Donnerstag, 21:05 Uhr

»Es ist im ersten Stock«, erklärte Hawk.

Ich schaute durch das Seitenfenster an dem grauen Gebäude hinauf. Das Haus sah alt und verlassen aus. Als hätte man es vor Jahren schon geräumt. Hawk hatte uns hierher gelotst und auf dem Weg dorthin hatte ich die Orientierung verloren. Mit funktionierenden Kontaktlinsen wäre mir das nicht passiert.

»Können Sie uns noch einmal erklären, warum wir ausgerechnet in dieses Gebäude einbrechen müssen?«, fragte Ben und ich hörte Unbehagen in seiner Stimme.

Hawk runzelte die Stirn. »Junge, es ist für dich doch nicht wichtig, in welches Gebäude wir einbrechen. Du hättest es lieber, wenn wir in gar keines einbrechen würden.«

»Richtig«, nickte Ben. »Und jeder mit gesundem Menschenverstand würde mir zustimmen.«

Mein bester Freund hatte recht, aber ich war bereit Risiken einzugehen, wenn sie mich ein Stück näher an den Grund für Mareks Tod brachten.

Für Ben war die Situation eine ganz andere. Er war Marek gerade zweimal begegnet und hätte keinerlei Bezug zu dem Fall, wenn ich ihn nicht mit hineingezogen hätte.

»Wenn dir das zu viel ist, dann musst du da nicht mitmachen«, erklärte ich. »Ich verstehe das. Auch wegen deines Vaters.«

Ben schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.«

Er warf einen misstrauischen Blick zu Hawk. »Ich traue dem Kerl nur nicht.«

»Ich weiß. Aber wir brauchen ihn genauso wie er uns braucht.«

»Ich kann euch hören«, brummte Hawk. »Dass wir in diesem Leben keine Freunde mehr werden, haben wir ja schon geklärt. Ich liefere dir die Hinweise zum Mörder deines Kumpels, du gibst mir dafür die Linsen und am Ende schalte ich deinen Safe frei.«

Ich nickte. »Also, wie lautet der Plan?«

Hawk hielt uns sein Screenpaper vor die Nasen. Er aktivierte die Hologrammfunktion, die uns ein Abbild des Häuserblocks zeigte, vor dem wir uns befanden. Wie ein Architekturmodell ragte es bis unter die Decke des Cabriolets. Hawk drehte das Hologramm, sodass wir die Straßenzüge und Häuser von oben sehen konnten. In matten Farben schimmerten sie uns entgegen.

»Wir befinden uns in dieser Nebenstraße. Der Haupteingang zum Gebäude ist direkt hier an der Ecke«, deutete er auf die entsprechende Stelle. »Ich konnte mir bisher noch keinen Zugang zum Sicherheitssystem in der Wohnung verschaffen. Aber ich habe auch nicht erwartet, dass es so einfach werden würde.«

Ich schaute auf die spröde Fassade, von der sich alte Farbe schälte. Auf den ersten Blick hätte ich nicht erwartet, dass ein so altes, ranziges Haus in irgendeiner Form gesichert war.

»Was für eine Bruchbude! Hatte Kaspersky Geldprobleme?«, wunderte ich mich.

»Das ist durchaus möglich. Es gibt vieles über Kaspersky, das ich nicht weiß. Vielleicht hat er mich sogar für Geld verraten«, antwortete Hawk nachdenklich. »Kaspersky hatte ein ziemlich schizophrenes Verhältnis zu allem. Er verabscheute Geld, aber er war dennoch darauf aus. Er verachtete die Technologie genauso sehr wie er sie liebte. Er wollte bestehende Codes brechen, um allen zu zeigen, wie unzulänglich sie waren. Dabei hat er noch viel Größeres geschaffen. Es war diese Hassliebe, die ihn zu einem guten Programmierer gemacht hat. Die Ironie ist, dass wohl genau das ihn ins Verderben gestürzt hat.«

Als Hawk so darüber sprach, hatte die Geschichte irgendwie etwas Schicksalhaftes. Würden mein Streben und meine Neugier uns allen auch zum Verhängnis werden? War das der Moment, an dem wir umkehren und davonlaufen sollten? Wir waren alle hier, weil uns etwas antrieb. Das Gebäude vor uns hatte eine fast magnetische Wirkung auf mich. Ich wollte es plötzlich riskieren und das Schicksal herausfordern. Ich wollte wissen, was sich hinter Kasperskys Wohnungstür verbarg.

