Freitag, 03:15 Uhr

Sobald wir uns von dem Gelände der MedSol AG entfernten, schob ich den Kopf zwischen die beiden Vordersitze.

»Ben. Ich wollte dich nicht …«, begann ich.

»Ich weiß«, unterbrach er mich und blickte konzentriert auf die Straße.

Ein vorsichtiges Lächeln huschte über seine Lippen.

»Genug geflirtet«, unterbrach Hawk diesen Moment. »Wir haben jetzt andere Probleme. Ist nur eine Frage der Zeit, bis der Kerl uns auf den Fersen ist.«

»Wir müssen die Polizei rufen«, entschied ich.

»Müssen wir nicht«, fuhr Hawk dazwischen.

»Was ist da drinnen passiert?«, fragte Ben.

Hawk tippte wirr auf seinem Screenpaper herum. »Wir hatten eine kurze aber intensive Begegnung mit Mareks und Kasperskys mutmaßlichem Mörder.«

Ich konnte den Zorn in meiner Stimme kaum noch kontrollieren. »Ich kann nicht glauben, dass sie mit denen zusammenarbeiten.«

»Ich gebe nur vor, mit ihnen zusammenzuarbeiten«, korrigierte Hawk mich.

»Ich glaube Ihnen kein Wort mehr.«

Ich schlug aufgebracht mit der Handfläche auf die Kopfstütze vor mir.

»Ich kann nicht arbeiten, wenn du gegen meinen Sitz hämmerst wie ein wildgewordener Pavian«, meckerte Hawk.

»Umso besser. Ich rufe die Polizei«, erklärte ich.

Ben blickte mich ernst über den Rückspiegel an. »Bist du dir ganz sicher?«

Seine Hände umschlossen das Lenkrad fest. Von mir hatte er diesen Entschluss nicht erwartet. Wahrscheinlich hielt er mich bereits für total durchgeknallt. Wir rufen die Polizei. Nein. Doch. Nein. Doch. Nein.

Vor meinen Augen tauchte bereits die Notruffunktion auf. Ich musste nur noch zustimmen. Bevor der Verrückte aus dem Treppenhaus uns niederschoss, wandte ich mich doch lieber an meine verhasste Polizei.

»Deaktiviert«, las ich laut vor.

Moment. Was? Wieso tauchte nun dieses Wort vor meinen Augen auf? Alle anderen Funktionen waren verschwunden. Der Begriff schwebte vor meinen Augen wie ein Filmtitel.

»Was ist los?«, fragte Ben.

Hawk drehte sich zu mir um und funkelte mich an: »Keiner ruft die Polizei.«

»Sind Sie bescheuert? Sie können nicht einfach die Linsen deaktivieren«, fauchte ich.

»Sie haben was?«, begann Ben.

Hinter uns ertönte das entfernte Surren eines Motors. Hawk und ich drehten uns um und starrten durch die Heckscheibe. Das Licht von Scheinwerfern erhellte die Straße.

»Sieht nach einem PuC aus«, stellte ich fest. »Was ist mit dem getunten Geländewagen ohne Geschwindigkeitslimit passiert?«

»Hängt im Brunnen fest. Hast du das etwa schon wieder vergessen?«, fragte Hawk trocken.

Hatte der Sicherheitstyp sich wirklich in das PuC gesetzt, um uns zu folgen?

Ben beschleunigte und beschloss, bei der nächsten Kreuzung links abzubiegen. Das Fahrzeug tat es uns nach.

Das Modell hinter uns war das gleiche, wie das PuC, in dem wir uns befanden. Ben fuhr spontan nach rechts. Das Fahrzeug folgte uns weiter.

»Was hat der vor?«, fragte ich verunsichert.

Das PuC hinter uns wechselte auf die Gegenfahrbahn und setzte zum Überholen an. Ben trat fester auf das Gaspedal. Unser PuC warf einen ersten Warnhinweis aus und forderte Ben auf, das Tempo zu vermindern und den anderen Wagen vorbeizulassen.

»Das PuC wird das Tempo drosseln«, warnte Ben, als das andere Auto uns langsam aber sicher einholte. »Sie müssen es hacken!«

Der Verfolger befand sich bereits auf halber Höhe und kam uns gefährlich nah. Wir verloren immer weiter an Vorsprung, während das PuC die Geschwindigkeit drosselte. Bens Fuß blieb auf dem durchgetretenen Gaspedal, aber es half nichts.

»Hawk, hören Sie nicht? Sie müssen die Drosselung rausnehmen«, forderte auch ich ihn auf.

Wir lieferten uns ein Wettrennen bei Tempo 70.

