Sierra und ich sitzen in meinem Zimmer, ich mit meinem iPad, sie mit meinem Laptop. Wir sind also zusammen und gleichzeitig auch nicht. Sierras Eltern haben ihr verboten, ins Internet zu gehen, doch da unsere Mums unten sicher stundenlang quatschen werden, brauchen wir keine Angst zu haben, dass sie uns erwischen.
»Ich hab jemanden«, sagt Sierra.
Ich blicke zu ihr hinüber. Offenbar langweilt sie sich, denn sie ist im Mysterychat.
asl lautet die Nachricht.
»Darf ich deinen Namen benutzen?«, fragt sie.
»Auf keinen Fall, Sierra!«
»Komm schon, mal sehen, was dabei herauskommt.« Sie tippt auf die Tasten. »Jedenfalls werd ich die Sache durchziehen. Könnte ja sein, dass es ein ganz süßer Typ ist.«
Ich lache. »Seit wann trifft man auf dieser Site denn süße Typen?«
»Also es ist ein Typ. Er sagt, er ist achtzehn … O mein Gott! Und er wohnt in Melbourne!« Sierra kreischt vor Begeisterung.
Ich richte mich auf meinem Bett auf und sehe zu, was sie macht. Sie hämmert wie wild auf die Tastatur ein.
Wir sind zwei Mädchen, beide 16. Wir wohnen auch in Melbourne! Nenn uns einfach S & T.
»Sierra! Wir sind nicht sechzehn!«
»Das weiß er doch nicht. Wir müssen es so machen, dass es legal ist«, erwidert sie.
»Ja, aber wenn er wirklich nett ist und sich irgendwas ergibt – was sowieso niemals passieren wird –, dann hast du bereits gelogen!«
»Ach, nun reg dich ab. Ein Jahr ist doch gar nichts. Außerdem ist es noch nicht einmal ein Jahr. Wir sind fast sechzehn.«
Hi, S & T. Ihr könnt J zu mir sagen. Schön, euch kennenzulernen.
»Zumindest hat er nicht verlangt, unsere Brüste zu sehen«, sagt Sierra. Wir kichern beide.
Sierra tippt weiter.
Wo in Melbourne?
Die Antwort kommt sofort.
Brighton.
»Oooh. Brighton. Dann muss er reich sein«, meint Sierra.
»Tja, vielleicht ist er aber auch ein dreißig Jahre alter schmieriger Typ.« Bei dem Gedanken schüttelt es mich und ich wende mich wieder meinem iPad zu.
»Was machst du gerade?«, fragt Sierra.
»Facebook checken. Unterhalte mich mit Riley. In den Ferien hat sie sich von Joel getrennt.«
Sierra verdreht die Augen. »Schon wieder? Sie sollte auf Taylor Wolfe hören. Kennst du ihren neuen Song schon?« Sierra steht auf und singt in einen Kugelschreiber, den sie sich wie ein Mikrofon an den Mund hält: »Never go back, I told you so, once it’s over, let it go.«
Sie klingt tatsächlich wie Taylor Wolfe, was ich ihr aber nicht sage, weil sie es ohnehin weiß. Sie hat den gleichen Pony wie Taylor Wolfe, trägt die gleiche Kleidung, redet wie sie und singt genauso gut wie sie. Und obwohl Sierra die sechswöchigen Sommerferien im Schneegebiet von Nordamerika verbracht hat, sind ihre langen schlanken Beine genauso braun gebrannt wie die von Taylor Wolfe.
»Die gleichen Shorts hat sie bei Ellen getragen«, sagt Sierra und macht eine Kehrtwendung, um mir ihren Hintern zu zeigen.
»Ja, ich weiß, und jaaa, du siehst genauso aus wie sie.« Ich verdrehe die Augen, aber ihr ist klar, dass ich nur genervt tue.
