Donnerstag, 22:27 Uhr

Kurz darauf fand ich mich auf dem Polizeirevier wieder. Herr Den hatte einen Anruf von der Polizei erhalten, als der stille Alarm ausgelöst worden war. Zu Hause angekommen, hatte das Chaos seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Einschusslöcher in den Wänden, ein verschwundenes Auto und von Ben und Argos keine Spur … Erst hatte er gedacht, man hätte uns gekidnappt. Mit Hilfe der Polizei hatte Bens Vater das Cabriolet tracken lassen. Auf diese Weise hatten sie uns vor Kasperskys Haus aufgespürt.

Ben und mir blieb keine Zeit, uns zu beraten. Wir wurden in den Polizeiwagen verfrachtet und zum Revier gefahren. Die ganze Fahrt über dachte ich an die Kontaktlinsen in meinen Augen. Ich würde nicht riskieren, dass sie der Polizei in die Hände fielen.

Auf dem Revier wollte man mich direkt in einen gesonderten Raum schieben.

»Könnte ich ganz kurz aufs Klo?«, versuchte ich, mir etwas Zeit zu erkaufen.

Der zuständige Polizist sah mich misstrauisch an.

»Ich habe eine schwache Blase«, fuhr ich fort. »Und gehört Pinkeln nicht zu den Grundrechten – oder so?«

Ich setzte dabei das dämlichste Lächeln auf, das ich zu bieten hatte.

Der Polizist schmunzelte und wies mir den Weg zu den Toiletten.

Ich huschte schnell über den Gang. Auf dem Damenklo warf ich einen raschen Blick unter alle Kabinen. Anscheinend war ich alleine. Ich schloss mich in der hintersten Kabine ein und stützte mich gegen die kotzgrüne Wand. 

Wir waren tatsächlich auf dem Polizeirevier gelandet.

»Scheiße«, fluchte ich fast lautlos.

Ich hatte keine Ahnung, was mich in den nächsten Minuten erwartete. Ich wusste nur, dass ich die Linsen verstecken musste.

Hastig griff ich in meine Hosentasche und zog die Ersatzlinsen hervor, die Hawk mir angeboten hatte. Sie waren doch zu etwas gut. Mit wenigen Handgriffen tauschte ich die Kontaktlinsen in meinen Augen aus.

Jetzt war ich wieder völlig profillos.

Ratlos blickte ich auf den Kunststoffbehälter mit den richtigen Linsen in meiner Hand. Wo sollte ich sie verstecken?

Abtasten würden sie mich ja wohl nicht. Ich war hier, um über den Angriff in Bens Haus auszusagen und keine Verdächtige – oder?

Sei nicht albern, Mav.

Ich hatte eh keine Wahl. Ich würde die Linsen sicherlich nicht auf der Damentoilette der Polizeistation verstecken. Schnell schob ich die kleine Plastikröhre tief in meine rechte Socke an meinen Innenknöchel. Der Behälter klemmte nun fest zwischen meinem Fuß und der Innenseite des Schuhs.

Das Ganze hatte nicht länger als eine halbe Minute gedauert. Ich drückte sicherheitshalber auf die Spülung und verließ die Kabine.

Grünäugig rein, braunäugig raus.

Der Polizist hatte nichts bemerkt.

Kurz darauf saß ich alleine in einem Raum auf einem Plastikstuhl und wartete darauf, dass ich meine Aussage machen konnte, auch wenn ich das gar nicht wollte. Obwohl ich mich an einem vermeintlich sicheren Ort befand, fühlte ich mich ungeschützt und hilflos. Wie würden meine Eltern reagieren, wenn sie die Nachricht erreichte, dass ich auf dem Polizeirevier gestrandet war?

Eine Frau betrat den Raum. Sie stellte sich als Ermittlerin Zohra Khelifa vor und hielt ein zusammengerolltes Screenpaper in der Hand. Ihr Gesichtsausdruck war streng. Ich hoffte dennoch auf einen netten Umgang. 

»Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie mit Nora-Sophie anspreche?«, fragte sie und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber.

Ich nickte stumm.

»Waren Sie schon einmal auf einem Polizeirevier?«

Ich verneinte dies mit einem Kopfschütteln. 

»Was für ein Tag!«, stieß sie aus.

Den Small Talk konnte sie sich sparen. Ich traute ihr genauso wenig über den Weg wie allen anderen, die sich mit diesem Fall beschäftigten. 

»Wie wäre es, wenn wir ganz von vorne anfangen?«, schlug Frau Khelifa schließlich vor und ich fragte mich, wo in ihrer Version der Geschehnisse wohl der Anfang lag. Sie rollte langsam ihr Screenpaper aus und legte es auf den Tisch vor mir. Mareks Gesicht blickte mir entgegen.

»Dieser Mann hieß Marek Kotecki. Er war sechsunddreißig Jahre alt. Optechnician. Heute Mittag ist er ermordet worden. Wir vermuten, dass sich der Vorfall gegen halb drei ereignet hat. Wir warten noch auf die Aufnahmen der Überwachungskamera, aber bisher deutet alles auf einen Raubüberfall hin. Wir suchen dringend nach Zeugen, die etwas beobachtet haben könnten.«

Eine lange Pause folgte. Dies war wohl mein Einsatz. Das war der Moment, in dem ich ihr von den Vorfällen des Tages berichten sollte, in der Hoffnung, dass sie mir glaubte und mich für unschuldig hielt. Hatten sie mich anhand meiner Fingerabdrücke bereits als Verdächtige identifiziert? Ich öffnete meinen Mund, doch alles, was dabei herauskam, war ein langes Seufzen.   