Im Gleichschritt trabten wir die Treppenstufen hinauf. Wir hatten den alten Klingeltrick angewendet, um in das Gebäude hineinzukommen und wahllos auf einen der Klingelknöpfe gedrückt. Es gab immer einen Idioten, der ohne weitere Nachfrage den Buzzer betätigte.

Im Hausflur roch es muffig. Die Tapete löste sich von den Wänden und schlug Wellen, die ich zu gern mit den Händen glattgestrichen hätte. Sie stammte aus einer Zeit, als digitale Wallpaper noch Zukunftsvision gewesen waren. Der Teppich auf der Treppe war völlig abgetreten und glich einem überfahrenen Igel.

Im zweiten Stock blieben wir vor Kasperskys Wohnungstür stehen. Es handelte sich dabei um eine dicke Metalltür, die im Gegensatz zu allem anderen nagelneu wirkte.

»Ich nehme an, dass es keine Option ist, die Tür einfach aufzubrechen«, spottete Ben.

Hawk war bereits damit beschäftigt, über sein Screenpaper eine Verbindung zu dem Iris-Scanner neben der Tür herzustellen.

Ich legte die Stirn in Falten. »Kommen Sie überhaupt in das System?«

»Das ist tatsächlich eine Herausforderung«, gestand Hawk.

»Ist es ein geschlossenes System?«

Er schüttelte den Kopf. »Man sollte in der Tat annehmen, dass ein geschlossenes Netzwerk die beste Sicherung wäre. Man verzichtet einfach auf jegliche Verbindung nach Außen, so kann auch keiner eindringen. Aber dieser Scanner ist mit einer Alarmanlage versehen. Jeder Versuch, die Anlage auszuschalten, kann den stillen Alarm auslösen. Und Kaspersky hat sicherlich auch noch ein paar Falltüren eingebaut. Das Risiko ist zu hoch.«

»Und wenn Sie die Anlage hacken, wird dies an die Polizei gemeldet, wie bei dem Kerl vorhin in meinem Haus?«, hakte Ben nach.

»Das ist durchaus möglich.«

Bei einem Einbruch erwischt zu werden, stand nicht gerade an der Spitze meiner Wunschliste. Ich beugte mich zu Argos vor und kraulte ihn hinter dem Ohr. Er hechelte mir fröhlich erregt entgegen. Für den Hund war dieser Ausflug die reinste Party. Unwissenheit macht manchmal doch glücklich.

»Ich hoffe, dass sie dich zumindest gehen lassen, wenn sie uns festnehmen.«

Ich hatte Ben gebeten, Argos mitzunehmen. Jetzt war mir trotzdem mulmig zumute. Ich hätte ihn in dem Auto genauso wenig zurücklassen können, wie in Bens Haus. Ich sah auf meine Handfläche, an der einige seiner rötlichen Haare klebten. Argos’ Fell würde hier einige Spuren hinterlassen.

Ich wischte meine Hand an meinem Hosenbein ab.

»Ein Hack ist zu riskant.« Hawk blickte uns, für seine Verhältnisse, verschmitzt an: »Ich habe eine bessere Idee.«

Das konnte nichts Gutes bedeuten.

»Was ist, wenn er mich in den Nachrichten gesehen hat?«, fragte ich nervös.

»Sobald du ihm in die Augen blickst, wird er alles um sich herum vergessen«, zwinkerte Hawk.

Es war ein Scherz, trotzdem war es eher unheimlich als schmeichelhaft, solche Worte aus seinem Mund zu hören.