»Tja, und du hast ihren Namen. Ich wünschte, meine Mum hätte mich Taylor genannt. Stell dir das mal vor!«
»Ja, klar, weil Taylor Gray solch ein interessanter Name ist«, erwidere ich in sarkastischem Ton. »Sierra Carson-Mills … das klingt doch ziemlich elegant.«
Sierra ist ständig auf Komplimente aus, und obwohl ich das weiß, gehe ich aus irgendeinem Grund immer darauf ein. Manchmal beobachte ich mich selbst, um festzustellen, wie lange es dauert, bis die Komplimente aus mir heraussprudeln wie Öl aus einem Bohrloch.
Als ein leises Signal anzeigt, dass eine Nachricht eingegangen ist, setzt Sierra sich wieder an den Computer. Warum fliegen alle Typen immer auf Sierra?
»Ich dachte, du stehst auf Callum«, sage ich in möglichst gleichgültigem Ton. »Habt ihr zwei euch am Ende des letzten Schuljahrs nicht geküsst?«
»Nur ein bisschen rumgeknutscht. Hatte nichts zu bedeuten.«
Ich tue so, als sei ich in eine Facebook-Seite vertieft. Ich stehe schon seit ewigen Zeiten heimlich auf Callum. Als Riley mir damals erzählte, was sie gesehen hatte, ließ ich mir meine Enttäuschung nicht anmerken: Ich stand am anderen Ende des Zimmers … Es war ein ziemliches Gedränge, aber es sah jedenfalls so aus, als ob sie sich küssten. Das waren Rileys Worte. Ich war früh von der Party fortgegangen, weil ich Kopfschmerzen hatte. Jetzt wünschte ich, ich wäre geblieben. Den ganzen Sommer über hab ich mir Gedanken darüber gemacht: Haben sie oder haben sie nicht? Ich brannte förmlich darauf, dass Sierra zurückkam, damit ich sie fragen konnte, was passiert war. Ich hätte nie gedacht, dass sie es auf Callum abgesehen hat … und ich wusste nicht, dass er sie mag, weil er sie eigentlich nie beachtet. Vielleicht ist er ja einer dieser schüchternen Jungs, die sich, wenn das Mädchen, das sie mögen, in der Nähe ist, mit einer ihrer Freundinnen unterhalten … sozusagen als Ablenkungsmanöver …
»Ich wollte nicht, dass das Ganze zu weit geht«, fährt Sierra fort. »Ich muss schließlich Single bleiben … wegen Chumpy Pullin, des besten Snowboarders des Universums.«
»Meine Güte, bitte nicht schon wieder der«, stöhne ich, bin in Gedanken aber noch bei der Formulierung nur ein bisschen rumgeknutscht. Was heißt das? Ein Kuss? Zwei Küsse? Was für Küsse?
»Der ist ja sooo heiß«, seufzt Sierra. »Und er war da. Ich hab ihn von Weitem gesehen. Vor drei Jahren hab ich ihm mal einen Zungenkuss gegeben, weißt du.«
Ich lache laut. »Vor drei Jahren warst du zwölf. Da hast du Chumpy Pullin ganz sicher nicht geküsst. Hast du überhaupt schon mal mit ihm gesprochen?«
»Nein.« Sie lächelt. »Aber am Sessellift hab ich seine kleine Schwester gesehen. Glaub ich jedenfalls.« Sie dreht sich zurück zum Bildschirm.
Gehst du noch zur Schule?, schreibt Sierra.
Bin in der 12. Klasse. Meine Familie ist früher viel rumgereist, deshalb bin ich eigentlich ein bisschen zu alt für die Schule. Will Medizin studieren. Und du?
»Was willst du jetzt schreiben? An jemandem in der zehnten Klasse hat er sicher kein Interesse«, stichele ich.
11. Klasse. Will Jura studieren, antwortet sie.
»Du bist schrecklich. Weißt du, was passieren wird? Dieser J wird sich als supertoll rausstellen, und irgendwann wirst du an deinen Lügen ersticken.«
»Woher weißt du denn, dass ich nicht vorhabe, Jura zu studieren?«, entgegnet sie schnippisch.
