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»Erzähl. Mir. Alles.« Rileys grüne Augen funkeln vor Aufregung.

»Also wir haben zwar nicht wie beim ersten Mal stundenlang gechattet, standen aber übers Wochenende in E-Mail-Kontakt … nur waren wir leider nicht noch mal gleichzeitig online.«

Am ersten Schultag nach den Sommerferien geht es immer extrem laut zu. Die Mensa füllt sich nach und nach mit kreischenden Mädchen, die sich umarmen und küssen, als hätten sie fünfzig Jahre auf einer einsamen Insel verbracht, wo sie nur das auf einen Fußball gemalte Gesicht als Gesprächspartner hatten. Riley achtet nicht auf sie.

»Wann willst du denn vorschlagen, dass ihr euch persönlich kennenlernt?«

»Keine Ahnung. Er hat nichts davon gesagt, also hab ich es auch gelassen. Ich will ja nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich es nötig.« Ich kichere. »Er ist so nett, ich kann’s einfach nicht fassen. Ist doch eigentlich kaum zu glauben, dass ich so einen Typ im Mysterychat kennengelernt habe.« Ich weiß, dass ich mich mit meiner Schwärmerei lächerlich mache, aber das ist mir egal. Ich kann nur noch an Jacob denken.

»Willst du es Sierra heute Morgen erzählen? Wenn ja, dann bitte, bitte, bitte mach es, wenn ich dabei bei«, bettelt Riley. »Wo ist sie überhaupt?« Ich lasse den Blick durch die Mensa schweifen und winke Izzy zu, die ebenfalls Ausschau hält – wahrscheinlich sucht sie auch nach Sierra. Sierra und Izzy sind Freundinnen, obwohl Izzy meistens mit den Sportfreaks rumhängt. Sie ist ziemlich cool. »Sie kann noch nicht hier sein«, sage ich. »Wenn sie es wäre, würden wir sie hören.«

Joel kommt und setzt sich zu uns. Er und Riley sind dieses Jahr in verschiedenen Klassen, sodass es also nicht ganz so peinlich wird, wenn sie sich wieder mal trennen. Als Callum eintrifft und schnurstracks auf unsern Tisch zusteuert, ist unsere kleine Gruppe fast komplett. In den Ferien habe ich Callum nur ein paarmal gesehen. Es fühlt sich gut an, sich für jemand anders zu interessieren, neue Möglichkeiten zu haben.

»Hey, Leute«, sagt Callum lächelnd. »Taylor, du siehst großartig aus!«

Ich habe Callum immer süß gefunden. Seine Haare sind extrem glatt, sehen aber trotzdem irgendwie zerzaust aus. Ich mustere ihn von oben bis unten. Irgendetwas an ihm ist anders … die Art, wie er beim Gehen die Schultern strafft, den Kopf nach hinten wirft und mir unverwandt in die Augen schaut. Er strahlt ein Selbstvertrauen aus, das ich noch nie bei ihm bemerkt habe.

»Danke, danke, Callum.« Ich weiß, dass er das nicht ernst meint, werde aber trotzdem rot. Wir sind eng befreundet und gehen entspannt miteinander um. Vielleicht hat er deswegen nie mehr als einen Kumpel in mir gesehen.

Plötzlich begreife ich, warum er anders aussieht. »Callum! Die Zahnspangen sind weg! Wow! Deine Zähne sind perfekt! Lass mal sehen.« Ich fasse ihn bei den Wangen und er grinst breit. »Wow«, wiederhole ich. Ich merke, wie er sich freut. Er kann gar nicht mehr aufhören, übers ganze Gesicht zu strahlen.