»Sie sind dort gewesen, nicht wahr? Der Anruf Ihres Freundes war ein erster Hinweis. Dann haben wir Ihre Fingerabdrücke am Tatort gefunden.«

Bedächtig fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Oberfläche des Screenpapers und öffnete Aufnahmen vom Tatort. Die Blutspuren, der Tresen, Mareks starre Augen …

»Ich kam zu spät«, krächzte ich.

»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen? Warum haben Sie Spuren verwischt? Versuchen Sie, jemanden zu decken?«

Ich war anscheinend nicht die Einzige mit der Begabung, zu viele Fragen auf einmal zu stellen.

»Ich habe die Spuren nicht verwischt«, widersprach ich. »Ich war in Panik. Das Blut, die Leiche …«

Ich konnte nicht weitersprechen. Der Gedanke, dass sie mich für eine Verdächtige hielt, machte mich vorsichtig. Meine Geschichte klang zu absurd, um glaubwürdig zu sein. Sollte ich ihr etwa erzählen, dass ich soeben in die Wohnung eines weiteren Toten eingebrochen war? Ein Toter, von dem sie wahrscheinlich noch gar nichts wusste?

»Nora-Sophie, ich verlange nichts weiter als die Wahrheit von Ihnen. Was haben Sie in dem Laden gemacht?«, hakte Frau Khelifa nach.

Ihr Gesichtsausdruck blieb geduldig, dennoch musste ich unweigerlich an Bodo denken und wie eindringlich er versucht hatte, alles über die Kontaktlinsen zu erfahren. Wie konnte ich mir sicher sein, dass er nicht im Raum nebenan stand und uns gerade zuhörte?

Ich hatte das Gefühl, dass ich niemandem mehr vertrauen konnte. Jeder um mich handelte aus eigenem Interesse und ich war auf mich allein gestellt. Wenn Ben in diesem Moment wenigstens an meiner Seite gewesen wäre, hätte ich mich sicherer gefühlt.

Der Behälter mit den Kontaktlinsen drückte hart gegen meinen Knöchel.

»Ich dachte, wir wären hierhergekommen, um eine Aussage zu dem Einbruch im Haus der Dens zu machen«, erwiderte ich stur.

Ich kannte meine Rechte nicht. Durfte sie mich einfach so zu diesem Thema befragen?

»Haben Sie meine Großmutter schon erreicht?«

»Gegenfrage: Haben Sie Angst vor jemandem? Werden Sie bedroht?«

Frau Khelifa wusste ganz genau, in welche Richtung sie dieses Gespräch lenken wollte. Je weiter ich davon abwich, desto mehr versuchte sie, mich wieder auf ihre Bahn zu lenken. Ich überlegte, einfach zu schweigen, so wie ich es aus Filmen kannte. Ich wusste, dass ich die Wahrheit nicht lange würde verbergen können, sobald ich den Mund öffnete. Lügen war noch nie meine Stärke gewesen. Ich würde mich in einem Netz von falschen Aussagen verstricken und am Ende selbst nicht mehr herauskommen.

»Nora-Sophie, werden Sie bedroht?«, wiederholte Frau Khelifa ihre Frage.  

»Ich werde verfolgt«, gestand ich trotz meines Misstrauens.

»Von wem?«

»Von Mareks Mörder.«

Ein Moment der Stille trat ein. Frau Khelifa blickte mir ernst in die Augen. Ich sah ihr an, dass sie zweifelte. Konnte sie mir glauben, was ich da eben behauptet hatte?  

»Haben Sie ihn gesehen? Am Tatort?

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ihn nicht am Tatort gesehen.«

»Warum sollte er Sie dann verfolgen? Wenn Sie ihn dort nicht gesehen haben, dann sind Sie doch auch keine Gefahr.«

Ich konnte ihr nicht die Wahrheit erzählen. Vielleicht war ich doch zu sehr beeinflusst von Hawks Warnungen. So wenig er mir auch über seine Absichten erzählt hatte, er hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass die Kontaktlinsen nicht in fremde Hände geraten durften und ich musste ihm zustimmen. Das schloss die Polizei mit ein. Wenn ich die Linsen einmal weggab, dann konnte ich sie nicht mehr zurückfordern.

»Ich weiß es nicht«, log ich und blickte dabei direkt in die Augen der Ermittlerin. »Vielleicht irrt er sich und denkt, ich hätte ihn doch gesehen. Das sollten Sie vielleicht eher ihn fragen – wenn Sie ihn dann gefasst haben.«

Ich war mir darüber im Klaren, dass ich einer Polizeibeamtin nicht allzu schnippisch gegenübertreten durfte, doch dieser Tag zehrte langsam an meinen Kräften. Ich hatte seit Stunden nichts mehr gegessen. In diesem Moment hätte ich selbst eine Tüte Insektensnacks innerhalb von Sekunden verschlungen. Bilder von saftigen Rindersteaks schwebten mir vor Augen.

»Und dieser Mann, der Sie verfolgt. Der mutmaßliche Mörder. Können Sie mir mehr über den erzählen?«

Über Bodo zu reden war das geringere Problem. Sein Gesicht würde ich so schnell nicht mehr vergessen.

»Er ist sehr groß. Einen Meter neunzig vielleicht. Er hat dunkles Haar, das ihm leicht in die Stirn fällt, und er trägt einen Bart.«

Ich hatte soeben jeden dritten Mann in Deutschland beschrieben. Es hätte selbst mein Vater sein können.

