um uns etwas zu stärken und unsere Gedanken zu ordnen. Nun machte Hawk selbst aus seiner Bestellung eine Wissenschaft.

Er sah mich griesgrämig an: »Du kannst von Glück reden, dass ich ein anständiger Typ bin, Kleine. Sonst wärst du jetzt entweder schon blind oder tot.«

Ein Kunde vor uns drehte sich bei dieser Aussage irritiert um und warf Hawk einen abwertenden Blick zu.

»Er meint es nicht so«, lächelte ich und zog mein Gegenüber beiseite: »Verhalten Sie sich endlich mal normal.«

»Ich meine es genauso, wie ich es sage«, fauchte Hawk.

»Seht euch das an«, sprach Ben dazwischen und deutete auf eines der Fenster, über das gerade die Neuigkeiten des Tages flimmerten.

TOTER BEI RAUBÜBERFALL IN BERLIN stand dort in großen Buchstaben. Die Sprecherin erzählte lautlos etwas zu dem Fall. Hawk aktivierte sein Screenpaper, um die Meldung mit Ton abzurufen. Kurz darauf lief das gleiche Video mit etwas Zeitverzögerung über das Display an seinem Unterarm.

»Ein 36-jähriger Optechnician wurde tot in seinem Geschäft aufgefunden. Die Polizei geht von einem Raub mit Mord oder Totschlag aus«, berichtete die Frau mit ruhiger Stimme.

»Sollten Zeugen Verdächtiges in der Umgebung des Tatortes beobachtet haben, werden sie gebeten, sich bei der Kriminalpolizei zu melden.«

Die Sprecherin gab die Kontaktdaten der Meldestelle durch und mir wurde erneut übel bei dem Gedanken, dass ich einfach vom Tatort weggelaufen war. Die folgende Nachricht verstärkte meinen Brechreiz. Die Sprecherin fuhr fort: »In Zusammenhang mit diesem Fall sucht die Polizei auch nach einer sechzehnjährigen Berlinerin namens Nora-Sophie Ruiz …«

Ich hätte beinahe meinen Fruchtsaft auf den Boden gespuckt.

Ein Foto von mir tauchte auf dem Display auf. Es war mein Ausweisfoto, das ich für fast all meine digitalen Papiere verwendete. Ich sah darauf aus wie eine Verbrecherin. Eine ziemlich junge Verbrecherin mit einer grauenhaften Frisur, um genau zu sein. Welcher Teufel hatte mich geritten, mir die Haare streng nach hinten zu binden?

»Bad hair day?«, spottete Hawk neben mir.

»Wer im Glashaus sitzt, …«

»Und das ist der Grund, warum ich deinen Safe gesperrt habe«, unterbrach mich Hawk.

Ich traute meinen Augen kaum, als Emmas pfirsichfarbenes Gesicht auf einmal auf dem Display erschien. Der säuerliche Saft stieg direkt wieder meine Kehle hoch. Sie wurde als meine »Mitschülerin« und die »Zeugin« vorgestellt, die mich zuletzt lebend gesehen hatte.

»Ich habe gleich gemerkt, dass da was nicht stimmt«, erklärte sie dem Reporter und stemmte die Hände in ihre schmalen Hüften. »Die stand völlig neben sich. Ich wäre aber nie darauf gekommen, dass sie was mit einem Mord zu tun hat. Ich habe ihr sogar noch ein PuC freigeschaltet und ihr quasi zur Flucht verholfen. Ich fühle mich so schuldig. Außerdem schuldet sie mir 4,16 Euro.«

Ich zerdrückte den halbleeren Becher in meiner Hand. Das Getränk quoll über den Deckel und rann über meine Faust. Am liebsten hätte ich Emma den Saft über ihr goldblondes Haar gegossen.

Hektisch ergriff ich Bens Arm und zog ihn hinter mir aus dem Restaurant. Hawk folgte uns auf dem Fuß.

»Wo geht ihr hin?«, fragte er nervös. »Ihr könnt nicht zur Polizei. Das ist euch hoffentlich bewusst.«

»Und warum genau ist das keine Option?«, hakte ich nach, obwohl ich diese Möglichkeit für mich selbst bereits ausgeschlossen hatte.

»Ist das nicht klar?«, fragte Hawk. »Die Kontaktlinsen können in den falschen Händen viel Schaden anrichten. Ich vertraue niemandem in dieser Sache. Auch keinem Bullen!«

»Und uns ganz offensichtlich auch nicht«, schimpfte ich.

Ich war mir noch immer nicht sicher, welche Rolle die Polizei in diesem Fall spielte. Bodo hatte sich zwar als Kommissar ausweisen können, aber wenn er tatsächlich bei der Polizei war, dann würden wir direkt in eine Falle laufen, sobald wir uns dort meldeten. Ben hätte nie bei der Polizei anrufen dürfen. Ich biss mir auf die Zunge, um diesen Gedanken nicht laut auszusprechen.

Und jetzt fiel mir Emma auch noch in den Rücken. Dabei hatten wir für circa zwei Sekunden so etwas wie eine echte zwischenmenschliche Bindung erlebt, als sie mir das Auto geliehen hatte.

Uns blieb für den Moment nichts anderes übrig, als uns so unauffällig wie möglich zu verhalten. Wir gingen zu dem Auto der Dens, in dem Argos bereits ungeduldig auf uns wartete.