»Uns kann nichts passieren. Das sind Public Cars. Sie sind darauf eingestellt, jede mögliche Kollision zu vermeiden. Sein Auto wird gleich genauso gedrosselt wie unseres«, versuchte Hawk uns zu beruhigen, während er auf seinem Screenpaper schrieb. »Außerdem gibt es gerade Wichtigeres.«

Hatte ich mich gerade verhört? »Wichtigeres? Was könnte denn bitte wichtiger sein als …«

»Was ist denn jetzt los?«, fuhr Ben dazwischen.

Bens Augen blitzten mich im Rückspiegel an. »Meine Linsen …«

Dann wandte er sich an Hawk: »Sie haben meine Kontaktlinsen deaktiviert. Sie verdammter … Sie sollen das Auto hacken, nicht unsere Linsen!«, schrie Ben.

»Es ist nur zu eurem Besten, glaubt mir«, erklärte Hawk mit einem Nicken.

Die Situation als Chaos zu bezeichnen, wäre untertrieben gewesen. Jetzt waren wir beide ohne Kontaktlinsen. Hawk arbeitete gegen uns.

Ein Knall ertönte. Die Windschutzscheibe des PuC neben uns zerbarst in Tausende Splitter. Erschrocken starrte ich auf die Seitenscheibe. Glassplitter hingen aus der Front des Autos wie Haifischzähne. Unser Angreifer hatte seine eigene Scheibe zerschossen. Ich kniff die Augen zusammen. Dann sah ich den Lauf der Pistole, der auf unseren Wagen gerichtet war.

»Er schießt auf uns!«, brüllte ich.

Hawk drehte sich ungläubig um. »Das ist physikalisch äußerst …«

In diesem Moment flog der Seitenspiegel auf der Fahrerseite unseres PuC mit einem lauten Knall in Richtung Fahrbahn. Er war von einer Kugel zerfetzt worden. Wir schrien und ich klammerte mich am Vordersitz fest.

»Ich sagte doch, dass er auf uns schießt!«

Eine rote Kontrollleuchte blinkte auf unserem Bordcomputer auf. Das Fahrzeug hatte den Defekt erkannt und sofort gemeldet.

»Sie müssen den Wagen hacken!«, zischte Ben erneut. »Gleich legt er das gesamte PuC lahm.«

Ich sah, wie sich der Verfolger weiter vorlehnte und den Lauf der Pistole erneut auf unseren Wagen hielt. Das Steuern überließ er dem Autopiloten.

Eine Kugel schlug mit einem dumpfen Knall unter mir ein, als sein PuC plötzlich abbremste. Das Sicherheitssystem griff wegen der zerschossenen Windschutzscheibe ein.

»Das Auto bremst sich selbst ab«, kommentierte ich. »Damit hat er sich aus dem Spiel gebracht.«

Vielleicht war das Glück endlich auf unserer Seite.

Dann knallte es erneut. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Während er immer weiter zurückfiel, feuerte unser Verfolger mehrere Schüsse in schneller Abfolge ab. Der erste Treffer musste irgendwo in der Heckklappe gelandet sein. Der zweite sprengte das linke Rücklicht, der dritte ging ins Nirgendwo. Der vierte wurde uns zum Verhängnis: Die Kugel traf den linken Hinterreifen.

Immer mehr Warnleuchten blinkten auf dem Bordcomputer. Auf der Windschutzscheibe tauchte eine dreidimensionale Abbildung des PuC auf. Es leuchteten an mehreren Stellen rote Kreise auf, begleitet von einem hektischen Signalton. Ben tippte auf den getroffenen Reifen und eine Detailansicht erschien.

»Der Luftdruck sinkt«, sagte er und blickte in den Rückspiegel. »Gleich enden wir genauso wie dieser Kerl.«

Das PuC hinter uns kam langsam zum Stillstand und fuhr an den Fahrbahnrand.

»Werden wir nicht. Zumindest nicht so schnell«, erklärte Hawk. »Ich habe das Sicherheitssystem deaktiviert.«

Statt Erleichterung machte sich ein bitteres Gefühl in mir breit. Das war nur eines von vielen Systemen, die Hawk in den letzten dreieinhalb Minuten deaktiviert hatte. Und dabei hatte er eindeutig seine Prioritäten falsch gesetzt.

Es klapperte irgendwo an unserem PuC und ich roch verbranntes Gummi. Dann sah ich den Rauch, der am Heck des Wagens aufstieg.

In diesem Moment fiel der Elektromotor des PuC aus und mit ihm der Bordcomputer des Wagens. Dunkelheit fiel über uns, als das Auto bei fünfzig Stundenkilometern einen Totalausfall erlitt. Durch den schwinden Luftdruck im Hinterreifen wurde die Fahrt zu einer Holpertour.