»Und er ist Polizist«, fügte ich hinzu, als wäre es die geringste Sache der Welt.

Frau Khelifa kniff die Augen zusammen. Als wäre sie sich nicht sicher, ob ich sie hinters Licht führen wollte.

»Polizist? Sind Sie sich sicher?«

»Er heißt Bodo. Bodo Bader.«

»Bodo Bader?«, wiederholte Frau Khelifa.

Für einen Augenblick sah sie überrascht aus. Dann wich sie meinem Blick aus und schaute nachdenklich auf das Screenpaper zwischen uns.

»Und Sie sind sich sicher, dass das der Mann ist, der Sie verfolgt?«

»Hundert Prozent sicher.«

»Und Sie wissen nicht, warum er hinter Ihnen her ist?«

»Nein«, log ich erneut und fühlte mich dabei noch schuldiger als beim ersten Mal.

Frau Khelifa rollte das Screenpaper zusammen und erhob sich. »Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment.«

Mit diesen Worten verließ sie den Raum und ich war alleine. Erlöst fuhr ich mir mit der Hand durch das Haar. Erst jetzt merkte ich, dass sich eine Wagenladung Stresshormone während des Gespräches in mir aufgebaut hatte.

Ich fragte mich, ob Ben in diesem Moment in einem ähnlichen weißen Würfel ohne Fenster saß und ob sie ihm die gleichen Fragen stellten. Ich hoffte, dass er denen nichts von den Kontaktlinsen erzählte. Er war von Anfang an weniger überzeugt von dem Fall gewesen als ich. Für ihn war es ein Mordfall, der von der Polizei aufgeklärt werden musste. Ben verstand die Gefahr nicht, die von den Linsen ausging. Genauso wenig erkannte er ihr Potenzial.

Ich musste an meine Eltern denken und fragte mich, ob meine Oma sie bereits angerufen und über die Situation informiert hatte. Aus der Ferne würden sie sowieso nichts unternehmen können. Sie würden nicht schnell in ein Flugzeug steigen und einfach nach Berlin fliegen.

Ich wurde langsam unsicher, während die Minuten verstrichen. Wo war Kommissarin Khelifa hingegangen? Sprach sie in der Zwischenzeit mit Ben? Wusste sie, dass ich einen Teil der Wahrheit vor ihr verbarg?

Die Tür öffnete sich und Frau Khelifa betrat ein zweites Mal den Raum. Diesmal war sie jedoch nicht alleine. Hinter ihr folgte eine große Gestalt. Bodo.

Das hätte ich doch wissen müssen …

Ich rückte mit dem Stuhl nach hinten und erzeugte dabei ein unangenehmes Quietschen, das einem Schrei gleichkam. Er war also wirklich ein Polizist. Ein korrupter Polizist.

»Ich denke, dass ich Sie einander nicht mehr vorstellen muss«, sagte die Kommissarin trocken.

»Hallo Mav«, grüßte Bodo mich und nickte mir schmierig grinsend zu.

Warum stand er dort so fröhlich? Jemand musste ihm Handschellen anlegen! Ich hatte ihn soeben als Mareks Mörder und als meinen Verfolger identifiziert.

»Was macht er hier?«, sprach ich meine Verwirrung aus. »Warum nehmen Sie ihn nicht fest?«

»Ich denke, wir sollten in Ruhe ein paar Sachen klären«, begann Frau Khelifa und zog einen weiteren Stuhl herbei.

»Setz dich«, bat sie Bodo.

Sie waren sogar per Du miteinander. Das war ja ganz fantastisch. Jetzt fehlte nur noch, dass Frau Khelifa mich im nächsten Satz um die Herausgabe der Kontaktlinsen bat. Bei meinem Glück steckten die beiden unter einer Decke.

Bodo machte es sich auf dem Stuhl mir gegenüber gemütlich. Frau Khelifa blieb neben ihm stehen.

»Nora-Sophie, mir scheint, dass Sie eine falsche Auffassung der Ereignisse haben. Oder Sie versuchen, etwas vor uns zu verbergen.«

»Falsche Auffassung?«, entfuhr es mir. »Falsche Auffassung. Dieser Mann dort hat meinen Freund umgebracht.«

Ich deutete wutentbrannt auf Bodo, der dabei völlig entspannt aussah. Ich hatte aus Angst vor falschen Anschuldigungen nicht zur Polizei gehen wollen, aber dies übertraf meine schlimmsten Vorstellungen. Er war tatsächlich einer von ihnen.

»Sie sagten doch, Sie hätten Marek Koteckis Mörder nicht gesehen?«, hinterfragte Frau Khelifa meine vorangegangenen Antworten.

»Das habe ich auch nicht.«

Bis auf ein paar undeutliche Aufnahmen von einer gehackten Sicherheitskamera …

»Wieso behaupten Sie dann, dass dieser Mann der Mörder sei?«

»Ich behaupte ni-nichts«, kam ich ins Stottern.

»Doch, das tun Sie!«

Frau Khelifas Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie sah verärgert aus. Sie sah aus wie eine Polizistin, die wütend darüber war, dass ich ihrem Kollegen übel nachredete. Frau Khelifa versuchte, meine Glaubwürdigkeit zu untergraben. Bisher gelang ihr das sehr gut. Was hatte der Dreckskerl ihr im Vorfeld erzählt?

»Er hat mir in meiner Wohnung aufgelauert und dort auf mich geschossen. Reicht Ihnen das nicht als Beweis? In meinem Wohnzimmer liegt ein angeschossener Roboter. Den können Sie gerne als Beweismaterial abholen.«

»Und da konnten Sie ihn genau identifizieren? Es hätte nicht auch jemand anderes sein können?«

»Was?«

Ich war verunsichert.

