Diesmal war ich froh, den Autopiloten nutzen zu können. Ich war nicht mehr fähig, das Fahrzeug selbst zu steuern. Stattdessen rutschte ich so tief in den Sitz, wie es meine Beine erlaubten und ließ mich durch das verschlafene Wohngebiet chauffieren. Das PuC wählte die kürzeste Route. Wir würden einmal quer durch den Stadtkern in Richtung Nordosten fahren, wo sich der Hauptsitz der MedSol AG befand. Autopiloten und Führerschein mit Sechzehn waren eindeutig zwei der besten Neuerungen der letzten Jahre. Im Gegensatz zu der automatischen Drosselung der Fahrgeschwindigkeit und der Innenverriegelung von Haustüren. Wer auch immer sich die letzten beiden Dinge überlegt hatte, war ein großer, fetter Loser.
Hinter der Windschutzscheibe des Autos kam ich mir vor wie ein Besucher in meiner eigenen Stadt. Die bunten Lichter der Gebäude und Geschäfte tanzten über das saubere Glas. Ich fühlte mich wie in Trance, als die Minuten verstrichen. Das altmodisch funkelnde Dach des Sony Centers am Potsdamer Platz lachte mir entgegen wie ein alter Mann, den man auf der Straße traf. Ich hielt mich selten in dieser Gegend auf. Ich kannte auch niemanden, der in der Nähe wohnte. Die Mieten in Berlin-Mitte waren zu hoch. Auch ich war nur eine Touristin in diesem Bezirk.
Kurz darauf fuhr das PuC mit mir am Alexanderplatz vorbei. Der Fernsehturm stach in den Himmel wie eine Nadel. Als wolle er die Wolkendecke aufreißen, die sich über mir befand. Dahinter begrüßten mich Friedrichshain und Lichtenberg. Irgendwo hier in der Nähe hatten meine Eltern gewohnt, bevor sie die Wohnung in Neukölln gekauft hatten. Berlin pulsierte in dieser Nacht an vielen Stellen. Das war das Berlin, das ich kannte. Vertraut und fremd zugleich.
Für eine Weile dachte ich nicht darüber nach, was mich dort draußen erwartete. Ich glaubte nicht, dass ich mich an einem anderen Ort genauso wohlfühlen konnte. Ich hoffte, dass sich daran nach dem heutigen Tag nichts ändern würde.
Während das PuC mich aus Lichtenberg hinaus navigierte, schoss mir die Erinnerung an einen Streit zwischen meiner Mutter und meiner Oma ins Gedächtnis, den ich unfreiwillig mitbekommen hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte für meine Eltern bereits festgestanden, dass mein Vater den Job in Toronto annehmen würde. Ich war nicht einsichtig gewesen und wollte Berlin auf keinen Fall verlassen. Meine Oma hatte auf meiner Seite gestanden.
»Was hast du jetzt vor?«, war ihre Stimme aus der Küche über den Flur gehallt. »Dein eigenes Kind zurückzulassen, in einer Phase, in der es dich braucht?«
Meine Mutter hatte die Antwort darauf nicht aussprechen wollen.
»Sarah, ich habe dich immer für deine mutigen Entscheidungen bewundert. Oft habe ich dich sogar beneidet. Die Orte, die du in deinem Leben bereist hast, die Menschen, denen du begegnet bist … das ist ein reicher Schatz an Erfahrungen und Erinnerungen. Sie haben dich zu der Person gemacht, die du heute bist. Aber irgendwann ist es an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Dein Kind steht jetzt an erster Stelle.«
»Nora ist mein ein und alles, das weißt du.«
Ein leichtes Zittern hatte in der Stimme meiner Mutter gelegen. Sie konnte nicht gut mit Konfliktsituationen umgehen. Deshalb vermied sie solche Gespräche, wann immer es ihr möglich war. Diesmal hatte sie nicht davor weglaufen können.
»Aber sie weiß nicht, was gut für sie ist. Ich bin mir sicher, dass es ihr in Toronto gefallen würde! Sie hat ja keine Ahnung, was für eine Chance das ist. Wenn sie nur nicht so fruchtbar engstirnig wäre …«
»Ich glaube, dass deine Tochter alt genug ist, um zu wissen, was ihr guttut und was nicht. Sie braucht keine Veränderung in ihrem Leben. Sie ist an einem Ort, an dem sie sich vollkommen zu Hause fühlt. Damit ist sie dir einen Schritt voraus. Bei dir war das nie so. Nicht einmal als Kind. Du warst immer auf der Suche nach etwas, wolltest immer weiterziehen. Ich dachte immer, dass es Ehrgeiz wäre, der dich antreibt, aber irgendwann vermutete ich, dass es eine innere Leere sein muss. Du hast einen guten Job, einen liebevollen Mann und eine intelligente Tochter. Hast du nicht endlich gefunden, wonach du immer gesucht hast?«
Ein Moment der Stille war zwischen die beiden gefallen. Beide hatten wohl mit ihren Gefühlen gerungen.
»Noch nicht«, hatte meine Mutter schließlich geantwortet.
Ich fragte mich, ob sie jemals an ihrem Ziel ankommen würde.
»Wir haben das Ziel erreicht«, ertönte die Stimme des Bordcomputers. »Vielen Dank, dass Sie sich für PuC entschieden haben. Ihr Konto wird mit 12,46 Euro belastet. Sie haben die Möglichkeit, bis zu zum 27. August 2031 Widerruf einzulegen. Danach werden Ihre Nutzungsdaten gelöscht. Für mehr Informationen sagen Sie bitte ‚Mehr Informationen‘ oder besuchen sie unser Kundenportal.«