Ben trat heftig auf die Bremse, aber der Wagen riss zur Seite aus. Wir schossen von der Hauptstraße auf einen Parkplatz und von dort direkt auf eine kleine Hütte zu. Schützend hielt ich mir die Arme vor das Gesicht, als wir auf die Wand zusteuerten.

Ben riss im letzten Moment das Lenkrad herum, wir drehten uns einmal mit dem PuC um uns selbst und rasten frontal in die Hütte. Der Aufprall ließ meinen ganzen Körper erzittern. Ich fiel einmal quer über die Rückbank. Das PuC blieb in der Mauer stecken. Statt der erwarteten Sternchen vor meinen Augen, sah ich nur kiloweise Staub, der vor dem PuC hochwirbelte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Ben.

Ich tastete meinen Körper ab.

»Alles noch dran«, versicherte ich. »Das war knapp.«

»Das nächste Mal solltest du vielleicht vom Gebäude wegsteuern«, bemerkte Hawk und rieb sich den Nacken.

Ben warf ihm einen giftigen Blick zu.

»Guter Tipp. Werde ich mir merken, wenn ich das das nächste Mal in einem PuC ohne Steuerung und mit kaputtem Reifen auf ein Gebäude zurase.«

Verwundert deutete ich auf die Windschutzscheibe.

»Was ist das?«

Das Glas war mit neonfarbenen Linien überzogen, die stromlinienförmig den Rissen folgten. Wie kleine Äderchen breiteten sie sich aus …

Ohne zu antworten, öffneten Hawk und Ben zugleich die Türen und stiegen aus. Ich tat es ihnen nach.

Orientierungslos blickte ich mich um und musterte das Gebäude, vor dem wir uns befanden. Auf dem Schild über der Eingangstür war nur noch Got a! zu lesen. Das Y hatte sich wohl vor langer Zeit der Witterung ergeben. Die Anlage erweckte nicht den Eindruck, als sei sie noch in Betrieb.

»Got ya?«, sprach ich verwundert aus.

Hawk, der die Farbe auf der Windschutzscheibe ertastete, blickte mich an. »Aber klar doch. Gotcha!«

Er stieg über die Motorhaube des PuC in das Gebäude ein.

Ben und ich blickten einander fragend an. Ich zuckte mit den Schultern, dann folgte ich dem Programmierer. Wir hatten sowieso keine andere Wahl. Hawk hatte dafür gesorgt, dass wir auf ihn angewiesen waren.

Ein muffiger Geruch stieg mir in die Nase, als ich mich durch den Spalt drängte und den Eingangsbereich des Gebäudes betrat. Drinnen war es fast genauso kalt und düster wie draußen.

Hawk warf mir eine neonfarbene Kugel zu. Ich wog den Ball in der Hand. Er war leichter als erwartet. Mehrere dieser Kugeln lagen über den Boden verteilt. In Grün, Gelb, Blau und Pink leuchteten sie mir entgegen wie glühende Ostereier.

»Gotcha«, sagte Hawk erneut.

Verwirrt blickte ich mich um.

Zu meiner Rechten erstreckte sich etwas, das wohl einmal ein Empfangstresen gewesen war. Auf der Vorderseite prangte eine Preistafel:

Rookie (inkl. 150 Paintballs): 24,99 Euro

Standard (inkl. 200 Paintballs): 35,99 Euro

Professional (inkl. 250 Paintballs): 39,99 Euro

Langsam begriff ich, in was wir da hineingerast waren. Dies war eine alte Paintball-Arena. Ich kannte den Sport aus Erzählungen. Man schoss mit Farbkugeln aufeinander und hoffte, nicht als Erster getroffen zu werden. Zusammen mit Lasertag war diese Form der Freizeitaktivität bereits verboten worden, als ich ein kleines Kind gewesen war.

»Ich bin immer noch dafür, die Polizei zu rufen«, beharrte Ben. »Der Typ ist sicherlich gerade auf dem Weg hierher.«

In diesem Moment tauchte Hawk mit einem langen Gegenstand in der Hand hinter dem Tresen auf. Es war ein Markierer, den man früher auf dem Spielfeld als Waffe benutzt hatte. Hawk musterte den Markierer in seiner Hand, der aussah wie ein Gewehr.

»Da sind noch Kugeln drin«, stellte er fest und ignorierte Bens Aufforderung.

»Vielleicht können wir uns damit zur Wehr setzen.«

Er zielte zum Test auf eine Wand und drückte ab. Mit einem Zischen schoss eine grüne Kugel in einer steilen Kurve durch die Luft. Sie zerplatzte weit entfernt von der angepeilten Stelle. Ein grüner Farbfleck zierte die Wand.