»Haben Sie sein Gesicht gesehen, als er auf Sie geschossen hat? In Ihrer Wohnung?«

Ich blickte verwirrt zwischen ihr und Bodo hin und her. Der sah mich mit gelassener Miene an, als wäre dies die Elternsprechstunde an der Schule.

»Hätte es nicht auch jemand anderes sein können? Haben Sie sein Gesicht gesehen?«

Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Dies alles konnte nur ein schlechter Scherz sein.

»Nein. Ich meine, nein, ich habe sein Gesicht nicht gesehen.«

»Zohra, ich war nicht in dieser Wohnung«, quatschte Bodo von der Seite rein. »Ich habe dieses Mädchen zum ersten Mal gesehen, als sie vor diesem Typen weggelaufen ist. Nachdem der Notruf zusammen mit der Vermisstenmeldung reinkam, habe ich mich an sie erinnert und eins und eins zusammengezählt.«

Das war seine neueste Version der Geschichte? Dass er fast Hawks Kiefer gebrochen hätte, erzählte man sich wohl nicht bei der Polizei.

»Ich glaube, du verdrehst da was«, schnaubte ich.

Ich legte keinen Wert mehr darauf, ihn zu siezen. Ich hatte bereits jeglichen Respekt vor ihm verloren.

»Hast du mich nicht bereits verfolgt, bevor der Notruf einging?«

Bodo tat meinen Konter mit einem weiteren Lächeln ab.

»Wollen Sie immer noch behaupten, dass der Mann neben mir in Ihrer Wohnung sowie im Haus der Dens auf Sie geschossen hat?«, hakte Frau Khelifa nach.

Sie war wie ein Kampfhund, der sich in meiner Wade festbiss.

»Ich glaube, ja. Ich meine, wer hätte es sonst sein sollen?«

»Das frage ich Sie. Was ist mit dem Mann, der sie bis zur S-Bahn verfolgt hat?«, fragte Frau Khelifa auf einmal.

Mein Magen verkrampfte sich. Bisher hatte ich ihr kein Wort von Hawk erzählt. Sobald ich über ihn sprach, würden auch die Kontaktlinsen zum Thema werden. Ich konnte sie nicht erneut anlügen. Sie hielt mich bereits für einen durchgedrehten Teenager, der mit dem Finger auf Polizisten zeigte und sie des Mordes bezichtigte.

Ich rang mit mir selbst. Für einen Moment verbarg ich mein Gesicht in den Händen und überlegte, wie ich das Blatt wenden konnte. Es musste eine Möglichkeit geben, die Wahrheit über Bodo aufzudecken. Er musste Spuren hinterlassen haben. Doch er war kein Idiot. Er war mir haushoch überlegen.

»Er kann es nicht gewesen sein«, wies ich ihre Frage ab.

»Warum nicht?«, fragte Frau Khelifa.

Bodos linke Augenbraue wanderte nach oben. Dies schien auch ihn zu interessieren.

Ich wollte die Wahrheit nicht sagen. Ich wollte nicht diejenige sein, die antworten musste. Ich wollte diejenige sein, die Antworten bekam.

»Weil er bei uns war.«

»Wie bitte? Könnten Sie bitte etwas lauter sprechen?«

»Er war mit uns im Haus, als wir angegriffen wurden. Er kann es nicht gewesen sein«, erhob ich meine Stimme und bereute die Worte, sobald ich sie ausgesprochen hatte.

»Interessant«, musterte mich Frau Khelifa kritisch. »Ich kann Ihnen sagen, dass Herr Bader es auch nicht gewesen sein kann. Er befand sich zu dem besagten Zeitpunkt auf diesem Revier, um einen Bericht abzugeben. Über Ihre Fahrerflucht und den Schaden, den sie an seinem Dienstwagen angerichtet haben.«

Ein dicker, widerlicher Kloß saß in meinem Hals fest. In ihren Augen musste ich nicht nur eine Lügnerin, sondern auch eine Kriminelle sein. Meine Glaubwürdigkeit war zur Tür hinaus spaziert, sobald Bodo den Raum betreten hatte. Als hätten sie sich abgeklatscht. Du? Hier? Dann geh ich besser.

Frau Khelifa streckte die Brust hervor und sah mit verschränkten Armen auf mich herab.

»Wenn es also nicht Herr Bader war, der Sie angegriffen hat, und auch nicht der unbekannte Dritte, wer war es dann?«

Ich versuchte, den Kloß herunterzuschlucken, doch es gelang mir nicht. Er steckte fest.

Das war es nicht das erste Mal, dass ich mich irrte. Ich begann an meinem Verstand zu zweifeln. Zuerst hatte ich gedacht, Hawk wäre der Mann auf meinem Dach gewesen. Später hatte ich Bodo im Verdacht und nun sollte es jemand völlig anderes gewesen sein? Obwohl Bodo ein Alibi hatte, war ich mir sicher, dass er in die Sache verwickelt war und etwas im Schilde führte. Er kannte das Geheimnis der Linsen. Vielleicht hatte er einen Komplizen.

»Warum erzählst du ihr nicht von den Kontaktlinsen?«, ergriff er nun das Wort.

Bodo wusste genau, in welchem Moment er nachhaken musste. Erschrocken sah ich auf.

Der Behälter an meinem Fuß fühlte sich plötzlich viel härter und größer an. Er stach förmlich in meine Haut.