Ben legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter. »Wenn dir was verdächtig vorkommt, dann brich die Aktion einfach ab. Dann finden wir einen anderen Weg, um an die Informationen zu kommen.«

»Du solltest dich auf eines der beiden Augen konzentrieren«, sprach Hawk dazwischen. »Dabei bleiben deine Augen ruhiger und die Kontaktlinsen können schneller reagieren. Sobald die Initialisierung beginnt, weichst du seinem Blick aus, bedankst dich und ziehst ab. Hoffentlich hat er auch braune Augen. Dann ist es weniger auffällig.«

Ich war mir nicht sicher, ob unser Plan brillant oder bescheuert war. Ich weigerte mich noch immer, die Kontaktlinsen herauszunehmen. Für mich war die Gefahr zu hoch, dass Hawk sie ergreifen und damit davonlaufen würde. Die logische Konsequenz war, dass ich nun dem Vermieter des Gebäudes die Augen scannen musste. Anhand seines Profils konnten wir uns Zugang zu Kasperskys Wohnung verschaffen.

»Und es ist sicher der Vermieter, der im Erdgeschoss wohnt?«, fragte Ben.

Hawk nickte bestimmt. »Kaspersky hat mir mehrmals erzählt, wie anstrengend der Mann sein kann. Er hat gerne die Kontrolle über alles.«

»Wie beruhigend«, seufzte ich. »Wissen Sie, dass ich im Theaterkurs in der achten Klasse eine vier bekommen habe?«

»Dann ist das jetzt dein Moment, diese alte Schmach wiedergutzumachen. Zeig der Welt, was du kannst. Strahle wie ein Star«, kommentierte Hawk trocken und schob mich in Richtung Treppenabsatz.

Ich wischte meine zitternden, schweißnassen Finger an meiner Hose ab und ging langsam die Treppe runter.

Auf den wenigen Metern zur Wohnungstür des Vermieters versuchte ich, mich an den Text zu erinnern, den Hawk mir vorgesagt hatte. Irgendetwas mit einem Dinner und einem Korkenzieher … Genau deshalb hatte ich eine vier im Theaterkurs bekommen.

Ich spürte meinen Pulsschlag im Hals, als ich mich der Tür näherte. Aus der Wohnung drangen die Geräusche einer Sendung oder eines Films auf den Flur. Ich blickte zur Treppe hinauf. Ben und Hawk hatten sich weiter oben versteckt. Zögerlich drückte ich auf die Klingel.

Ich hörte ein Husten gefolgt von Schritten, die auf die Tür zukamen. Ein kleiner, dicker Mann öffnete die Wohnungstür. Ich selbst war nicht besonders groß, aber dieser Zwerg war noch kleiner als ich. Er ging mir gerade mal bis zum Kinn und ich konnte ihm direkt auf seinen fast kahlen Kopf schauen.

»Ja bitte?«

Seine Stimme klang forsch.

Ich suchte den Kontakt zu seinen tiefliegenden Augen.

»Hi!«

Was hatte ich nochmal sagen wollen?

»Korkenzieher!«

»Korkenzieher?«

Der Mann kniff die Augen zusammen. So würde ich sie nie scannen können!

»Genau«, nickte ich freundlich. »Wir kochen gerade und uns fehlt ein Korkenzieher. Da dachte ich mir: Frag doch einfach mal bei den Nachbarn nach.«

»Ich habe keinen Korkenzieher«, gab der Mann knapp zurück. Dann flog die Tür vor meiner Nase zu.

Verwundert starrte ich auf das helle Metall.

»Okay«, murmelte ich und sah mich verwirrt um.

Das war nicht gerade nach Plan verlaufen. Vier Sekunden konstanter Blickkontakt waren wohl doch eine Herausforderung.  Vor allem mit einem fremden, mürrischen Mann, der nach Zwiebeln roch. Mir blieb nichts anderes übrig, als es noch einmal zu versuchen. Diesmal klopfte ich.