»Weil man für Jura in jedem Fach supergut sein muss. Das ist nicht drin. Für uns beide nicht«, füge ich hinzu.
»Du meinst, für mich ist es nicht drin.«
Offenbar reicht es nicht, in einer intakten Familien zu leben, massenhaft Geld zu haben, eine Sportskanone zu sein, fabelhaft auszusehen und einen Dad mit einem Unternehmen im amerikanischen Schneegebiet zu haben.
J steht für Jacob, ist auf dem Bildschirm zu lesen.
T steht für Taylor, antwortet Sierra und postet die Nachricht, bevor ich sie daran hindern kann.
»Ich hab doch Nein gesagt. Und das meine ich ernst.« Sie geht ständig unter meinem Namen online. Ich hasse das.
»Sierra! Wir müssen los!«, ruft in dem Moment Sierras Mum Rachel. Mist. Nach dem, was beim letzten Mal passiert ist, rastet sie aus, wenn sie uns dabei erwischt, dass wir im Mysterychat sind. Ich springe vom Bett, stürze zur Tür und mache sie einen Spaltbreit auf. Rachel steht direkt davor.
Lächelnd mache ich die Tür ein Stück weiter auf und merke, wie mein Gesicht rot anläuft. »Wir kommen sofort.« Ich blockiere die Tür so lässig wie möglich, damit Sierra genügend Zeit hat, hinter mir aufzutauchen. Sie ist ebenfalls knallrot.
»Ich bin so weit«, teilt sie Rachel mit. »Wir sehen uns dann am Montag in der Schule«, sagt sie zu mir und zwinkert mir zu.
***
Ich helfe Mum bei den Vorbereitungen fürs Abendessen und decke den Tisch. Anschließend gehe ich wieder in mein Zimmer. Ich checke mein Handy. Ich habe eine E-Mail von Jacob Jones. Jacob Jones? Dann fällt mir alles wieder ein: J steht für Jacob.
Ungläubig starre ich auf den Namen. Wie konnte ihm Sierra bloß meine Adresse geben? Ich öffne die E-Mail.
Hi, Taylor,
war schön, dich heute Nachmittag kennenzulernen. Hab mich gerade gefragt, ob du vielleicht noch ein bisschen chatten möchtest.
Jacob
Ich antworte:
Jacob,
du meinst meine liebe Freundin Sierra, nicht mich. Ich bin Taylor. Ich bin 15, sehe überhaupt nicht wie Taylor Wolfe aus, will nicht Jura studieren und habe nicht die Absicht, dir ein Bild von meinen Brüsten zu schicken.
T
Ich lehne mich zurück, starre auf den Posteingangsordner und beruhige mich langsam wieder.
Da kommt eine weitere E-Mail.
Liebe Taylor,
ich kann verstehen, dass du nicht Jura studieren willst – was Langweiligeres kann man sich ja kaum vorstellen. Du bist also 15. Da ich nicht weiß, ob du das für gut oder schlecht hältst, bin ich mir nicht sicher, wie ich darauf reagieren soll. Mir ist klar, dass nicht alle Mädchen namens Taylor wie Taylor Wolfe aussehen, genauso wenig, wie alle Mädchen namens Kylie wie Kylie Minogue aussehen und so weiter. Und bitte, schick mir KEIN Bild von deinen Brüsten. Das wäre mir total peinlich.
Jacob
PS: Mir ist jetzt klar, dass deine Freundin Sierra heute Nachmittag online war. Auch wenn das nun ein unfreiwilliger Chat ist, kommst du mir sehr interessant vor.
PPS: Wenn du dich nicht für Jura interessiert, wofür dann?
PPPS: Ich sehe überhaupt nicht wie Jacob aus der Bis(s)-Serie aus. Und in einen Wolf kann ich mich auch nicht verwandeln.