»Schau nicht so überrascht. Erzähl ihr von den Kontaktlinsen, die du entwendet hast. Wichtige Beweismittel. Das ist doch der eigentliche Grund für deine Lügen.«

Bodo verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hätte das alles für dich regeln können. Du hast ja schon in meinem Auto gesessen, bereit, den Fall mit mir zu lösen. Und dann drehst du völlig durch und fährst davon. Dann stichst du auch noch den Reifen durch. Mit einem verdammten Fugenkratzer! Was ist eigentlich in dich gefahren?«

Ich biss mir auf die Innenseite der Wange, die sich schon ganz zerkaut anfühlte. Nun spielte er den enttäuschten Vaterersatz. Ich war in dieser Variante der Geschichte das Gör, das seine Hilfe abgeschlagen und ihm die Reifen zerstochen hatte.

Dazu fiel mir nichts mehr ein. Ich konnte sagen, was ich wollte. Frau Khelifa würde mir nicht glauben. Langsam zweifelte ich an mir selbst. Konnte ich tatsächlich nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden? Doch ich schüttelte die Zweifel sofort wieder ab.

»Wer ist der Mann, der mit Ihnen im Haus war?«, kam Frau Khelifa dazwischen.

Ich blickte Bodo starr in die Augen. »Warum sagst du es ihr nicht?«

Frau Khelifa stützte sich auf den Tisch zwischen uns und blickte mich fordernd an. Sie hatte offensichtlich keine Lust mehr auf dieses Katz-und-Maus-Spiel zwischen Bodo und mir. »Wie wäre es, wenn Sie einfach meine Fragen beantworten?«

Ich schlug die Augen nieder. Mir blieb nichts anderes als die Wahrheit. Meine Wahrheit. »Er ist ein Programmierer.«

»Woher kennen Sie ihn?«

»Im Grunde genommen kenne ich ihn gar nicht. Ich weiß nicht einmal seinen Namen.«

Ein halbes Lachen blieb mir im Halse stecken. Ich wusste absolut nichts über Hawk und dennoch waren wir zusammen in eine fremde Wohnung eingebrochen.

»Wo ist dieser Mann jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Er ist verschwunden.«

Frau Khelifa musste mir jede Information einzeln aus der Nase ziehen. Sie hatte es nicht anders verdient.

»Was hat er mit der ganzen Sache zu tun? Warum war er mit Ihnen zusammen?«

»Er war auf der Suche nach den Kontaktlinsen.«

»Und Sie haben diese Kontaktlinsen?«, hakte Frau Khelifa nach.

Ich nickte.

»Und was macht diese Linsen so begehrenswert?«

»Ich weiß es nicht.«

Ich hoffte, dass sie diese Lüge nicht erkennen würde.

»Warum hängen Sie dann so daran?«

»Weil sie der Schlüssel zu Mareks Mörder sind«, schluchzte ich und wagte es dabei nicht mehr, Bodo anzusehen.

»Tragen Sie die Kontaktlinsen jetzt in Ihren Augen?«

Ich nickte erneut und blickte beschämt auf meine Hände.

Ich spürte, wie der Kontaktlinsenbehälter in meinen Fuß schnitt. Er brannte in meiner Haut wie der heiße Lauf einer Tatwaffe.

Frau Khelifa stand auf und kam zu mir herüber. Sie streckte mir die offene Hand entgegen.

»Sie können sie mir direkt geben oder ich entferne sie höchstpersönlich aus Ihren Augen.«

Ich entfernte die Kontaktlinsen aus meinen Augen. Erst die linke, dann die rechte Linse. Ich blinzelte. Das Licht im Raum wirkte auf einmal viel greller.

Ich sah Bodos Blick, der sich sofort starr auf die Linsen fokussierte. Ich habe mich nicht geirrt.

Er hatte es ebenfalls auf die Kontaktlinsen abgesehen. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis er sie heimlich mitnahm. Um dann festzustellen, dass es die falschen Linsen waren …

»Vielen Dank, Nora-Sophie«, sagte die Kommissarin und legte ihre Hand auf meine Schulter. Die Geste vermittelte mir erst recht das Gefühl, dass sie mich für einen verrückten Teenager hielt, der unter Verfolgungswahn litt.

Gerade als sie sich von mir abwenden wollte, ergriff ich Frau Khelifas Handgelenk und umfasste es fest.

»Bewahren Sie die Linsen an einem sicheren Ort auf und sagen Sie niemandem, wo sie sich befinden!«

Ich starrte ihr bestimmt in die Augen. Frau Khelifa sah mich prüfend an. Ihr linkes Augenlid zuckte ganz leicht, fast unmerklich. Auch wenn es nicht die richtigen Linsen waren, hoffte ich, dass sie meine Forderung ernst nahm.

Mein Blick huschte zu Bodo. Er hatte die Szene aufmerksam beobachtet.

»Ich denke, das ist genug für heute«, sagte Frau Khelifa schließlich. »Wir werden Ihre Informationen mit in die Ermittlungen aufnehmen und uns bei Ihnen melden, sobald es Neuigkeiten gibt. Gehen Sie nach Hause und gönnen Sie sich etwas Ruhe. Den Vorfall mit dem Fahrzeug klären wir noch.«

Sie konnte mich jedoch nicht ohne einige letzte Worte ziehen lassen: »Bodo wollte Ihnen nur helfen. Das wissen Sie jetzt, nicht wahr?«

Ich blickte zu Bodo und schließlich wieder zu ihr. Es brauchte einen Moment, um die Bitterkeit dieses Augenblicks herunterzuschlucken.

