Freitag, 01:20 Uhr

So leise ich konnte, tauschte ich meine Pyjamahose gegen meine Jeans und zog meine Jacke über. Bevor ich ging, warf ich Ben einen letzten Blick zu. Er schlief tief und fest.

Mit sanften Schritten lief ich die Treppenstufen hinunter in den Eingangsbereich des Hauses. Ich verharrte, als die Flurbeleuchtung über mir ansprang. Unsicher schaute ich mich um. Ich hatte den Bewegungsmelder ausgelöst. Heimlich durch das Haus zu schleichen war schwieriger als ich es mir vorgestellt hatte.

Ich beeilte mich, aber ich kam nicht weit. Ich drückte die Türklinke der Haustür herunter, aber sie war verschlossen. Das Schloss ließ sich ausschließlich mit einem Iris-Scan öffnen.

»«Das fehlt mir gerade noch«, stöhnte ich.

Erst musste ich in eine Wohnung einbrechen, jetzt musste ich aus einer Wohnung ausbrechen.

Ich schaute mich um. Aus dem Arbeitszimmer fiel ein schmaler Lichtstrahl in den Flur. Mir fielen zwei Möglichkeiten ein, die Tür zu öffnen. Entweder ich bat Ben um seine Mithilfe, die er mir sicherlich verweigern würde, oder …

Ich zögerte. Ich konnte nicht glauben, dass ich dies überhaupt in Erwägung zog. Andererseits besaß ich die Kontaktlinsen, und ein neues Profil würde mir unterwegs von Nutzen sein. Das glitzernde Profil von Kasperskys Vermieter schimmerte noch immer in vollen Goldtönen vor meinen Augen. Ich konnte kaum erwarten, es durch ein dezenteres Design zu ersetzen.

Ich holte dreimal tief Luft, bevor ich das Arbeitszimmer betrat. Argos hob schläfrig den Kopf, als er mich bemerkte.

Herr Den saß aufrecht in seinem Bürostuhl. Er war ein großgewachsener, schlanker Mann. Mit den Fingern fuhr er über die Arbeitsfläche seines Schreibtisches, während er seine Arbeit tätigte. Er bemerkte mich sehr viel später als der Hund.

»Nora«, blickte er überrascht auf. »So spät noch wach?«

»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«

Herr Den lächelte müde. Er sah erschöpft aus. Seine blauen Augen waren mit tiefen Augenringen unterlegt. Bens Vater war zehn Jahre älter als meiner. Auf seinem Kopf zeichnete sich bereits eine kleine Glatze ab. Die Falten in seinem Gesicht saßen tief und erzählten von ständiger Überarbeitung.

Ich griff nach einem Sessel und zog ihn an den Schreibtisch.

»Mir geht so viel durch den Kopf. Macht es dir etwas aus, wenn ich mich setze?«

Herr Den lehnte sich zurück. »Überhaupt nicht. Eine Unterhaltung erscheint mir weitaus verlockender als weiter zu arbeiten. Viel lässt sich von hier aus sowieso nicht ausrichten.«

»Es ist halb zwei. Ist es nicht eh ein wenig zu spät, um zu arbeiten?«, fragte ich.

»Es sollte verboten werden, um diese Uhrzeit zu arbeiten«, nickte er halb im Scherz. »Aber nach den heutigen Ereignissen kann ich sowieso nicht schlafen. Also dachte ich mir, ich nutze die Zeit.«

Ich kannte dieses Gefühl. In den ersten Wochen, nachdem meine Eltern weggezogen waren, hatte ich oft Nächte lang wachgesessen und Codes geschrieben anstatt zu schlafen. Und auch jetzt würde ich kein Auge zu bekommen.

»Ich kann selbst noch nicht glauben, was passiert ist«, gab ich zu.

»Auch wenn niemand zu Schaden kommt, richtet so ein Überfall im eigenen Hause doch viel an. Wenn man sich nicht einmal in den eigenen vier Wänden sicher fühlen kann, wo dann?« Er musterte mich nachdenklich. »Ich verstehe nur immer noch nicht, warum der Mann es ausgerechnet auf euch abgesehen hatte. Hier einzubrechen und Kugeln auf euch abzufeuern … Das klingt fast nach einem Auftragsmord!«

Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg.

»Ich begreife es auch nicht. Der Kerl muss mich am Tatort gesehen haben und mir dann gefolgt sein. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte etwas gesehen.«

»Aber das hast du nicht.«

Es klang beinahe nach einer Frage.

Ich schüttelte den Kopf. In den letzten Stunden hatte ich viele Lügen erzählt. Ich konnte mich nicht daran gewöhnen. Ich respektierte Herrn Den, aber leider war er Politiker. Wer wusste, was er in den Medien aus der Geschichte machen würde.

»Hoffen wir, dass die Polizei die Sache schnell klären kann«, sagte er.

Ich war froh, dass er nicht weiter darauf einging.

»Das Wichtigste ist, dass es euch gut geht.«

»Ich habe noch nie zuvor einen Toten gesehen.«

Ich wusste selbst nicht, wo diese Worte auf einmal herkamen.

»Ich habe auch nie vorher darüber nachgedacht, wann und wie ich einmal einen sehen würde. Und vor allem nicht, um wen es sich dabei handeln würde.«

»Das ist nichts, auf das man sich vorbereiten kann«, erklärte Herr Den verständnisvoll. »Verluste sind ein Teil unseres Lebens. Jeder weiß, dass man sich früher oder später damit konfrontiert sieht. Oft früher, als einem lieb ist.«

Er hielt inne.