»Joel, Riley, wie …«

»O Gott«, fällt Riley Callum ins Wort. »Sie ist da.«

Sierra kommt durch die Tür der Mensa und kreischt vor Begeisterung, als sie mich erblickt, obwohl wir uns erst vor ein paar Tagen gesehen haben. Ihre Eltern haben das Verbot immer noch nicht aufgehoben, sodass sie nach wie vor keinen Internetzugang hat. Ihre Eltern haben ihr Handy sogar so eingerichtet, dass sie noch nicht mal texten oder auch nur eine SMS erhalten kann. Sie darf es nur für Anrufe benutzen, wobei ihre Eltern die Nummern überprüfen. Deshalb flippt sie „leicht“ aus, wenn sie andere trifft.

Ich brenne darauf, ihr von Jacob zu erzählen, will es aber nicht unbedingt in Gegenwart von Callum tun – nicht dass es ihn interessieren würde. Aber ich habe ihr auch noch nicht erzählt, dass ich nächstes Jahr wahrscheinlich zum Skifahren mitkomme, und bin so aufgeregt, dass ich es ihr sofort sagen muss.

»Rate mal, was …«, setze ich an.

»Hör dir erst mal meine Neuigkeiten an! Du wirst es nicht glauben!«, unterbricht mich Sierra.

»Was wolltest du gerade sagen, Tay?«, fragt Callum mich, ohne auf Sierra zu achten.

»Halt die Klappe!«, fährt Sierra Callum an. »Ich muss es euch einfach erzählen.« Sie zieht einen Schlüssel aus der Tasche, der an einem langen roten Band befestigt ist. »Seht mal, was ich gefunden habe!«, singt sie und hopst dabei auf und ab. Sie grinst wie ein Honigkuchenpferd. Sie schwenkt den Schlüssel vor unseren Gesichtern hin und her. »Das ist der Schreibtischschlüssel meiner Schwester.« Sie senkt die Stimme. »Cassy ist noch mit Dad in Amerika. Also ratet mal, was ich am Wochenende gehabt habe.«

»Herpes?«, meint Riley. Die Jungs lachen.

»Syphilis?«, fügt Joel hinzu.

»Nein. Weder Herpes noch Syphilis.«

Wir alle starren sie erwartungsvoll an. Sie zieht die Sache in die Länge.

»Es fängt mit einem I an.« Sierra platzt fast vor Aufregung. »Na los, nun ratet, was ich gehabt habe. Ich geb euch noch einen Hinweis. Der zweite Buchstabe ist ein n

»Inkontinenz?«, vermutet Riley. Wir kichern alle.

»Nein«, quiekt Sierra. »Internetzugang! Ich habe Cassys Laptop benutzt und war online!« Sie stößt ein begeistertes Kreischen aus.

»Na, das ist ja toll«, sagte Callum und dreht sich zu mir. »Okay, Tay, und jetzt zu deinen Neuigkeiten.«

»Nein! Das sind ja gar nicht meine Neuigkeiten!«, fällt Sierra ihm erneut ins Wort. »Es geht darum, dass ich das ganze Wochenende online war und mit einem Typ gechattet habe. O mein Gott. Er ist einfach perfekt.«

Ich sehe Callum an, um festzustellen, ob er irgendwie eifersüchtig ist. Sein Gesicht verrät nichts, aber das liegt vielleicht daran, dass er sich gut beherrschen kann. Innerlich schäumt er wahrscheinlich.

»Und am Freitagabend treffen wir uns! Taylor, er ist es, du weißt schon: Seit wann trifft man auf dieser Site denn süße Typen … J steht für Jacob … Es ist Jacob!«

Ich erstarre zur Salzsäule.

»Sein Name ist Jacob Jones«, teilt sie den anderen mit. »O mein Gott«, wendet sie sich an mich. »Ich brauche deine Hilfe. Ich muss am Freitag bei dir übernachten …«

Ohne Punkt und Komma redet Sierra über ihren tollen Plan, während ein Dröhnen in meinen Ohren ihre Worte übertönt. Die Luft kommt mir so dünn vor, dass ich nach Atem ringe. Ich suche Blickkontakt mit Riley, schaue aber rasch wieder weg. Sie ist ebenfalls sprachlos.