Einen Moment lang geschah nichts, dann hörte ich seine Stimme. Er fluchte, als er die Tür ein zweites Mal öffnete.

»Sie schon wieder?«

»Wohl eher immer noch«, lächelte ich. »Sie haben mich ja gar nicht ausreden lassen.«

Der Mann blickte mich stumm an. Ich verbuchte das als Erfolg.

»Das mit dem Korkenzieher ist natürlich schade«, fuhr ich fort. Nicht blinzeln.

»Aber leider haben wir auch kein … Salz da.«

Ich ließ die Worte langsam von der Zunge rollen, als hätte ich ein Glas Wein zu viel getrunken, und lehnte mich weiter vor, bis ich fast über dem Mann hing.

»Und keinen Zucker.«

Grüne Augen. Seine Wimpern waren kurz und spärlich. So nah wäre ich ihm im normalen Leben nie genommen. Wie konnte man so intensiv nach Gemüse stinken?

Nicht blinzeln. Ich durfte jetzt nicht die Konzentration verlieren.

»Und Zwiebeln?«

Wenn er Letzteres nicht im Haus hatte, dann würde ich ein ganzes Kehrfahrzeug fressen.

Die vier Sekunden mussten doch langsam rum sein!

Der Mann legte die Stirn kraus. Ich konnte ihm ansehen, dass ich ihm irgendwie verdächtig vorkam. Hatten sich die Kontaktlinsen bereits verfärbt und er hatte es bemerkt? Oder kannte er mich schon aus den Nachrichten? Meine Hände wurden kalt und feucht.

Er fasste sich mit der linken Hand an sein Kinn.

»Salz, ja«, nuschelte er in seine dicken Wurstfinger.

In diesem Moment sah ich eine Zahlenreihe im unteren Sichtbereich. Der Scan hatte funktioniert!

»Fantastisch«, rief ich erleichtert aus.

Schnell schlug ich die Augen nieder und versuchte, meine erste Reaktion herunterzuspielen: »Ich meine, dann ist unser Dinner gerettet.«

»Aber nicht dass wir uns falsch verstehen: Zwiebeln und Zucker habe ich nicht«, sagte der Vermieter mit erhobenem Zeigefinger. »Einen Moment.«

Keine Zwiebeln. Das kaufte ich ihm nicht ab. Vermutlich wollte er alle Zwiebeln für sich selbst behalten. Damit konnte ich leben.

Währenddessen öffnete sich sein Safe vor meinen Augen. Dieser Anblick erfüllte mich mit Erregung und Abscheu zugleich. Da stand ich und verschaffte mir einfach Zugriff auf sein Leben. Auf der rechten Seite meines Sichtfeldes tauchten Zahlen und Statistiken auf. Es schien sich dabei um Spielergebnisse zu handeln. Unter den Zahlenreihen standen der Nutzername SuperZocker1967 und eine Art Kontostand. Damit verbrachte er also seine Freizeit. Das Geld hätte er lieber in die Fassade des Gebäudes investieren sollen.

Auf der linken Seite war das Menü zu sehen. Für gewöhnlich waren die Schaltflächen weiß, halbtransparent oder grau und fügten sich natürlich in die reale Umgebung ein. Hier aber waren sie golden und funkelten mir entgegen.

Der Hausmeister kam zurück und drückte mir einen kleinen Salzstreuer in die Hand. Er hatte die Form eines Spielwürfels. Nachdem ich sein Profil gesehen hatte, überraschte mich dieses Design nicht.

Misstrauen funkelte mir aus seinen Augen entgegen.

»Den will ich nachher aber zurückhaben. Ist mein Glücksbringer.«

Der Zugang zu Kasperskys Wohnung war ein Kinderspiel. Ich musste lediglich in den Scanner an seiner Wohnungstür blicken und das Schloss sprang auf. Bis zu dieser Aktion war mir nicht bewusst gewesen, dass ich mit den Kontaktlinsen nicht nur Zugang zu den Safes anderer hatte, sondern mit der Kopie ihrer Augen auch auf all ihr Hab und Gut zugreifen konnte. Ich hätte mir in diesem Moment mit dem Profil des Vermieters ein PuC mieten oder auf Shoppingtour gehen können.

