Ich spürte Bens Herzschlag an meinem Ohr. Wir lagen zusammengerollt wie Zimtschnecken in seinem Bett. Mein Kopf ruhte auf seiner Brust, während ich nachdenklich an einem Zipfel der Bettdecke herumspielte. Ich hätte für den Rest meines Lebens so daliegen können, mit nichts als Bens rhythmischem Herzschlag in meinem Kopf.
»Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung?«, fragte ich.
»Kaum«, schüttelte Ben den Kopf. »Aber an unsere zweite. Du bist mir auf den Fuß getreten und hast dich nicht dafür entschuldigt. Stattdessen hast du gefragt, ob eine Entschuldigung in diesem Fall überhaupt nötig wäre, da mein Fuß ja eh gelähmt sei und es somit auch nicht wehgetan haben könnte.«
Ich bekam noch im Nachhinein ein schlechtes Gewissen. Kinder konnten so gemein sein. Erwachsene auch. Nur konnten sie es nicht auf ihre Unerfahrenheit schieben.
»Das war ziemlich taktlos von mir«, gestand ich. »Aber du hast damals nur gelacht.«
»Bis dahin hat niemand so offen mit mir über meine Behinderung gesprochen. Im Gegensatz zu dir hatten die anderen Angst, mir auf die Füße zu treten. In jeglicher Hinsicht.«
»Ich war fasziniert von dir. Du warst viel älter, größer und schlauer als der Rest. Wie ein Bionic. Ich habe gebrabbelt. Stattdessen hätte ich die Klappe halten sollen.«
»Hättest du nicht. Vielleicht wären wir sonst nie Freunde geworden.« Ben küsste meine Stirn. »Du darfst mir so oft auf die Füße treten wie du willst.«
Ich umschloss Bens Oberkörper fest mit meinen Armen. Das Leben konnte so einfach sein. Ich fragte mich, warum es das trotzdem fast nie war?
»Alles in Ordnung?«, fragte Ben und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Das Wallpaper zeigte 00:06 Uhr an. Wir hatten den Tag offiziell überstanden. Ich wünschte, dass mit dem Stundenschlag auch alle Probleme verstrichen wären. Stattdessen schienen sie mit jeder Minute zu wachsen. Mein schlechtes Gewissen legte sich wie ein Schatten über das Zimmer. Dies war keine Zeit für Geheimnisse.
»Es gibt noch etwas, das ich dir sagen muss«, begann ich und setzte mich auf.
Ben schaute mich aufmerksam an. »Raus mit der Sprache.«
Er sah glücklich aus.
Ich musste Ben die Wahrheit sagen, aber ich fürchtete mich vor seiner Reaktion. Die ganze Zeit über hatte er mir vertraut und ich war drauf und dran, sein Vertrauen zu missbrauchen.
»Ich habe ihnen die falschen Linsen gegeben«, gestand ich.
»Was?« Ben sah mich verständnislos an.
Für einen Moment schien er tatsächlich nicht zu begreifen, was ich gesagt hatte.
»Die Linsen, die ich Frau Khelifa gegeben habe, waren einfache Ersatzlinsen. Es waren die Kontaktlinsen, die Hawk mir zum Tausch angeboten hat. Sie haben sich also doch noch als nützlich erwiesen, wer hätte das gedacht?«
Ein Lächeln huschte über meine Lippen, aber eigentlich war dies kein Moment für Heiterkeit.
Ben war völlig entgeistert.
»Ich habe die echten Linsen auf dem Revier herausgenommen. Das Risiko war zu hoch«, versuchte ich, zu erklären. »Außerdem wäre es fatal gewesen, sie der Polizei zu geben. Dann hätte ich sie Bodo ja förmlich in den Rachen geworfen. Verstehst du das denn nicht?«
»Nein, tue ich nicht.«
Ben schob die Decke von sich weg und stand auf. Beinahe stolperte er mit seiner Prothese. Er wandte mir den Rücken zu. Auch wenn ich mit dieser Reaktion gerechnet hatte, tat es weh, dass er gerade jetzt Abstand von mir brauchte. Ein kleiner Teil von mir hatte gehofft, dass er die Neuigkeit mit einem Schulterzucken abtun würde. Ein kleiner, naiver Teil in mir.
»Mav, das war unsere Chance. Du hättest die Sache damit ein für alle Mal beenden können.«
»Und dann was? So weiterleben, als wäre nichts geschehen? Marek ist tot, Ben«, warf ich zurück.
Es klang vorwurfsvoll, aber in Wirklichkeit war es Verzweiflung, die aus mir sprach. Ich biss mir auf die Unterlippe.
Ben drehte sich um und ich glaubte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Er packte mich so fest an den Schultern, dass ein Ruck durch meinen Körper ging.