Ich lese seine E-Mail mehrmals durch. Er muss mich für eine komplette Idiotin halten. Ich lese die E-Mail nochmals und bleibe mit dem Blick an dem sehr interessant hängen. Interessant. Mein Herzschlag beschleunigt sich, meine Mundwinkel wandern unwillkürlich nach oben.
Ich atme tief ein, halte für ein paar Sekunden die Luft an und stoße sie wieder aus.
Lieber Jacob,
bitte entschuldige meine peinliche erste E-Mail. Obwohl es dir vielleicht schwerfällt, meine Kommentare über Brüste und Taylor Wolfe zu verdauen, wollte ich dir nur sagen, dass ich weder beschränkt noch verrückt bin. Ich wusste einfach nicht, dass Sierra dir meine E-Mail-Adresse gegeben hatte, und war wütend. Ich bin nie im Mysterychat und würde meine Adresse nie jemandem verraten, den ich gerade erst kennengelernt habe. Könnte ja ein irrer Stalker sein.
TG
PS: Du kommst mir aber nicht wie ein irrer Stalker vor.
Ich tippe auf Senden.
»Taylor, das Abendessen ist fertig.«
Mums Stimme lässt mich zusammenschrecken. Ich werfe mein iPhone aufs Bett und renne, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.
Während des Essens unterhalten Mum und ich uns über Sierras Skitrip.
»Hat Sierra ihren Jetlag schon überwunden?«, fragt Mum.
»Sie hat geschlafen, bis sie heute Nachmittag hierhergekommen ist, war aber immer noch ziemlich zermatscht. Aber sie wird den Schlaf schon nachholen, bevor am Montag die Schule wieder anfängt. Während der Ferien hat sie alle sehr vermisst und kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen.« Ich mache eine Pause und lege meine Gabel hin. »Sierra möchte, dass ich nächstes Jahr zum Skifahren mitkomme.« Ich beobachte den Gesichtsausdruck meiner Mutter. »Meinst du, das wäre machbar?«
»Mal sehen«, antwortet Mum zögernd.
Zumindest hat sie nicht Nein gesagt. Dass ich allein etwas unternehme, ist nämlich ein Riesenproblem. Mum glaubt, dass man Sierra zu viele Freiheiten lässt und sie deshalb immer wieder in Schwierigkeiten gerät. Sie möchte nicht, dass ich mit Sierra allein bin. Außerdem – und allein deswegen habe ich schon ein schlechtes Gewissen – weiß ich, dass wir uns diese Reise eigentlich nicht leisten können.
»So ein Skiurlaub kann ziemlich teuer sein«, fährt Mum fort, »aber vielleicht könnten wir beide für zwei Wochen oder so mitfahren. Ich werde darüber nachdenken.«
»Echt?« Vor Aufregung wird meine Stimme ganz schrill. »Ich könnte mir ja einen Job suchen, um meinen Anteil zu bezahlen. Einige in der Schule arbeiten jetzt auch nebenbei. Ich bin fünfzehn, könnte also einen Job bekommen.«
»Nun mal langsam. Es gibt keinen Grund, warum du dir einen Job suchen solltest. Ich will nicht, dass du arbeiten gehst. Wir haben Geld. Das habe ich für deine Ausbildung beiseitegelegt.«
»Ich weiß, ich weiß. Und für die Zeit, wenn du in Rente bist …«
Mum lächelt. Als wir mit dem Essen fertig sind, räume ich das Geschirr in den Geschirrspüler.
»Wollen wir uns zusammen einen Film ansehen?«, fragt Mum.
»Nein … Ich geh wieder nach oben, um mit Riley zu chatten. Sie ist ein bisschen down, weil sie sich wieder mal von Joel getrennt hat.« Mum verdreht die Augen, genau wie vorhin Sierra.
Ich gehe in mein Zimmer. In Wirklichkeit will ich nachsehen, ob Jacob Jones mir geschrieben hat. Ich setze mich mit meinem Tablet hin und berühre den Bildschirm. Ich habe eine E-Mail.