Ich kniff die Augen zusammen. »Aber natürlich. Jetzt sollten Sie ja alles haben, was Sie brauchen, um den Mann zu finden.«

Ich stand auf und streckte den Rücken durch. Ich wollte trotzdem noch Haltung bewahren. Langsam schritt ich zur Tür und bemerkte wie Bodo aufstand. Ich konnte ihn nur flüchtig ansehen. Dann hielt ich Inne.

»Ist noch etwas?«, fragte Frau Khelifa.

Ich wandte mich zu ihr um und sah sie musternd an. »Es ist doch sehr erstaunlich.«

»Was denn?«

»Dass ich eigentlich hergekommen bin, um über den Einbruch bei den Dens auszusagen. Und letztendlich haben wir nur über Marek und die Kontaktlinsen gesprochen.«

Frau Khelifa warf mir ein müdes Lächeln zu. »Wir können ja nun davon ausgehen, dass es sich dabei um den gleichen Mann handelt, der Sie auch in Ihrer Wohnung überrascht hat. Wir werden direkt ein Team dorthin schicken, um die Spuren zu sichern.«

Meine Oma und Gregor warteten bereits im Eingangsbereich auf mich, als ich aus dem Verhör kam. Meine Großmutter schloss mich in die Arme und drückte mich fest. Ein Gefühl der Geborgenheit breitete sich in mir aus. Sie roch nach Rosenwasser. Selbst Gregor legte den Arm um meine Schulter.

Die Stimme meiner Oma klang schwach und dünn. »Komm nach der Spurensicherung mit mir zu Gregor. Dort wirst du dich sicherer fühlen.«

Ich lehnte das Angebot mit einem Kopfschütteln ab. Ich konnte mir schwer vorstellen, mit zu Gregor zu gehen und mich mit einer Tasse Tee vor seinen Holzofen zu setzen.

»Ist schon gut«, beruhigte ich sie. »Aber ich wäre jetzt lieber bei Ben.«

Ben war der einzige Mensch, der wusste, was ich an diesem Tag durchgemacht hatte. Meine Großmutter schaute mich verständnisvoll und hilflos zugleich an. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Damit waren wir schon zu zweit.

»Nein, ich danke Ihnen«, drang eine altbekannte Stimme über den Gang in mein Ohr. »Wenn noch etwas unklar ist, wissen Sie ja, wo Sie mich erreichen.«

Die wenigen Worte reichten, um eine Kernreaktion in meinem Körper auszulösen. Erhöhter Puls, schwerer Atem, Zorn. Emma. Mit geballten Fäusten wandte ich mich um.

Da stand sie. Nur wenige Meter von mir entfernt. Unsere Blicke begegneten sich. Begeisterung sah anders aus. Mit ihr hatte ich hier am allerwenigsten gerechnet.

Wie ferngesteuert schritten wir aufeinander zu, die Blicke starr aufeinander gerichtet. Ich kam mir vor wie ein Cowgirl im wilden Westen, das zur Mittagsstunde gegen seinen Gegner antrat. Wir waren beide bereit, unsere Waffen zu zücken. Ich legte als Erste den Finger auf den Abzug:

»Was machst du hier?«

»Ironisch, dass gerade du das fragst. Ich erfülle meine Pflichten als Bürgerin. Und du?«

Emma trat hochnäsig auf wie eh und je. Der kurze Moment der Nettigkeit vor wenigen Stunden war wohl nur ein Ausrutscher gewesen. Ein Glitch in ihrer persönlichen Software.

»Was soll das bedeuten?«

Emma verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe der Polizei erzählt, was ich weiß.«

»Ach, so wie der Lokalreporterin?«, feuerte ich zurück. »Ich habe den Bericht gesehen. Da hast du mich ja in einem ganz vorteilhaften Licht präsentiert. Vielen Dank für deine Unterstützung!«

»Das sagt die Richtige. Wer hat denn meine Hilfsbereitschaft ausgenutzt? Du hast mich zur Komplizin in einem Mordfall gemacht!«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Komplizin?« Das Wort kam etwas zu schrill aus meinem Mund.

»Du hast schon richtig gehört.«

»Sehe ich für dich wie eine Verbrecherin aus?«

In der Befürchtung, dass Emma darauf mit »Ja« antworten könnte, sprach ich schnell weiter: »Ist dir eigentlich klar, was du hier anrichtest? Du lässt mich dastehen wie eine Straftäterin. Wie bescheuert kann man sein?«

Emma rümpfte die Nase, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas zuwider war. »Du solltest dich was schämen, Nora-Sophie Ruiz.«

Sie spuckte meinen Namen aus, wie ein fades Kaugummi. »Du kommst zu mir und bittest mich um Hilfe und was bekomme ich zum Dank? Genau. Nada. Weder mein Geld noch einen Anruf von Ben.«

»Oh mein Gott! Fängst du wieder damit an?« Ich musste mich beherrschen, um nicht auf sie loszugehen. »Du warst in diesem Moment die einzige Person, die mir helfen konnte. Und jetzt nutzt du das schamlos zu deiner Selbstinszenierung. Ich hatte echt mehr von dir erwartet. Obwohl. Nein, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich doch nicht. Mein Fehler.«

Emma schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich bin nicht diejenige, die das PuC mitten auf der Landstraße hat stehen lassen.«

»So what!?«

»Du musst lernen, Verantwortung zu übernehmen«, wies Emma mich zurecht. Sie klang auf einmal wie Kelly, unsere Lehrerin. Fehlte nur noch, dass sie mich in den Mediationsraum einlud.