»Und ich will nicht, dass du die Nächste bist.«
Bens Gesicht war rot vor Erregung. Auch mir stiegen Tränen in die Augen. Ich wollte nicht streiten. Ich wollte nicht, dass Ben auf mich sauer war. Und ich wollte nicht, dass er sich Sorgen machte. Er musste begreifen, warum ich die Linsen gerade Bodo nicht hatte geben können. Das wäre doch Unrecht gewesen!
»Wie lange wird es dauern, bis er herausfindet, dass es nicht die richtigen Linsen sind? Und was wird er dann erst mit dir anstellen? Und dieser Hawk ist vielleicht auch schon auf dem Weg hierher«, sprach Ben aufgebracht weiter. »Warum lässt du die Polizei nicht einfach die Sache klären?«
»Weil wir ihnen nicht vertrauen können«, beharrte ich.
Lieber blind misstrauen, als der Polizei vertrauen.
»Vertrauen«, wiederholte Ben. »Dreht sich bei dir alles einzig und allein darum? Du denkst, dass du keinem vertrauen kannst. Dass es eine Schwäche ist, wenn du dich auf andere verlässt. Wenn du anderen die Entscheidung in die Hand gibst. Weil die einzigen Personen, auf die du dich jemals verlassen hast, nicht auf dich gehört haben und gegangen sind. Aber das stimmt nicht, Mav. Wenn du doch wenigstens mir vertrauen würdest.«
»Das tue ich doch.«
»Ich wünschte, ich könnte dir das glauben.«
Ich konnte ihm in diesem Moment nicht in die Augen sehen. Noch nie zuvor hatte ich Ben so wütend und verzweifelt zugleich erlebt.
»Wo sind die Linsen jetzt?«
Ich senkte den Blick. »In meiner Tasche.«
Ben durchquerte mit weniger als zwei Schritten den Raum. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, die Tasche zu durchwühlen. Stattdessen kippte er den gesamten Inhalt auf dem Boden aus. Klappernd fiel alles zu Boden, was ich darin aufbewahrt hatte. Er griff in den Haufen und zog den Behälter mit den Linsen hervor. Seine Finger umschlossen das kleine Plastikbehältnis. Seine Augen blitzen entschlossen auf.
»Damit ist jetzt Schluss.«
»Was hast du vor?«, fragte ich alarmiert.
Noch bevor ich die Frage ganz ausgesprochen hatte, war Ben in das Badezimmer gestürmt und klappte gerade den Toilettendeckel hoch, als ich dazwischen ging. Sein Vorhaben war noch wahnsinniger als alles, was ich bisher vollbracht hatte.
»Tu das nicht!«, entfuhr es mir, als ich versuchte, ihm den Behälter zu entreißen.
Ben hielt den Arm hoch gestreckt. Ich hatte keine Chance, an die Kontaktlinsen heranzukommen. Er sah mich fest entschlossen an. Eine falsche Bewegung und die Linsen wären in den Abwasserkanälen der Stadt verschwunden.
»Ben, wenn du das machst, dann stecken wir noch viel tiefer drin. Was werden sie dann wohl mit uns machen?«
»Die Frage stellst du dir jetzt?«
Seine Augen funkelten mich böse an. »Bis eben war dir das noch egal.«
Bens Arm kreiste über der Kloschüssel. Ließ er sie fallen, dann würde alles im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runtergehen. Niemand würde uns abkaufen, dass wir das Objekt ihrer Begierde die Toilette runtergespült hatten. Hawk würde uns möglicherweise Glauben schenken, aber Bodo und sein vermeintlicher Komplize würden uns nie wieder in Ruhe lassen.
»Ich bitte dich«, wisperte ich und umschloss Bens Gesicht mit meinen Händen. »Du bist der Vernünftige von uns beiden.«
Ben senkte den Blick. Er musste nur seine Entschlossenheit ablegen.
»Bitte«, wiederholte ich.
Sein Arm glitt nach unten, bis er schließlich schlaff an seinem Körper herunterhing, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Ben war der Vernünftige von uns beiden. Vorsichtig nahm ich ihm den Behälter ab.
»Warum bist du nur so verdammt dickköpfig, Mav?«
Kummer und Sehnsucht schwangen gleichsam in seiner Stimme mit.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das muss ich sein. Andernfalls würde ich jetzt in einer kanadischen Holzhütte sitzen und Mützen stricken.«
Ben schmunzelte. »Das ist es also, was deine Eltern den ganzen Tag machen?«
»So stelle ich es mir zumindest vor. Da kämpfe ich doch lieber für die Gerechtigkeit und rette die digitale Welt vor dem Untergang.«
Ben schloss seine Arme um mich und vergrub sein Gesicht an meiner Schulter. »Du bist verrückt.«
Ich erwiderte die Umarmung. »Ich weiß.«