Hawk kniff die Augen zusammen. »Solange du mir nicht gibst, was ich haben will, gebe ich dir auch nicht, was du haben möchtest. Das Problem ist, dass du dich mit deiner Neugierde nur immer tiefer mit in das Geschehen begibst, während ich versuche, dich da rauszuhalten.«

»Es ist ja wirklich herzerwärmend, dass Sie sich Gedanken um mein Wohl machen, aber ich kann ganz gut eigene Entscheidungen treffen und ich werde keine Ruhe geben, bis ich die ganze Wahrheit weiß«, konterte ich.

Seine Forderung, mich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten, wurde stets absurder. Wie konnte ich jetzt noch nach Hause gehen und hoffen, dass die Dinge sich von alleine klärten?

»Weißt du, dass es Leute wie du sind, die alles nur noch schlimmer machen?«, warf er mir vor. »Du steckst deine Nase in Sachen, die dich nichts angehen. Überall wo du hingehst, ziehst du eine Spur von Beweisen hinter dir her. Je mehr du erfährst, desto gefährlicher wirst du. Mach doch mal die Augen auf. Die Polizei sucht nach dir. Dein Gesicht pflastert die Displays dieser Stadt!«

»Und das ist jetzt Ihr Argument, damit ich Ihnen die Kontaktlinsen zurückgebe? Zusammen mit den einzigen Beweisen, die ich besitze«, schleuderte ich ihm entgegen.

Ich klang selbstsicherer als ich mich fühlte.

»Sobald ich die Linsen in den Händen halte, werde ich alle Informationen, die dich belasten könnten, vernichten. Das verspreche ich.«

Er streckte mir die Handflächen entgegen, als könnte er mit damit beweisen, dass er nichts zu verbergen hatte.

»Wie beruhigend. Und das von der Person, die sich in die Profile toter Freunde hackt«, schmetterte ich seine alberne Geste ab.«

Hawks Augen verengten sich wieder zu schmalen Schlitzen. Verachtung schoss mir aus ihnen entgegen wie Laserstrahlen,

»Wenn diese neue Technologie auch in Ihren Augen so gefährlich ist, warum haben Sie sie dann überhaupt entwickelt?«, fragte Ben.

»Es ist alles sehr kompliziert. Das verstehst du nicht. Auf jeden Fall ist es zu spät, moralische Bedenken darüber zu äußern«, versuchte Hawk zu erklären. »Und wenn wir es nicht gemacht hätten, dann hätte es früher oder später jemand anderes getan.«

»Und das rechtfertigt Ihre Arbeit?«, warf ich ihm entgegen.

Hawk verschränkte die Arme vor der Brust.

»Mädchen, so wie ich das sehe, habe ich bisher nichts anderes getan als dir zu helfen. Wenn ich mich nicht irre, habe ich keinerlei Anstalten gemacht, die Linsen gewaltsam aus deinen Augen zu entwenden.«

»Das wäre ja noch schöner!«, rief ich aus. »Außerdem bin ich nicht irgendein Mädchen, ich heiße Mav!«

Hawk ignorierte meine Worte.

»Wir haben Sie mit ins Auto gelassen, als der irre Kerl aufgetaucht ist«, konterte Ben und entriegelte die Wagentür. »Damit sind wir wohl quitt.«

Hawk schob sich neben mich zur Beifahrertür.

»Ohne mich wärt ihr mit fünfzig Stundenkilometer nicht weit gekommen. Macht euch doch nichts vor. Ihr habt ohne mich keine Chance!«

Ben und ich wechselten unentschlossene Blicke. Wir hätten in diesem Moment in das Auto steigen und davonfahren können. Nur war ich mir nicht sicher, was uns das bringen würde. Unser Vorsprung wäre zu gering. Wie ich Hawk einschätzte, würde er sich sofort in eines der geparkten Autos hacken und uns folgen. Solange ich die Linsen bei mir trug, konnte er mich überall aufspüren. Letztendlich benötigte ich seine Hilfe, um herauszufinden, warum Marek sterben musste.

»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie Kasperskys Mörder auf der Spur sind«, erinnerte ich mich. »Sie bräuchten nur die richtigen Beweise.«

Hawk blickte mich verblüfft an. Meine diplomatische Seite war ihm unbekannt. »Das ist richtig.«

»Haben Sie eine Idee, wie wir an diese Beweise kommen könnten?«

»Durchaus. Es ist nur …«, der Wissenschaftler hielt inne und kratzte sich am Hinterkopf. »Nun ja. Es bedarf einiger illegaler Aktivitäten, um an die Informationen zu kommen.«

Ich zog die Augenbraue hoch. »Illegaler als ein Auto zu entwenden, Fahrerflucht zu begehen und anschließend die Reifen aufzuschlitzen?«

»Moment!«, rief Ben erschrocken dazwischen. »Hast du das etwa alles gemacht?«

Hawk ließ sich davon nicht beirren. »Illegal genug, um dafür verhaftet zu werden. Und deinem Datenschutzkumpel wird es ganz sicher nicht gefallen«, antwortete er und nickte Ben zu.

»Sie wollen sich in ein geschlossenes Netzwerk hacken«, vermutete ich.

Hawk verschränkte die Arme vor der Brust. »In diesem Fall sind Codes nicht genug. Wir werden einbrechen müssen. Ganz analog …«