»Taylor?« Sierra steht immer noch vor mir, mit funkelnden blauen Augen. »Erinnerst du dich denn nicht? Du weißt doch, dieser Typ im Mysterychat!« Ihre schrille Stimme tut mir in den Ohren weh.

»Ich hör mir das nicht länger an.« Riley schnappt sich ihren Rucksack und drängt sich an Sierra vorbei.

»Was denn?«, ruft Sierra ihr hinterher. Dann dreht sie sich zu uns zurück. »Was ist denn mit der los?«

»Ich werd mal nach ihr sehen.« Joel läuft Riley hinterher.

»Haben sie sich schon wieder in die Haare gekriegt?«, fragt Sierra.

Ich zucke die Achseln, weil ich kein Wort herausbekomme. Die Klingel ertönt. Wir müssen in die Aula.

»Na, was meinst du?« Ihr Lächeln verwandelt sich in ein Stirnrunzeln, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Bist du okay? Du siehst gar nicht gut aus.«

Ich schüttle den Kopf und nehme meinen Rucksack an mich.

»Mir ist schlecht«, sage ich und dränge mich gegen den Strom durch die Menge.

Sierra rennt mir hinterher. »Musst du kotzen? Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich jemanden holen?«

»Nein. Geh schon mal vor. Ich komm dann nach.«

»Bist du sicher? Soll ich nicht lieber mitkommen?«

»Nein, nein, du bekommst nur Ärger. Geh ruhig.«

»Na ja, wenn du meinst … Aber nachher treffen wir uns dann wieder, okay?« Sie macht kehrt und rennt in Richtung Aula.

Ich gehe zur Toilette, schließe mich in einer Kabine ein und lehne mich gegen die Tür. Heiße Tränen rinnen mir übers Gesicht. Ich fühle mich nicht verletzt, sondern gedemütigt – weil ich dachte, Jacob sei an mir interessiert, und weil ich Riley alles erzählt habe. Wie habe ich bloß auf den Gedanken kommen können, dass so ein Typ auf jemanden wie mich abfahren würde? Als ob ich je in dieser Liga gespielt hätte. Immer bekommt Sierra das, was ich will. Das macht mich völlig fertig. Schon als wir noch Kinder waren, hatte sie alles, was ich wollte: ein besseres Fahrrad, schönere Kleidung, coolere Musik, tolle Ferien, zwei Elternteile … Sie hat Callum geküsst und ihm den Laufpass gegeben, als sei er ein Nichts. Und jetzt hat sie Jacob Jones. Das geht zu weit! Manchmal hasse ich sie, dann hasse ich mich, weil ich sie hasse. Weil ich so blöde und eifersüchtig bin. Vielleicht hasse ich einfach nur mich selbst.

Jemand steht vor der Tür.

»Tay, bist du da drin?« Es ist Riley. »Mach auf.« Ich entriegle die Tür. »Soll ich reinkommen? Oder kommst du raus?«

»Ich komm nicht raus.«

Sie zwängt sich in die Kabine und wir lehnen uns einander gegenüber an die Trennwände.

»Ich dachte, weil er so lange online war … na ja, dass er an mir interessiert ist. Aber er war nicht meinetwegen online, sondern ihretwegen. Ich hoffe, dass ich ihm nie begegne.« Ich schlage die Hände vors Gesicht. »Was bin ich bloß für eine Idiotin. Das ist mir alles so peinlich. Du darfst ihr nie auch nur irgendetwas davon erzählen … Bestimmt findest du mich jetzt total peinlich.«

»Nein. Ich finde, Sierra ist eine blöde Kuh.«

»Es ist ja nicht ihre Schuld. Sie weiß doch noch nicht mal …«

»Also ich an deiner Stelle würde sie hassen.«

»Sie kann doch nichts dafür, dass sie so aussieht, während ich …« Ich verstumme. Das hört sich alles so jämmerlich an.

»An deinem Aussehen gibt’s überhaupt nichts auszusetzen. Du bist wunderschön.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab, und Riley umarmt mich.