Die Linsen, die ich trug, wurden laut Hawk als zusätzliches Gerät angesehen, das mit dem Safe verbunden war. Ähnlich wie wenn man mit den Kontaktlinsen und einem Screenpaper gleichzeitig auf unterschiedliche Bereiche des Safes zugriff.

Unter meinen Respekt für Hawk mischte sich Besorgnis. Er war ein derartig guter Hacker und Tüftler, dass er eine Bedrohung für alle werden konnte. Seinen Mangel an emotionaler Intelligenz vergrub er unter technischem Sachverstand. Ein riskantes Ungleichgewicht …

Hawk zog sich seine Handschuhe an, bevor wir die Wohnung betraten. Er würde schon mal keine Fingerabdrücke hinterlassen. Vorsorglich zog ich mir die Ärmel über die Hände.

Ben deaktivierte seine Linsen, nachdem sein Vater zum fünften Mal versucht hatte, ihn zu erreichen. Ich konnte ihm ansehen, dass ihm nicht wohl dabei war. Ben hatte eine sehr starke Bindung zu seinem Vater.

»Es ist besser, wenn dein Vater da nicht mit reingezogen wird«, erinnerte ich meinen Freund.

»Verhaltet euch so leise wie möglich. Man kann nie wissen, ob wir nicht noch Gesellschaft bekommen«, warnte Hawk.

Hawk ging voran und ich folgte ihm. Ben bildete den Abschluss und führte Argos dicht an seiner Seite den Flur entlang.

Ich ergriff mein zusammengerolltes Screenpaper und nutzte es als Taschenlampe. In der Wohnung roch es stickig nach Heizungsluft. Kaspersky hatte nach seinem letzten Aufenthalt die Heizung angelassen. Als hätte er kurz rausgehen wollen, um wenig später wieder zurückzukommen.

Der Flur war nur spärlich eingerichtet. An der Garderobe hingen zwei Jacken, neben der Tür stapelten sich Schuhe.

An einer der Wände hing ein Poster. Im Licht des Screenpapers wirkte die Abbildung geisterhaft. Ich wusste nicht, ob es eine Maske oder ein Gesicht war, das mich von dem dicken Papier aus angrinste. Ein weit nach oben gebogener Schnurrbart krönte das Grinsen. Die Wangen waren vor Beglückung rosig eingefärbt. Die Augen bestanden aus kleinen, schwarzen Schlitzen. Es glich einem Geist, der uns bei diesem Einbruch beobachtete.

»Jugendsünden«, murmelte Hawk von der Seite und betrat einen Raum, von dem ich erst annahm, dass es das Wohnzimmer war.

Ich durchleuchtete den Raum mit dem dünnen Lichtstrahl. Das war kein Wohnzimmer, sondern ein Arbeitszimmer. Auf der rechten Seite türmten sich drei große Regale bis tief unter die Decke. Auf den oberen Regalböden reihten sich alte elektronische Geräte. Aus manchen von ihnen standen Kabel hervor, andere sahen noch intakt aus. Die unteren Reihen waren bis in den letzten Quadratzentimeter mit Comicheften gefüllt. Die Schutzfolien waren mit einer Staubschicht bedeckt.

Kaspersky, du hast Comichefte gesammelt … und Staub, viel Staub …

Auf der anderen Seite des Raumes stand ein großer Tisch, der eine Kombination aus Arbeitsplatte und Schreibtisch war. Die Oberfläche bestand aus einem großen Display, auf dem einige Bücher lagen.

Hawk schob die Bücher beiseite und zog einen seiner Handschuhe aus, dann legte er die flache Hand auf das Display. Die Oberfläche reagierte mit einem sanften bläulichen Schimmern auf die Berührung. Lange Schatten zogen sich über Bens und Hawks Gesichter, als das Licht sie von unten anstrahlte. Hawk zog die Hand wieder zurück und wischte mit seinem Handschuh über die Oberfläche, um seine Fingerabdrücke zu entfernen.