»Sieht nicht sehr gefährlich aus«, bemerkte Ben.

»Besser als nichts. Zu dritt sind wir im Vorteil«, widersprach Hawk.

Ben trat neben mich. »Mav, ich lasse mich nicht von dem Kerl verarschen. Gehen wir.«

»Ich glaube nicht, dass das clever wäre«, sagte Hawk und feuerte eine weitere Kugel ab.

Erneut verfehlte er das anvisierte Ziel.

»Außerdem ist die Polizei bestimmt unterwegs. Jedes PuC sendet bei einem Schaden einen Notruf aus. Je nach Größe des Schadens wird automatisch ein Polizei- oder Rettungswagen geschickt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie hier auftauchen. Aber bis dahin müssen wir uns verteidigen und den Kerl abhängen.«

Bei den letzten Worten zog er zwei weitere Markierer hinter dem Tresen hervor und deutete damit auf uns.

Ich schaute in die Öffnung, die wir mit dem PuC in die Wand gerissen hatten und fragte mich, ob das Ortungssystem wirklich noch funktionierte, nachdem der Angreifer das Auto lahmgelegt hatte.

Für einen Moment war alles beunruhigend still. Draußen war es stockduster. Ich versuchte, die Kontaktlinsen zu aktivieren. Keine Chance. Ich konnte nicht einmal unsere Lage checken.

Nachdem wir vom Gelände der MedSol AG geflohen waren, hatten wir uns immer weiter in das Randgebiet der Stadt bewegt. Wir waren in irgendeinem Waldstück gestrandet und Hawk hatte dafür gesorgt, dass die Linsen vorerst nutzlos waren. Mein Blick wanderte in die Ferne.

»Da ist er.«

Panik!

Mein Herz raste und dann hatte ich das Gefühl, es würde vor Angst so schwer, dass es nach unten sackte. Am Rand der Straße war eine Gestalt aufgetaucht. Wie ein Schatten kam sie auf das Gelände zu. Für unseren Verfolger war es leicht zu erkennen, wo er uns finden konnte. Das PuC in der Hauswand war ein ausreichend großer Hinweis.

Hawk deutete auf den Tresen.

»Hinter dem Gebäude liegt der Parcours. Das ist der einzige Fluchtweg.«

In wenigen Schritten sprang ich zu ihm. Unter einer Staubschicht lag auf dem Tresen eine Übersicht des Parcours. Dieser war, laut Maßstab, circa dreißigtausend Quadratmeter groß. Demnach handelte es sich dabei um einen Teil des angrenzenden Waldes, den man umzäunt hatte. Büsche und Erdhügel waren auch eingezeichnet, die das Gelände zu einem Labyrinth werden ließen.

»Das ist unsere Chance. Das Auto ist wertlos und uns bleibt keine Zeit mehr«, erklärte Hawk, ging um den Tresen herum und drückte Ben und mir die Markierer in die Hand. »Wenn wir hierbleiben, sitzen wir in der Falle.«

Ich war an diesem Tag bereits zweimal den Schüssen einer Waffe entkommen. Ich bezweifelte, dass mir dies ein weiteres Mal gelingen würde. Manchmal waren aller guten Dinge eben nicht drei!

»Der Parcours bietet uns Schutz«, drängte Hawk.

»Aktivieren Sie unsere Linsen!«, forderte ich.

»Nur wenn ihr mitkommt.«

»Ich mag keine falschen Versprechen.«

Hawk zuckte mit den Schultern. »Das Risiko musst du eingehen.«

»Sie Verräter«, stimmte ich schließlich zu und griff nach dem Markierer.

Hawk warf uns zwei Schutzhelme mit Schutzbrillen zu und setzte sich selbst ebenfalls einen auf. Ich war mir nicht sicher, ob dies im Ernstfall wirklich helfen würde.

»Nimm die Weste«, sagte Ben und deutete auf eine große, unförmige Schutzweste.

Schnell nahm ich sie aus dem Regal hinter dem Tresen. An den Seiten und an den Brusttaschen hingen Paintballgranaten.

»Es gibt nur eine«, rief ich verzweifelt.

»Behalte sie.«

Ich schlüpfte schnell hinein und fühlte mich darin wie ein Windbeutel.

Ich starrte ein letztes Mal aus der Öffnung. Der Mann überquerte mittlerweile den Parkplatz. Eine Hand hatte er am Rücken.

»Er kommt! Los, in den Parcours!«, warnte ich die beiden und nahm den Markierer in Anschlag.

Ich setzte im Lauf den Schutzhelm auf. Dann liefen wir in die Wildnis des Parcours hinein.