»Na komm«, sage ich. »Lass uns von hier verschwinden.« Ich habe nicht die geringste Lust, mir Rileys aufmunternde Worte anzuhören.

***

In der Mittagspause sitzen wir unter einem Baum vor dem Schulgebäude. Sierra quasselt in einem fort. Sie erstattet mir haarklein Bericht über das, worüber sie und Jacob gesprochen haben. Riley hatte die Nase voll und hat sich mit Joel davongemacht. Callum spielt mit ein paar anderen Jungs Cricket. Ich hoffe, der Ball knallt ihm nicht auf seine schicken neuen Zähne.

»Also geplant ist, dass wir uns am Freitag nach der Schule treffen. Den Großen Tag haben wir das Ganze genannt.« Sie kichert. »Und stell dir mal vor, er war auch bei der letzten Winterolympiade dabei! Wir waren beide unter den Zuschauern und haben Chumpy Pullin zugesehen. Wie findest du das?«

»Erstaunlich«, erwidere ich.

»Und bei dem Konzert von Pink waren wir ebenfalls beide dabei. Wir haben die gleichen Fotos gemacht. Das ist fast schon so was wie Bestimmung, weißt du. Wie in diesen Filmen, wo sich ständig die Wege von zwei Seelenverwandten, die füreinander bestimmt sind, kreuzen, bis sie sich eines Tages schließlich begegnen und alles perfekt ist. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, solch einen Typ im Mysterychat kennenzulernen? Extrem gering, würde ich sagen. Also was nun Freitag angeht … kannst du da mitkommen? Mum hat erlaubt, dass ich bei dir übernachte. Wir könnten uns mit Jacob in der Mall treffen, und danach könntest du shoppen gehen, während wir ein bisschen rumhängen.«

»Äh …« Die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Ich schlucke, um den Kloß im Hals loszuwerden. »Ich warte dann zu Hause auf dich. Du kannst hinterher zu uns kommen.«

»Kannst du nicht mitkommen?«

»Nein. Ich hab Riley versprochen, ihr nach der Schule bei etwas zu helfen. Außerdem willst du doch wohl nicht, dass ich bei deinem Date dabei bin, oder?«

Sie macht einen Schmollmund. »Darf ich bis Montag bei euch bleiben? Mum hilft den ganzen Samstag und den ganzen Sonntag bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung im Krankenhaus mit und würde andernfalls dafür sorgen, dass mich zu Hause jemand beaufsichtigt. Ein Babysitter! Ist doch nicht zu glauben, dass ich immer noch rund um die Uhr überwacht werde! Die Überwachung würdest du dann übernehmen. Mum glaubt nämlich, dass nicht viel passieren kann, wenn ich mit dir zusammen bin.«

»Das sagt ja eine Menge über mich aus«, stöhne ich, bin aber froh, dass Sierra nicht mehr darauf besteht, dass ich am Großen Tag mitkomme.

»O nein, so habe ich das nicht gemeint.« Sie lacht.

»Wie hast du es denn eigentlich geschafft, so lange online zu bleiben, ohne erwischt zu werden?«

»Mum dachte, ich schlafe. Sie weiß nicht, dass ich Cassys Computer habe. Cassy würde mir den Hals umdrehen. Sie würde annehmen, dass ich bei ihr rumschnüffle.« Sierra verdreht die Augen. »Als ob mich ihr Kram interessieren würde. Allerdings war sie in Amerika diesmal gar nicht so fies zu mir. Wahrscheinlich weil sie diejenige war, die noch bis zum Ende der Saison bei Dad bleiben durfte, und ich nach Hause fliegen musste. Erinnerst du dich noch, dass Mum nie erlaubt hat, dass sie Unterricht versäumt, als sie im letzten Schuljahr war, aber ich immer noch bei Dad bleiben durfte? Damals hat sie immer einen Riesenaufstand gemacht und gesagt, ich sei Dads kleiner Liebling, blablabla. Tja, und jetzt, wo sie mit der Schule fertig ist, bin ich diejenige, die vorzeitig nach Hause muss. Ich glaube, jetzt hat sie endlich begriffen, dass ich nicht Dads kleiner Liebling bin.«