Hey,
du warst auf einmal weg!
Du hast mir noch nicht gesagt, wofür du dich so interessierst …
J
J möchte wissen, wofür ich mich interessiere. Ich kichere vor mich hin.
Jacob Jones. Jacob Jones. Jacob und Taylor. Taylor Jones.
Ich nehme einen Kugelschreiber und probiere aus, wie es ist, mit Taylor Jones zu unterschreiben. Sieht schön aus.
Okay. Interessen. Mal nachdenken.
Hi, J
Ich bin gerne am Strand, englische Literatur ist mein Lieblingsfach.
Dann lösche ich den Teil über englische Literatur. Meine Güte.
… Fahrradfahren?
Wenn ich Fahrradfahren schreibe, denkt er vielleicht, dass ich superfit bin … Ich lösche auch diesen Teil und belasse es bei Ich bin gerne am Strand. Ich schicke die Mail ohne Unterschrift ab. Musik! Warum habe ich nichts von Musik gesagt? Oder von Musikfestivals? Verdammt noch mal. Das hätte ich wirklich tun sollen.
Er antwortet sofort.
Möchtest du vielleicht in den Skippertychat wechseln?
Er schickt mir den Link.
Ich komme mir vor wie eines dieser Mädchen in alten Filmen: Ich sitze als Mauerblümchen auf einem Ball und bin gerade zum Tanz aufgefordert worden. Ich klicke den Link an.
Hi, schreibe ich.
Ebenfalls hi :-) Ich bin auch gerne am Strand. Surfst du?
Nein, hab’s aber ein paarmal probiert. Macht viel Spaß.
Zu welchem Strand gehst du?, fragt er.
Ich mag Torquay. Komm aber nur selten hin.
Geht mir genauso.
Ich bin sprachlos. Ich schnappe mir mein Handy und schicke Riley eine SMS.
OMG
Was ist los?
Ich chatte gerade mit einem Typ, online.
Was? OMG!!! Wo kommt der denn plötzlich her? Wie sieht er aus?
Weiß ich nicht.
Frag ihn nach einem Foto.
Das kann ich doch nicht machen!
Frag ihn nach einem Foto!
Okay.
Übrigens bin ich wieder mit Joel zusammen. Hab grad mit ihm telefoniert. BSIIV … das heißt: Bin schwerstens in ihn verliebt.
OMG, du bist ein Freak! Jetzt frag ich nach einem Foto.
Ich wende mich wieder meinem Tablet zu.
Hast du einen Instagram-Account? Kann ich mir da ein Foto von dir ansehen?
Ich tippe auf Senden. O Gott. Ich bin nervös und verlegen. Ich kann doch nicht erwarten, dass er mir ein Foto schickt, ohne dass ich bereit bin, ihm eins von mir zu schicken. Ich sehe mir meine Fotos auf Instagram an. Auf dem, das mir am besten gefällt, sitze ich neben Sierra. Sie sticht mich natürlich aus, aber wenn sie nicht mit drauf wäre, würde ich okay aussehen. Meine Haut ist glatt, mein Haar nicht gekräuselt. Rasch entferne ich Sierra aus dem Bild und verstärke die Farben, damit ich nicht ganz so blass aussehe. Dann schicke ich Jacob den Link.
Zurück kommt kein Link, sondern ein Attachment. Ich öffne es. Jacob Jones. Er hat aschblonde Haare und glatte, sonnengebräunte Haut. Die Farbe seiner Augen ist schwer zu erkennen, weil er nicht in die Kamera blickt. Genau genommen lässt sich kaum sagen, wie er eigentlich aussieht, weil er den Kopf zur Seite gedreht hat. Im Profil sieht er jedoch ziemlich gut aus. Sein Oberkörper ist nackt, auf den Schultern sind Wassertropfen zu sehen. Er hat die tollsten Arme … und krasse Brustmuskeln. Im Hintergrund heben sich die bunten Bootsschuppen von Brighton Beach vom leuchtend blauen Himmel ab. Jacob ist absolut hinreißend.
