Nachdenklich lehnte ich mich zurück, bis mein Hinterkopf das weiche Polster der Matratze berührte. In der Dunkelheit konnte ich schemenhaft die Gegenstände um mich herum erkennen. Bens Wut war gewichen, aber die Fragen, die er gestellt hatte, blieben. Ich hatte ihm darauf noch keine Antwort geben können.
Ich saß auf dem Boden und drehte den Linsenbehälter zwischen meinen Fingern. Er war kleiner als mein Daumen. Ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand, der etwas aufbewahrte, für das andere mordeten.
Meine Augen brannten. Trotz der Müdigkeit, die wie ein Schleier über meinem Kopf hing, konnte ich nicht schlafen. Ben hingegen war vor wenigen Minuten eingeschlafen. Ich spürte ein Ziehen in meinem Brustkorb, als ich zu ihm blickte und sein friedliches Gesicht im schwachen Schein des künstlichen Wallpaper-Mondes erblickte. Die Aufregung war von seinen Gesichtszügen gewichen. Ich hatte ihn enttäuscht und ich hoffte, dass er mir verzeihen würde.
Ich versuchte, mich in seine Lage zu versetzen. In seinen Augen hätte ich ein eigennütziges Gör sein müssen, das weder Vernunft noch Verstand besaß. Während er keine Mutter mehr hatte, nörgelte ich herum, dass ich meine Eltern nur viermal im Jahr zu sehen bekam.
Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich hätte dankbar für das sein müssen, was ich besaß. Warum fühlte es sich dann seit anderthalb Jahren so an, als hätte auch ich meine Eltern verloren? Ich war ausschließlich in dieser Situation, weil ich meinen eigenen Willen hatte durchsetzen müssen. Ich lief immer mit dem Kopf durch die Wand. Das hatte der heutige Tag erneut bewiesen.
Unweigerlich musste ich an den Tag denken, an dem meine Eltern nach Kanada gezogen waren. Mein Vater hatte mich weinend in den Arm genommen und mich darum gebeten, es mir noch einmal zu überlegen. Selbst meine Mutter war weniger beherrscht gewesen als gewöhnlich. Ihre Augen sahen traurig aus. Für einen Moment zweifelte ich an meiner Entscheidung. Ich blieb trotzdem nicht, um den Flieger abheben zu sehen.
Mein Weg vom Flughafen hatte mich direkt zu Mareks Laden geführt. Ich wollte mich nicht in Schuldgefühlen verlieren, oder in Selbstzweifeln baden. Stattdessen sehnte ich mich nach einer Auszeit von diesem emotionalen Tauchkurs. Marek hatte das sofort erkannt. Er hatte mich mit seiner typisch sarkastischen Art als »Olivia Twist« begrüßt, mir von seinem neuesten Patch erzählt und mir damit das Gefühl gegeben, dass alles beim Alten war. Keine Umarmungen, keine mitleidigen Blicke. Das Leben ging weiter. So war Marek.
Ich musste diesen Mord aufklären! Marek hatte für die Kontaktlinsen mit seinem Leben bezahlen müssen. Ich würde nicht hinnehmen, dass er zu einem Fall wurde, den man einfach zu den Akten legte.
Die Aufnahmen der Überwachungskamera schossen mir wieder durch den Kopf. Die Konfrontation mit seinem Mörder. Der tödliche Schuss in die Brust.
Vieles ergab mittlerweile einen Sinn. Ich wusste, warum die Kontaktlinsen so begehrenswert waren. Ich verstand, dass Hawk sie zurückhaben wollte. Ich begriff jedoch nicht, in welchem Verhältnis die Beteiligten zueinanderstanden. Hatte Marek wirklich den Auftrag gehabt, den Code zu entschlüsseln, wie Hawk es angedeutet hatte? Oder hatten Kaspersky und Marek zusammengearbeitet? Immerhin schienen sie Freunde gewesen zu sein. Und was war mit Bodo? Vielleicht verbarg er sich hinter dem Pseudonym Bane, vielleicht waren Bodo und Bane aber auch Komplizen.
Ich wollte nicht wahrhaben, dass Bodo rein gar nichts mit dem Mord zu tun haben sollte. Mit irgendwem steckte er unter einer Decke. Das Wettrennen um die Kontaktlinsen war noch nicht beendet. Anstatt hier auf dem Boden zu sitzen und zu grübeln, hätte ich weiterlaufen sollen, um meinen Vorsprung zu vergrößern. Noch war ich meinen Verfolgern einen Schritt voraus. Wenn ich nur gewusst hätte, in welche Richtung ich mich bewegen sollte. Ich tappte sprichwörtlich im Dunkeln.