Während Sierra redet, beobachte ich, wie die Sonnenflecken über ihre gebräunte, makellose Haut tanzen. Sie ist eine perfekte Kombination von Genen. Ihre Schwester hat denselben Teint wie sie, ist aber kräftiger gebaut und hat gröbere Gesichtszüge. Wahrscheinlich ist das ein weiterer Grund dafür, dass Cassy Sierra so sehr hasst – weil sie vermutlich das Gefühl hat, ständig mit ihr verglichen zu werden. Ich meine, manchmal denke ich tatsächlich, dass Sierra sogar noch hübscher ist als Taylor Wolfe. Ihre Haare sehen immer genauso aus, wie sie sein sollen, und sind nie gekräuselt. Sie hat eine perfekte schmale Nase und dunkelblaue Augen. Sie passt hundertprozentig zu Jacob.

Ich merke, wie mir Tränen in die Augen treten, die ich schnell wegblinzle. Ich könnte mich ohrfeigen. Wie habe ich bloß so dumm sein können anzunehmen …

»Ich kann’s kaum erwarten!« Sierra ist wieder beim Thema Freitag. »Was soll ich denn anziehen? Vielleicht mein neues blaues Top?«

Ich zucke mit den Achseln und nicke. Als ob das eine Rolle spielen würde.

»Und was ist mit Callum?«, fragte ich in einem Ton, der ziemlich zickig klingt.

»Das sollte ich wohl eher dich fragen.«

»Wieso?«

»Bist du blind?«

»Was soll das heißen?« Ich runzle die Stirn.

»Er steht total auf dich. Erzähl mir bloß nicht, das hättest du nicht bemerkt.«

»Nein, tut er nicht. Er ist schüchtern. Auf dich fährt er ab, unterhält sich aber immer mit mir, weil das sichereres Terrain ist.«

Sie schüttelt den Kopf und verdreht die Augen.

»Also … falls du für Callum was übrighast … muss ich dir was gestehen.« Sierra schluckt und blickt zu Boden. Dann holt sie tief Luft, als nehme sie all ihren Mut zusammen.

O Gott. Gleich wird sie mir erzählen, dass sie mit ihm geschlafen hat. »Was denn?«

»Okay, das ist jetzt echt peinlich, aber ich muss es dir erzählen. Es ist nichts passiert. Ich habe mich wie die letzte Idiotin benommen.« Sie fährt sich mit den Händen durchs Haar und wird knallrot.

»Wovon redest du eigentlich?« Unwillkürlich ist meine Stimme schrill geworden.

»Ich hab dir doch neulich erzählt, dass ich mit Callum geknutscht habe … Das stimmt nicht. Ich habe versucht, ihn zu küssen, aber er wollte nicht. Das war so demütigend. Ich war völlig betrunken und dachte, er wolle mich küssen, aber das war ein Irrtum. Ein paar Leute auf der Party haben uns beobachtet und dachten, es sei tatsächlich was passiert – und ich habe sie in dem Glauben gelassen.« Sie schluckt wieder.

»Aber … aber warum hast du denn gelogen?«

»Weiß auch nicht … Vermutlich weil es mir peinlich war, in Gegenwart von anderen … so zurückgewiesen zu werden. Aber neulich ist mir klar geworden, dass du ihn offenbar sehr magst … deswegen habe ich dir jetzt die Wahrheit erzählt.«

Ich bin total durcheinander und weiß nicht, was ich denken oder wie ich reagieren soll. Hat sie neulich in meinem Zimmer gelogen? Oder lügt sie jetzt? Ich würde ihr gern erzählen, was ich für Callum empfinde, lasse es aber, um mir weitere Demütigungen zu ersparen. Ich kann einfach nicht glauben, was sie mir gerade mitgeteilt hat. Niemand sagt Nein zu Sierra; sie bekommt immer, was sie will. Callum würde mich ihr nicht vorziehen. Das würde niemand.