»Wenn das eine von uns lernen muss, dann bist du das, Emma. Ein Freund von mir wurde heute ermordet. Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet?«

Zum ersten Mal schien ich einen Nerv getroffen zu haben. Emma sah mich entgeistert an. Ich bekam den Eindruck, dass ihr wirklich nicht klar war, was das bedeutete. Dass dies lediglich ein Spiel für sie war, bei dem es darum ging, wer die meiste Aufmerksamkeit bekam.

Ich spürte eine Hand an meinem Oberarm, die ich sofort wieder abschüttelte. Ich brauchte niemanden, der mich aus dieser Situation rettete. Irritiert blickte ich auf. Es war Ben.

»Lass uns gehen«, sagte er bestimmt und ruhig.

»Ich führe gerade eine Unterhaltung«, zeigte ich mich von meiner widerspenstigen Seite.

Ben würdigte Emma keines Blickes und wandte ihr den Rücken zu. Allein das bestärkte mich in dem Gefühl, es mit ihr aufnehmen zu können.

Seine Stimmlage verändert sich nicht: »Es ist besser, wenn wir gehen.«

Ben hatte die Fähigkeit, mit seinem Blick Bände zu sprechen. Er brauchte nicht mehr zu sagen.

Erst jetzt bekam ich wieder ein Gefühl für meine Umgebung. Ich schaute mich um. Meine Oma und Gregor hielten sich an den Händen und blickten mich besorgt an. Herr Den vergrub die Hände in den Hosentaschen, während er auf Ben wartete. Frau Khelifa stand mit verschränkten Armen im Gang. Sie hatte anscheinend die gesamte Szene beobachtet. Neben ihr trat Bodo in den Flur und nippte offensichtlich erheitert an einem Kaffee. Ein Polizist stand bereit, um mich zu fahren.

»Komm.«

Ben schob mich sanft in Richtung des Polizisten.

»Ben, ich will nur helfen«, versuchte Emma seine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Schon klar«, murmelte Ben, ohne sie anzusehen.

»Du schuldest mir noch 4,16 Euro«, warf Emma mir hinterher.

Ich ignorierte sie.

Ich wusste, dass ich zumindest diese Runde gewonnen hatte.

Die Polizei eskortierte mich direkt in meine Wohnung, um dort die besagten Spuren zu sichern. Einer von ihnen machte gerade Fotos von Cuties lebloser Hülle, als ich mit meiner Reisetasche aus meinem Schlafzimmer kam. Sie wirkten wie Eindringlinge in meiner Wohnung. Ich traute keinem von ihnen.

Ich ignorierte das Gewusel und hoffte darauf, dass wenigstens die Beweise ordnungsgemäß gesichert werden würden. Vielleicht fanden sie ja doch ein Haar von Bodo oder irgendetwas anderes, das auf seinen Einbruch hinwies.

Andererseits war Bodo ein Profi. Er war selbst bei der Polizei und kannte alle Tricks. Und ganz offensichtlich operierte er nicht alleine. Wenn er tatsächlich zum Zeitpunkt des Einbruchs bei den Dens auf dem Revier gewesen war, dann musste er noch einen Komplizen haben. Es konnte gar nicht anders sein. Damit eröffnete sich die Frage, wer von beiden tatsächlich der Mörder war. Teilten sie sich die Drecksarbeit auf?

Vielleicht hätte ich Kommissarin Khelifa doch die ganze Wahrheit sagen sollen. Aber sie auf Kasperskys Mord oder auf das Geheimnis der Kontaktlinsen zu lenken, ohne dabei selbst noch verdächtiger zu wirken, war mir unmöglich erschienen. Wenn Hawk doch wenigstens da gewesen wäre, um meine Geschichte zu stützen. Stattdessen hatte er sich einfach aus dem Staub gemacht. 

»Dieser Feigling!«, stieß ich aus und ließ meine Tasche auf den Boden plumpsen, als wir bei Ben angekommen waren.

Ben ließ sich mit dem Rücken auf sein Bett fallen. Die Federung schaukelte ihn für einige Sekunden auf und ab, dann setzte er sich auf. Früher hatten Ben und ich hier unbedarft viele Filmabende miteinander verbracht. Seit seiner erloschenen Beziehung zu Miley fragte ich mich jedoch, was zuletzt noch alles auf diesem Bett geschehen war. Miley war groß und schlank, sprach Mandarin und ging dreimal die Woche zum Bodenturnen.

Ben ergriff meine Hand.

»Das wird schon alles wieder«, versuchte er, mich zu beruhigen, als er meinen nachdenklichen Blick bemerkte.

»Was haben deine Eltern gesagt?«

Das Gespräch mit meiner Mutter war kurz und schmerzlos verlaufen. Als ich ihr von den Ereignissen erzählt hatte, war sie weder verwundert, noch empört gewesen. Sie war nie der Typ für große Emotionen gewesen. Das blieb meinem Vater vorbehalten. Dennoch schien sie etwas bestürzt, dass sie nicht da war, um mich zu beschützen.

»Meine Mutter möchte herkommen. So schnell wie möglich. Sie schaut bereits nach passenden Flügen. Mein Vater versucht, kurzfristig Urlaub einzureichen und nachzukommen«, erklärte ich.

»Das ist gut, oder?«, versuchte Ben, mich aufzubauen. »Das hilft sicherlich, die ganze Sache zu verarbeiten.«

Ich wollte Ben zustimmen. Einerseits sehnte ich mich nach meinen Eltern und nach ihrer Nähe. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, was es bedeuten würde, wenn meine Eltern erst einmal wieder da waren. Meine Mutter hatte nicht gesagt, wie lange sie bleiben würden. Ich fragte mich, ob es für eine Weile wieder sein konnte wie früher.