»Dieses Bewusstsein schützt uns aber nicht vor dem eigentlichen Ereignis; dem Schmerz und der Trauer. Vor allem nicht, wenn es so plötzlich und auf so grausame Art und Weise geschieht.«

Er hatte recht. Es war wie das Wissen über den eigenen Tod. Irgendwann musste jeder sterben. Auch ich. Dennoch begriff ich nicht, was das wirklich bedeutete. Wer tat das schon?

»Wenn am Ende Gerechtigkeit waltet, dann wird dies zumindest ein kleiner Trost sein«, fuhr er fort und lehnte sich vor.

Ich nickte. Er konnte nicht ahnen, dass ich in Begriff war, für diese Gerechtigkeit zu kämpfen. Im Gegensatz zu ihm wusste ich, dass auf die Polizei kein Verlass war. Ich würde die Wahrheit selbst herausfinden müssen. Das einzige, was in diesem Augenblick zwischen mir und meinem Plan stand, war die Haustür der Dens. Ich rutschte nervös auf die Kante des Sessels vor.

»Ben kann sich glücklich schätzen, dich als Vater zu haben.«

»Das gleiche lässt sich über eure Freundschaft sagen«, erwiderte er. »Soweit ich das einschätzen kann, bist du eine sehr wichtige Person in seinem Leben.«

Nach Bens Kuss wusste ich das auch.

»Ben hat mir sehr viel geholfen, seitdem meine Eltern in Kanada sind. Er ist immer für mich da. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn wäre.«

Und jetzt war ich drauf und dran, ihm erneut in den Rücken zu fallen. Die Worte ließen einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge zurück. Wie Halsschmerztabletten.

»Er ist ein guter Junge.«

»Er ist der Beste. Ben ist so beständig und aufrichtig. Manchmal wünschte ich, ich wäre ein bisschen mehr wie er.«

Ich meinte, was ich sagte. Es ließ sich nur schwer mit dem vereinbaren, was ich gerade tat.

Es brauchte ein langes, zufriedenes Lächeln von Herrn Den und ich hatte mir Zugang zu seinem Safe verschafft. Ich lehnte mich schnell zurück. Kleine Zahlenreihen tauchten vor meinen Augen auf. Die goldenen Sidebars von Kasperkys Vermieter wichen einem eleganten, transparenten Design. Bens Vater hatte eindeutig mehr Stil.

Ich schluckte schwer, als ich ein kleines Bild im oberen rechten Sichtbereich erspähte. Das Bild war bereits einige Jahre alt. Ich erkannte Bens Vater, seine Mutter und Ben, als er noch ein kleiner Junge war. Ben hatte eindeutig ihre blauen Augen und ihr offenes Lächeln geerbt. Sie sahen alle sehr glücklich aus.

Herr Den hatte das Bild seiner Familie als festen Bestandteil seines Safes eingerichtet, sodass er es jedes Mal zu sehen bekam, wenn er sich einloggte. Ich hatte kein Recht, mir Zugang zu diesem Bereich seines Privatlebens zu verschaffen. Ich fühlte mich schuldig und nahm mir vor, das Profil ausschließlich dazu zu nutzen, um das Haus zu verlassen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Herr Den besorgt, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte.

Ich nickte hastig und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Ich musste seinem Blicken ausweichen. Meine Augen hatten soeben ihre Farbe geändert.

»Es ist nur … Es ist schon sehr spät. Ich sollte mich wohl besser hinlegen.«

Herr Den lehnte sich nachdenklich zurück.

»Ja, mach das.«

Ich stand auf und ging in Richtung Tür. Bevor ich den Raum verließ, wandte ich mich ein letztes Mal zu ihm um. Er war bereits wieder in seine Arbeit vertieft. Wenn er gewusst hätte, dass ich in diesem Moment vollen Zugang zu seinem Safe hatte, dann hätte er sicherlich nicht so ruhig dagesessen. Aber er hatte nicht den blassesten Schimmer und ich musste dafür sorgen, dass es dabei blieb.

Nachdem ich über Herrn Dens Safe den Bewegungsmelder der Außenbeleuchtung deaktiviert hatte, verließ ich das Haus über die Terrasse. Es schien mir sicherer, als direkt vor dem Haus herumzulaufen.

Ich lief die Straße entlang in Richtung PuC. Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand folgte. Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass Bodo hinter einem der Bäume hervorsprang und mich anfiel. Ich konnte kaum unterscheiden, ob meine Befürchtungen realistisch waren, oder ob ich so langsam an Verfolgungswahn litt.

Die Luft war beißend kalt. Frost zog sich wie Kristallzucker über die Zäune, Gräser und Hecken. Ich presste die Zähne zusammen und versuchte, die Angst abzuschütteln. Ich sprach mir selbst zu, dass die Bedrohung lediglich in meinem Kopf bestand. Bodo versteckte sich nicht einfach hinter einem Baum. Stattdessen versuchte er wahrscheinlich gerade, die Linsen aus der Beweismittelkammer zu stehlen, damit er sie entschlüsseln lassen konnte.

Als ich die Tür zu dem PuC öffnen wollte, begrüßte mich das Auto mit einem »Guten Abend«.

Ich würde in Herrn Dens Namen durch die Straßen Berlins fahren. Vielleicht war es besser so. Auf diese Weise konnte die Polizei nicht jeden meiner Schritte verfolgen. Hawk hatte wirklich weit vorausgedacht, als er meinen Safe gesperrt hatte.