»Was ist eigentlich mit Riley los?«, fragt Sierra, um das Thema zu wechseln. »Sie wirft mir schon den ganzen Tag fiese Blicke zu. Wenn ich was sage, macht sie mich runter. Was habe ich ihr denn getan?« Sie legt eine Pause ein und reibt sich die Augen. »Kann ja sein, dass ich ein bisschen zu viel über Amerika rede. Ich bin manchmal ziemlich überdreht, stimmt’s?«

»Na ja, wir reden schließlich alle von dem, was wir in den Ferien gemacht haben. Im Vergleich zu deinen Ferienerlebnissen sind unsere allerdings langweilig.«

»Als sie damals in den Ferien auf den Fidschi-Inseln war, hat sie ja auch ständig davon geredet. Und von Joel erzählt sie ebenfalls in einer Tour. Wo ist denn da der Unterschied?«

»Vielleicht solltest du das mal mit ihr ausdiskutieren …«

»Haben wir die Sache mit Callum jetzt geklärt?« Sierra sieht mich unverwandt an, doch ich blicke rasch weg.

»Natürlich«, erwidere ich. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum du so darauf herumreitest.«

Sie nickt. Dann breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Also Freitag … hab ich dir schon gesagt, dass wir ihn den Großen Tag genannt haben?«

Schon hunderttausendmal, denke ich bei mir.

»Für alle Fälle will ich das Ganze locker angehen und nicht allzu lange ausdehnen«, fährt sie fort. »Es ist immer leicht, ein Treffen zu verlängern, während es ausgesprochen peinlich ist, es abzubrechen.«

O Gott, erlöse mich von meinen Qualen.

Der Tag zieht sich dahin, ohne dass ich es schaffe, von Sierra, Jacob Jones und dem Großen Tag loszukommen. Jede Geschichte, die Sierra erzählt, macht mir klar, dass ich rein gar nichts über Jacob Jones wusste. Und ihr Geständnis in puncto Callum spukt mir auch ständig im Kopf herum. Ich wünsche mir so, dass es wahr ist, doch es überzeugt mich einfach nicht. Sierra macht sich an Callum ran – und er sagt Nein? Unwahrscheinlich. Ich weiß nicht, ob sie sich die Sache ausgedacht hat, um nett zu mir zu sein, oder ob sie die Wahrheit gesagt hat, um nett zu sein. Alles an diesem Tag macht mich fertig.

Endlich ist die Schule aus, und ich bin froh, allein zu sein, als ich nach Hause laufe. Die Gedanken schwirren mir nur so im Kopf herum, und bei jedem Schritt, den ich mache, nimmt meine Wut zu. Als ob Callum Sierra zurückweisen würde … Und wenn Sierra glaubt, dass ich ihn sehr mag, warum hat sie dann überhaupt erst versucht, ihn zu küssen? Sierra, Sierra, Sierra! Ich habe Sierra so satt. Sie und ihren Großen Tag! Wenn ich daran denke, dass ich sie morgen in der Schule wiedersehen muss, könnte ich schreien.

Ich finde es furchtbar, dass ich solche Gedanken habe.

In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Ich versuche, an etwas anderes zu denken als an Sierra, Jacob Jones, den Großen Tag, Callum und den Kuss, zu dem es gekommen sein mag oder auch nicht.

Zu Hause angekommen, hoffe ich, an der Küche vorbeihuschen zu können, ohne mit Mum sprechen zu müssen.

»Hi.« Mum sitzt kerzengerade am Küchentisch und strahlt übers ganze Gesicht. Entweder ist sie übergeschnappt oder sie hat im Lotto gewonnen. Ihre Hände liegen auf einem Umschlag.