»Jemand war hier.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Ben.

»Schau auf das Display. Sieh dir den dünnen Staubfilm an, der auf der Oberfläche und den Büchern liegt. Im Vergleich dazu ist die Stelle, die ich soeben berührt habe, makellos rein«, erläuterte er und deutete auf die einzelnen Stellen.

Er wies auf eine Ecke am unteren Bildschirmrand.

»Hier liegt ebenfalls ein wenig Staub. Aber siehst du die rechteckige Stelle dort, an der fast gar kein Staub zu sehen ist? Da hat etwas gelegen, das nun nicht mehr da ist.«

»Woher wissen Sie, dass Kaspersky es nicht selbst weggenommen hat? Schließlich war er diese Woche noch hier«, fragte Ben.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Hawk. »Ich vermute nur.«

Immerhin war er ehrlich.

»Wer könnte sich noch Zugang zu der Wohnung verschafft haben?«, fragte ich.

»Dazu braucht es entweder den Vermieter oder enge Verbindungen zu der Sicherheitsfirma, die das System verwaltet.«

»Die Polizei hat sicherlich solch gute Verbindungen, oder?«, vermutete Ben.

»Das ist richtig. Wenn zum Beispiel ein dringender Tatverdacht vorliegt.«

»Oder wenn sie auf der Suche nach Hinweisen zu einem Mord sind?«, fragte ich.

»Ich glaube nicht, dass diese Wohnung bereits offiziell von der Polizei durchsucht worden ist. Schaut euch um. Wenn ein Polizist hier war, dann in eigener Sache.«

Hawk spielte auf Bodo an. Ob Polizist oder nicht, ich traute ihm zu, dass er über die möglichen Mittel verfügte, um in diese Wohnung einzudringen. Hawk ging zu einem der Regale und inspizierte die Staubschichten.

»Hier war auch jemand dran«, sagte er und zog ein dickes Buch hervor.

Als er es aufschlug, erkannte ich, dass es ein altes Fotoalbum war. Ben und ich kamen näher, um ihm über die Schulter zu blicken. Die Bilder stammten allem Anschein nach aus Kasperskys Jugend und Studium in Russland. Sie zeigten einen jungen Mann, der gerne viel Zeit in der Natur oder in Kneipen verbrachte. Mit jeder Seite alterte Kaspersky vor unseren Augen.

Ich mochte den Nostalgiewert dieser alten Bücher. Als hielte man die Lebensgeschichte eines Menschen in den Händen. Greifbar und echt. Seit dem Reboot hielt man Erinnerungen kaum mehr in Bildern fest. Wir blickten nicht zurück. Alles war vergänglich.

Was zählte, war der Moment und den konnte man nicht in all seinen Einzelheiten festhalten. Das Video auf unserem Kühlschrank war das beste Beispiel dafür. Eine Erinnerung war komplexer als eine Textdatei, ein Foto oder ein Video. Das hatten die Nutzer nach dem Reboot und der Löschung ihrer Profile erkannt.

Wir begleiteten Kaspersky von Russland nach Berlin. Kaspersky und eine junge Frau auf der Oberbaumbrücke. Kaspersky im Mauerpark. Kaspersky beim Chaos Computer Club.

»Diese Kleidung«, stöhnte ich. »Hat man damals schon geahnt, wie lächerlich das in fünfzehn Jahren aussehen würde? Moment … blättern Sie mal zurück!«

Ich leuchtete mit dem Screenpaper auf das Album und beugte mich so weit vor, dass ich fast auf Hawks Arm lag.

»Was siehst du?«, fragte er.

»Das kann unmöglich sein.«

»Was denn?« Hawk wurde ungeduldig.

Ich riss ihm das Buch aus der Hand und wandte mich von ihm ab. Ungläubig blickte ich auf das Bild vor mir.

»Was ist los, Mav?«, fragte Ben.

»Das ist Marek.«