Ich hatte mir mittlerweile mein eigenes Leben aufgebaut. Meine Tagesabläufe waren nicht mehr auf die meiner Eltern abgestimmt. Wir hatten uns zwangsläufig auseinandergelebt.

»Ich weiß es nicht«, gestand ich. »Ich kann mir mein Verhalten nicht einmal selbst erklären. Ich weiß nicht, wie ich nun auch noch mit meinen Eltern umgehen soll. Vor allem mit Mrs. Unverständnis auch bekannt als meine Mutter.«

»Du hattest keine andere Wahl, als ihnen die Linsen zu geben. Wenigstens sind wir jetzt aus der Sache raus. Auch wenn sie uns nicht geglaubt haben.

Ben verstand noch immer nicht, dass der Fall für mich solange nicht beendet sein würde, bis Mareks Mörder hinter Gittern saß und alle Fragen beantwortet waren.

»Ein korrupter Bulle«, schüttelte ich den Kopf. »Das hat dem ganzen noch die Krone aufgesetzt. Die Ironie daran ist, dass er nie etwas anderes behauptet hat.«

Ben hatte sich während seiner Aussage wohl richtig verhalten. Er hatte die Geschehnisse im Haus der Dens so geschildert, wie sie vorgefallen waren. Doch damit hatte er Bodo genauso wenig belasten können wie ich. Ben hatte Bodos Gesicht nur kurz auf seinem digitalen Personalausweis zu sehen bekommen. Er hatte ihn daher auch auf dem Polizeirevier nicht direkt erkannt. Die Polizei glaubte vermutlich, dass ich Ben mit meinem Verfolgungswahn angesteckt hatte und er lediglich das nachplapperte, was ich ihm erzählt hatte. Vielleicht war es auch so.

»Du bist der Einzige, der mir wirklich glaubt«, erkannte ich ernüchtert und erleichtert zugleich.

Wenigstens hatte ich einen wahren Freund.

Auf Hawk konnte ich im Gegensatz dazu im Augenblick nicht mehr zählen. Er hatte uns direkt in die Falle laufen lassen.

»Und zu allem Übel drängt Emma sich auch noch in die Handlung«, seufzte ich.

»Vergiss Emma.«

Bens Finger schmiegten sich an die Innenseite meiner Hand.

»Du kannst dich immer auf mich verlassen. Du bist meine beste Freundin.«

»Beste Freundin«, wiederholte ich und konnte meine Enttäuschung nicht verbergen. Zum ersten Mal wünschte ich mir wirklich, er hätte das Wort »beste« weggelassen.

»Du weißt, wie wichtig du mir bist.«

Bens warme Hand umschloss meine vollkommen. Ich war mir nicht sicher, ob er mich näher an sich heranzog, oder ob ich mir das einbildete, weil ich es mir insgeheim wünschte. Ich erinnerte mich an die Worte, die er vor wenigen Stunden ausgesprochen hatte. Wie viel Angst er davor gehabt hatte, mich zu verlieren. Ich sah in seinen Augen die Erleichterung darüber, dass der Fall in den Händen der Polizei lag und seiner Ansicht nach für uns abgeschlossen war.

»Ben, ich muss dir …«, begann ich, doch ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

Bens Hände umfassten auf einmal meine Hüften, als er aufstand und meinen Körper an seinen zog. Überwältigt blickte ich zu ihm auf. Mein Puls schlug schneller. Ich hatte keine Zeit, weiter über diese Geste nachzudenken. Ich wusste nur, dass ich die Augen schließen sollte.

Bens Lippen waren genauso weich, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der erste Kuss war sehr behutsam, fast zaghaft. Als er merkte, dass ich mich nicht wehrte, folgte ein zweiter, dann ein dritter. Aus Vorsicht wurde Nachdruck.

Den ganzen Tag über hatte ich völlig neben mir gestanden. Durch Bens Kuss fühlte ich mich zum ersten Mal wieder ganz wie ich selbst. Ich spürte jedes meiner Nervenenden. Vom Scheitel bis zu den Zehen. Ich hatte noch nie ein derartig intensives Gefühl erlebt. Erst in diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich mich nach einem Kuss von ihm gesehnt hatte.

Bens Hände glitten über meinen Rücken und er schloss mich in eine feste Umarmung. Für einen Augenblick waren wir beide sprachlos. Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken. Das war kein Traum, das war echt.

»Ich habe lange auf den richtigen Moment gewartet«, flüsterte Ben in mein Ohr. Es kribbelte an meiner Haut. »Aber der Moment kam nie. Also dachte ich, ich versuche es einfach mal.«

Ich lächelte. Zum ersten Mal an diesem Tag.

»Es hätte keinen besseren Moment geben können«, widersprach ich und sah ihm tief in die Augen.

Ich wusste nicht, wie oft ich schon in diese Augen geblickt hatte. In den gemeinsamen Jahren hatte ich bereits viel darin entdecken dürfen. Freude, Trauer, Begeisterung, Besorgnis, Unsicherheit, Entschlossenheit. Ich hatte geglaubt, alles darin gesehen zu haben. Doch in diesem Moment sah ich zum ersten Mal Liebe. Ben war mehr als nur ein guter Freund. Er war alles, was ich mir hätte wünschen können.

Ben lächelte erleichtert. Vorsichtig fuhr er mir mit der Hand über die Wange, als wäre ich zerbrechlich. Dann küsste er mich erneut und zog mich auf sein Bett.