Ich schnappe mir mein Handy.
Riley, bist du da? Heiß, heiß, heiß! Er ist einfach heiß!!!
Bevor Riley antworten kann, bekomme ich eine Nachricht von Jacob.
WOW! Du bist umwerfend!, schreibt er.
Mein Handy klingelt. Es ist Riley.
»Hi!« Obwohl Mum unten ist, versuche ich, so leise wie möglich zu sprechen. Trotzdem klingt meine Stimme total aufgeregt.
»Also was läuft da? Wo hast du diesen Typ kennengelernt?«
Ich erkläre, was Sierra gemacht und dass sie wieder meinen Namen benutzt hat. Und dass sie schon wieder meine E-Mail-Adresse weitergegeben hat.
»Die ist echt daneben …« Riley und Sierra können sich schon seit Langem nicht ausstehen. Wenn ich nicht wäre, hätte Riley Sierra inzwischen aus der Gruppe geschmissen.
Ich ignoriere Rileys Kommentar, weil ich viel zu aufgeregt bin. »Jedenfalls hat er mich angeschrieben, weil er dachte, ich sei sie, und irgendwie ist es dann so gekommen, dass ich jetzt mit ihm chatte.« Ich erzähle ihr alles, was wir bisher gesagt haben. Über die Sache mit dem Brüste-Foto lacht Riley sich kaputt.
»Wenn Sierra das hört, wird sie sich schwarz ärgern. Hast du’s ihr schon erzählt?«
»Noch nicht. Ich werde erst am Montag in der Schule wieder mit ihr reden. Sie soll ruhig denken, dass ich sauer auf sie bin, weil sie meine E-Mail-Adresse weitergegeben hat. Bin ich ja auch, obwohl … Gott, was rede ich denn da! Aus der Sache wird doch sowieso nichts … Aber es ist einfach schön, wenn ein Typ zu dir sagt, dass du interessant bist und …« Plötzlich komme ich mir lächerlich vor.
»Ist er noch online?«
»Glaub schon. Ich weiß einfach nicht, was ich antworten soll. Er hat gesagt, ich sei umwerfend.« Ich spüre, wie ich knallrot werde.
»Du bist umwerfend! Bedank dich einfach und sag, du findest ihn heiß.«
Ich drehe mich zum Bildschirm zurück. WOW! Du bist umwerfend!, steht dort.
Danke, tippe ich, lösche es aber wieder. Dann schreibe ich: Cooles Bild. Diese Häuschen gefallen mir. Ich poste es, was ich sofort bereue. »Diese Häuschen gefallen mir?« O mein Gott, wie lahm. Als ich Riley erzähle, was ich geschrieben habe, bricht sie in Gelächter aus.
»Weißt du was, Taylor? Genau deshalb bist du so toll. Oh, gerade ist deine E-Mail angekommen.« Ich habe Riley Jacobs Bild geschickt. Sie fängt an zu kichern. »Ja«, sagt sie, »sehr hübsche Häuschen.« Dann lacht sie laut. »Der sieht verdammt gut aus! Mann, ist ja wieder mal typisch.«
»Ich kann so was nicht gut«, erwidere ich.
»Kann man wohl sagen.« Sie lacht erneut. »Sorry«, fährt sie fort. »Ich muss mir immer wieder diese Häuschen ansehen.«
Wir quatschen noch eine Weile und verabschieden uns dann voneinander. Ich muss mich ganz auf Jacob konzentrieren, der gerade geschrieben hat: Erzähl mir mehr über dieses Bild. Wo warst du da und was hast du gerade gemacht?