»Hallo«, sage ich kurz angebunden. Ich will nur in mein Zimmer und mich dort ausheulen. Langsam atmen, befehle ich mir. Ich stoße die Luft wie durch einen Strohhalm aus.

»Ich hab eine Überraschung für dich«, sagt Mum.

Ich stehe da und warte.

»Willst du dich nicht setzen?«, fragt sie.

»Muss ich das? Ist es eine unangenehme Überraschung?« Meine Stimme klingt leicht gereizt.

»Ist alles in Ordnung? War die Schule okay?« Sie runzelt leicht die Stirn. Jetzt sieht sie schon eher wieder wie Mum aus.

Ich nicke und merke, wie ich erröte. Keine Ahnung, von wem ich die Veranlagung, rot zu werden, habe – Mum hat sie jedenfalls nicht. Dad hatte sie auch nicht. Wahrscheinlich sind da irgendwelche Gene mutiert.

»Wenn du dir das hier ansiehst, fühlst du dich vielleicht ein bisschen besser.« Mum schiebt den Umschlag über den Tisch. Ich setze mich und öffne ihn. Eine Broschüre fällt heraus. Vail Mountain, Colorado. Unter der Broschüre liegt ein Blatt Papier, auf dem eine Reiseroute verzeichnet ist. Mit meinem und Mums Namen. Qantas Airways, Januar nächsten Jahres. Mir wird ganz flau im Magen.

»Was ist das?«

»Hab ich heute gebucht.« Mum lächelt so breit, dass ich ihren Goldzahn hinten im Mund sehen kann. »Ich hab Rachel angerufen, um rauszufinden, wo sie dort wohnen, und habe für uns zwei Türen weiter eine Unterkunft gebucht, damit du in Sierras Nähe bist.«

»Wieso warst du denn so … spontan?«, fahre ich sie an.

Ihr Lächeln verflüchtigt sich.

»Was heißt hier spontan? Ich habe ein Jahr im Voraus gebucht. Ich habe zwölf Monate, um es abzuzahlen.«

»Das können wir uns nicht leisten. Dann müsstest du Überstunden machen oder … oder Nachtschicht. Du bist sowieso schon mehr im Krankenhaus als zu Hause.« Was nicht stimmt. Ich rede Unsinn. Sie macht immer nur Frühschicht, aber mir fällt nichts anderes ein. Ich kann einzig und allein daran denken, dass ich zwei Wochen lang Sierra hinterherdackeln müsste – dass sie wie immer ganz toll aussehen und ich ständig im Schnee versinken würde. Vermutlich wird sie Jacob mitnehmen.

Ich breche in Tränen aus. »Da will ich nicht mit!«, schreie ich und renne nach oben.

Ich werfe mich aufs Bett, vergrabe das Gesicht unter meinem Kissen und weine so heftig, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Ich atme tief durch, allmählich beruhige ich mich wieder. Es klopft leise und Mum macht die Zimmertür einen Spaltbreit auf.

»Möchtest du darüber reden?«

Ich vergrabe mein Gesicht wieder unter dem Kissen und breche erneut in Schluchzen aus. »Nein«, sage ich.

»Ist heute in der Schule etwas passiert? Hast du dich mit Sierra gestritten?«

»Ich hab gesagt, ich möchte nicht darüber sprechen«, blaffe ich.

Kurz darauf verschwindet der ins Zimmer fallende Lichtschein, und ich höre, wie Mum die Treppe hinuntergeht. Jetzt fühle ich mich noch schlechter.