Hawk war wie vom Erdboden verschluckt. Ich kannte nicht einmal seinen echten Namen. Und Bodo? Der war vermutlich drauf und dran, die Beweismittelkammer zu stürmen und die Kontaktlinsen zu sichern. Dann würde er feststellen, dass ich ihm die falschen Linsen gegeben hatte. Vielleicht war er schon auf dem Weg hierher. Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Das Haus der Dens war wie eine Falle.
Ich würde nicht tatenlos herumsitzen und drauf warten, dass man uns angriff. Ich musste den Moment nutzen, um endlich herauszufinden, was Marek mit der ganzen Sache zu tun gehabt hatte.
Verzweifelt biss ich mir auf die Unterlippe. Nur, wo sollte ich suchen? Im Gegensatz zu Hawk konnte ich mich nicht einfach in Mareks stillgelegtes Profil hacken, um dort nach Hinweisen zu suchen. Sein Geschäft hatte die Polizei vermutlich schon abgeriegelt. Jegliche Beweise vom Tatort waren unter Verschluss auf dem Revier und in die relevanten Server der Polizei konnte ich mich nicht hacken, weil sie Teil eines geschlossenen Netzwerks waren, das keine Verbindung nach außen besaß.
Ich blies mir eine Strähne aus der Stirn. Unter den gegebenen Umständen würde es mir leichter fallen, mich in die Beweismittelkammer zu schleichen, als den entsprechenden Server zu hacken. Ersteres war einfach gefährlich, letzteres war schlichtweg unmöglich.
Ich stutzte, als auf einmal ein Symbol vor meinem inneren Auge aufblitzte. Irgendwo in meinem Hinterkopf hing eine Information fest, die sich zu lösen versuchte. Wie ein Lichtblitz hatte sie für einen Moment meinen Geist erhellt, um mich nun wieder im Dunkeln sitzen zu lassen.
Ich war gerade dabei, etwas zu übersehen. Doch je mehr ich mich anstrengte, desto weiter schien es sich aus meiner Erinnerung zu entfernen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, den Gedanken loszulassen, in der Hoffnung, dass er von alleine zu mir zurückkam.
Ein M war es, das mir plötzlich wieder einfiel.
Dieser Buchstabe war der Teil eines Logos. Aber wo hatte ich dieses Logo gesehen?
Ich fuhr mit dem linken Zeigefinger über den Teppich neben meinem Oberschenkel und zeichnete das Symbol nach. Ein fettgedrucktes M, das von einem Kreis umschlossen war. Nicht besonders ausgefallen. Ich stellte mir vor, wie eine Gruppe Kreativdirektoren stundenlang über das Design diskutiert hatten. Kreis oder Ellipse, was entspricht eher unserem Markenkern? Ist der Kreis wirklich groß genug? Warum nicht aus dem Rahmen fallen und den Kreis unvollständig machen?
Bei diesem Gedanken fiel es mir wieder ein: Das Logo war auf dem Kärtchen abgebildet gewesen, das ich unter Kasperskys Bett gefunden hatte. Aber ich hatte das umkreiste M danach noch einmal gesehen. Ich verdeckte die Hälfte des Logos mit meiner Handfläche. Jetzt fiel mir auch das wieder ein.
Das Logo war auf dem Kontaktlinsenbehälter abgedruckt gewesen, den ich in Mareks Laden zertreten hatte. Danach war das große M auf mehreren grünen Plastikstücken verteilt gewesen. Als Frau Khelifa mir die Fotos vom Tatort gezeigt hatte, war mir dies nicht aufgefallen, aber nun kam die Erinnerung zurück. Das war sicher kein Zufall! Zu welcher Firma dieses Symbol auch gehörte, sie hatte irgendetwas mit den Ereignissen zu tun.
Hawk hatte bisher keine Gnade mit mir walten lassen. Mein Profil war noch immer blockiert und damit unzugänglich. Mir blieb keine andere Wahl, als die Kontaktlinsen einzusetzen und über das Profil des Vermieters die Suche nach dem Unternehmen zu starten.
Der Vermieter hatte die Spielrunde und seinen Chat mittlerweile beendet. Ich las das in den Teppich gemalte Logo mit den Kontaktlinsen ein und führte anschließend einen Suchlauf durch. Zunächst kamen dabei Empfehlungen für eine Fast-Food-Kette und für einen Musikdienst heraus. Nachdem ich meine Zeichnung ein wenig verfeinert hatte, näherte ich mich meinem Ziel. Das Logo wurde der MedSol AG zugeordnet. Dem Firmenprofil zufolge handelte es sich um eines der weltweit führenden Unternehmen in der Herstellung und Entwicklung von neuartigen Kontaktlinsen. Hoppla, wenn das nicht eindeutig war.
Jetzt war klar, wo ich weitersuchen musste …