Ich erzähle ihm die dazugehörige Geschichte, die unabsichtlich so ausfällt, als sei ich tatsächlich ziemlich cool. Eine Party mit Freunden … das Ganze hört sich so an, als könne man mit mir viel Spaß haben. Und er antwortet immer wieder. Wir erzählen uns gegenseitig Geschichten. Er hat einen kleinen Bruder, der ebenfalls surft. Er ist echt sauer, weil er ihm das Surfen beigebracht hat und sein Bruder jetzt besser ist als er. Sein Dad ist Arzt. Meine Mum ist Krankenschwester. Ich möchte gern Ski fahren, er mag Snowboarding. Meine Schule ist die Trueman Highschool, seine ist ganz in der Nähe: Windridge. Ich mag Reece Mastin. Er mag den Popsänger Guy Sebastian. Wir chatten so lange, dass ich eine Pause einlegen muss, um aufs Klo zu gehen. Erst nach fünf Stunden verabschieden wir uns, nachdem wir alles übereinander zu wissen scheinen, was es zu wissen gibt. Ich habe ihm sogar von Dad erzählt – dass er jahrelang krank war und vor acht Jahren gestorben ist. Darüber spreche ich selten mit jemandem, höchstens mit Mum und manchmal mit Sierra.
Als ich im Bett liege, schwirrt mir der Kopf. Ich will nichts von dem, was Jacob gesagt hat, vergessen.
Ich muss an meiner Figur arbeiten.
Gleich morgen fange ich mit einer Diät an … und mit einem Trainingsprogramm. Damit ich im Bikini gut aussehe.
***
Ich wache spät auf und rufe Riley an, um ihr was vorzuschwärmen.
»Ich möchte zu gern dabei sein, wenn du Sierra am Montag alles erzählst«, sagt sie.
Ich hatte ganz vergessen, dass ich auf Sierra sauer sein wollte. Am liebsten würde ich sie anrufen und ihr von Jacob erzählen. Sie würde sich mit mir freuen. Sie würde vor Begeisterung kreischen, das kann ich förmlich hören.
Nachdem ich aufgelegt habe, laufe ich in Turnschuhen und Shorts nach unten, um joggen zu gehen. Mum sitzt am Tisch, liest Zeitung und trinkt Kaffee.
»Was wird denn das?« Sie lächelt.
»Ich gehe joggen. Ich möchte abnehmen.«
»Wie viel?«
»Äh … weiß ich noch nicht. Ich will einfach im Bikini gut aussehen.«
Sie lacht.
»Das wollen wir alle. Solange du es nicht übertreibst, kann es dir nur guttun.«
Sie sagt nicht, dass ich es nicht nötig habe abzunehmen.
»Bin bald wieder da.«
Ich sprinte zur Haustür hinaus und renne die Straße entlang. Nach zwei Minuten brennen meine Lungen, und meine Schenkel fühlen sich wie Blei an. Aber ich halte durch.
Ja-cob Jones. Ja-cob Jones. Ja-cob Jones, singe ich die ganze Zeit wie ein Mantra vor mich hin.
Als ich zurückkehre, lass ich mich auf den Rasen vor unserem Haus plumpsen. Die Sonne knallt auf mein Gesicht, das rot wie eine Tomate ist. Ich setze mich auf und schirme die Augen ab. Dann rapple ich mich hoch und schleppe mich unter die Dusche. Morgen werde ich einen gewaltigen Muskelkater haben.
Als ich wieder in meinem Zimmer bin, checke ich mein Handy. Ich habe eine E-Mail.
Von Jacob.
Bin heute zu kaputt zum Surfen, dachte aber, dass dir das hier gefällt.
Ich öffne das Attachment.
Es ist ein Foto der bunten Bootsschuppen, die unter strahlend blauem Himmel auf dem sauberen weißen Sand stehen.
Wundervoll! Danke. T x
Ich werfe meinen Computer an, speichere das Foto und nehme es als Hintergrundbild. Ich möchte es jedes Mal sehen, wenn ich ihn anschalte.
Jacob Jones hat am Morgen zuallererst an mich gedacht.
Jacob Jones. Jacob und Taylor. Taylor Jones.
Wer war noch mal Callum?
Ich glaube, ich bin verliebt.