Es ist nicht so, dass ich Sierra je von der Liste meiner Freunde streichen könnte. Unsere Mütter sind dicke Freundinnen. Sie sind zusammen aufgewachsen, haben zusammen als Krankenschwestern gearbeitet und zur selben Zeit geheiratet, während unsere Väter schon lange vorher gute Kumpel waren. Damals beschlossen sie sogar, zur selben Zeit Kinder zu kriegen, doch Mum wurde einfach nicht schwanger. Es dauerte Jahre, bis sie mich bekam – durch künstliche Befruchtung, und als Mum mit mir schwanger wurde, erwartete Rachel bereits ihr zweites Kind, nämlich Sierra. Sierra und ich haben diese Geschichte schon tausendmal gehört. So, wie sich unsere Mums beim Erzählen der Geschichte gegenseitig ergänzen, könnte man annehmen, sie hätten zusammen Kinder gezeugt.

Rachel ist für mich immer wie eine zweite Mutter gewesen. Nachdem Dad gestorben war, war sie ständig bei uns – sogar mehr, als Mum recht war. Rachel opferte ihre ganze Zeit, um uns beizustehen. Ich kann mich noch erinnern, wie ich einmal in der Küche war und einen Streit zwischen ihr und Mum mitbekam.

»Ich brauche mehr Zeit für mich«, hatte Mum sie angefahren.

»Kein Problem«, sagte Rachel. »Ich nehme Taylor mit zu uns.«

»Nein. Ich will, dass sie hierbleibt«, entgegnete Mum.

»Ich glaube nicht, dass das gut wäre, wenn du mehr Zeit für dich brauchst«, gab Rachel aufgebracht zurück. »Sie braucht im Moment besonders viel Liebe und Zuwendung.«

Mum brach in Tränen aus. »Ich schaffe das nicht. Ich schaffe das nicht.«

»Es ist schwer, ich weiß.« Rachel umarmte sie. »Wir werden uns um sie kümmern. Wir stehen das schon durch.«

An jenem Tag ging ich mit zu Rachel und Sierra und blieb bei ihnen, während Mum versuchte, wieder zu sich zu kommen. Ich weiß noch, wie Rachel zu mir sagte: »Unser Zuhause ist auch dein Zuhause.« Und obwohl auch ich trauerte, gefiel mir das alles sehr gut, weil bei Rachel eine andere Atmosphäre herrschte und viel gelacht wurde. Wenn Sierra etwas Neues bekam, bekam ich es ebenfalls. Ich hatte in ihrem Haus ein eigenes Bett und Platz für meine Kleidung im Schrank. Ich wurde zu einem Teil ihrer Familie.

Als ich wieder zu Mum zog, sagte Rachel, dass ich jederzeit zu Besuch kommen könne, selbst wenn Sierra nicht da war. Als ich älter war, zeigte Rachel mir sogar, wo der Haustürschlüssel versteckt war. Ihre Liebe kannte keine Grenzen.

Riley schätzt Sierra falsch ein. Sie ist keine blöde Kuh. Sie bekommt nur nicht mit, was sie für ein Chaos anrichtet. Rachel ist wie eine zweite Mutter für mich, und ich liebe Sierra wie eine Schwester. Ich habe lange und hart daran gearbeitet, nicht auf sie neidisch zu sein. Ich denke, diese Sache mit Jacob und Callum gehört irgendwie einfach dazu.

Nachdem ich ewig lange geheult habe, ist meine Kehle ausgetrocknet und ich gehe nach unten, um etwas zu trinken. Auf dem Weg zur Küche schwöre ich mir, nicht mit dem Training aufzuhören. Es muss ja nicht unbedingt jemanden Bestimmmtes geben, für den ich gut aussehen möchte. Ich will für mich selbst fitter und gesünder sein und mich wohler fühlen.

Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer bleibe ich vor Mums Schlafzimmertür stehen, die immer offen ist. Sie schläft. Ich fühle mich schrecklich, weil ich ihr die Überraschung verdorben habe.

Nachdem ich mir meinen Schlafanzug angezogen und mir die Zähne geputzt habe, gehe ich wieder in ihr Zimmer und krieche zu ihr ins Bett. Das habe ich nach Dads Tod immer gemacht, wenn ich besonders traurig war und nicht allein schlafen wollte. In Mums Bett ist es warm und dort fühle ich mich geliebt und geborgen.