Als ich aufwache, ist Mum schon weg. Ihre Schicht beginnt um sieben, sodass sie gegen sechs Uhr dreißig aus dem Haus muss. Mein Bauch fühlt sich flach an, sieht aber nicht so aus. Ich ziehe mir Turnschuhe und eine Trainingshose an und gehe joggen. Meine Energie lässt zu wünschen übrig, meine Beine sind wie Blei. Wie glamourös! Da jedoch niemand in der Nähe ist, der mein verschwitztes Gesicht und mein lahmes Outfit sieht, halte ich durch und versuche, mehr Energie aufzubringen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Augen vom vorigen Abend noch geschwollen sind, hoffe aber, dass wenigstens die Rötung meines Gesichts verschwunden ist, als ich in der Schule ankomme.
Riley sitzt schon mit Callum und Joel in der Mensa.
»Hey, Taylor.« Als Riley meine verquollenen Augen bemerkt, mustert sie mich eingehend.
»Hi, Tay«, sagt Callum. Als er aufschaut, bleibt sein Blick an meinem Gesicht hängen. Er boxt Joel gegen den Arm, erhebt sich und winkt ihn hinter sich her.
»Was ist?«, fragt Joel.
»Komm mal kurz mit«, antwortet Callum.
»Wieso?«
Riley tritt Joel gegens Schienbein. Er sieht mich an, zuckt zusammen und springt auf. Joel hasst weinerliche Mädchen.
»Bist du okay?«, erkundigt sich Riley.
»Jetzt ja. Gestern Abend habe ich mich mit Mum gestritten. Ich fühl mich einfach beschissen, aber ich werd schon drüber wegkommen.«
»Möchtest du darüber reden?«
»Ich glaube, ich krieg meine Tage. Da werd ich immer weinerlich.«
»Tay, du weißt ganz genau, dass es nicht daran liegt. Warum erzählst du Sierra nicht alles? Damit sie sich mal beschissen fühlt!«
»Was würde das denn ändern? Jacob mag sie. Außerdem geht’s gar nicht darum.«
»Du findest immer Entschuldigungen für sie.«
»Nein, tu ich nicht. Sierra weiß noch nicht mal, dass Jacob und ich gechattet haben. Ich bin diejenige, die Geheimnisse hat.«
Riley starrt zum Fenster hinaus. »Du wirst ihr am Freitag doch nicht etwa helfen, oder?«
»Also darüber muss ich noch mit dir sprechen. Sie wollte, dass ich mitkomme, aber da habe ich gesagt, dass ich dir nach der Schule bei was helfen will.«
Riley sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Na ja, was sollte ich denn sonst sagen? Ihre Frage hat mich total überrumpelt. Bitte, Riley! Ich kann da auf keinen Fall mit.«
»Sag doch einfach klipp und klar Nein! Ich meine, natürlich kannst du zu mir kommen. Joel will auch vorbeikommen, aber wir haben nichts weiter vor. Du weißt doch, was passieren wird, oder?«
»Was denn?«
Riley sieht mich an, als wäre ich total beschränkt.
»Man wird sie erwischen. Sie hat doch jetzt schon gewaltigen Ärger, weil sie die Tittenfotos an diese Typen geschickt hat. Aber diesmal wirst du mit in der Tinte sitzen. Das regt mich am meisten auf. Solange sie sich nur amüsiert, ist es ihr völlig egal, wer außer ihr noch Ärger bekommt.«
»An einem Freitagabend für ein paar Stunden in die Stadt zu fahren ist ja wohl kaum ein Kapitalverbrechen«, erwidere ich. »Und ich muss ja noch nicht einmal für sie lügen. Ich werde Mum einfach erzählen, dass ich nach der Schule zu dir gehe. Wenn ich nach Hause komme, wird Sierra bei mir sein. Das wird schon klappen.«
»Das ist deine Sache, aber ich will nichts damit zu tun haben. Nach der Geschichte mit Matt – du erinnerst dich? – werde ich nie wieder für sie lügen.«
Ich lache. »Ja, sie war total verknallt. Dabei war er so ein Arschloch!«
Riley lacht, verstummt aber abrupt. Ich folge ihrem Blick und sehe, dass Sierra gerade durch die Mensatür kommt. Ein starker Luftzug weht ihre Haare nach hinten, sodass sie aussieht wie die Sängerin Delta Goodrem in einem ihrer Musikvideos. Sie lächelt, und ihre superweißen Zähne blitzen auf.
»Hi, ihr Süßen.«
Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil wir gerade über sie gesprochen haben, und werde knallrot. Sie sieht mich an, und ihr Lächeln verflüchtigt sich.
»Ist was passiert?«
»Gott, sehe ich wirklich so schlimm aus?«, frage ich lachend.
»Ja«, sagen sie beide im Chor.
In der Mittagspause betrachte ich mein Gesicht im Spiegel. Es ist zwar nicht mehr verquollen, aber meine Augen sind immer noch gerötet und wässrig. Meine Haut ist blass und teigig, wodurch mein schwarzes Haar noch schwärzer wirkt. Die Sommersprossen auf meiner Nase sehen aus wie ein Sonnenbrand. Die Tatsache, dass ich einen Bad Hair Day habe, ist auch nicht sehr hilfreich. Ich hätte mir die Haare morgens richtig fönen und mit dem Glätteisen rangehen müssen. Ich fahre mir mit nassen Händen über die Haare, damit sie nicht mehr ganz so gekräuselt sind. Lange wird das allerdings nicht vorhalten.
Ich ziehe mein Kleid nach unten. Ich hasse es, wie es immer über meine Brüste nach oben rutscht. Die Knöpfe sehen aus, als könnten sie jeden Moment abplatzen, aber ich weigere mich, eine Schuluniform zu tragen, die eine Nummer größer ist. Ich trete einen Schritt zurück, um mehr von mir zu sehen. Ich hebe den Arm und drehe mich anschließend zur Seite, weil ich feststellen will, ob das Kleid wirklich so knapp sitzt. Dann kommt jemand herein, und ich tue so, als sei ich im Begriff zu gehen.
Die anderen sind in der Mensa, die rappelvoll ist, weil alle vor der Hitze draußen geflohen sind. Ich vermeide es, meine Arme zu heben, um die Schweißflecken zu verbergen, die ich gerade auf der Toilette entdeckt habe.
Ich quetsche mich zwischen Callum und Riley. Wie Sardinen in der Dose hocken wir drei da.
»Also was hast du denn nun für den Großen Tag geplant?«, fragte ich mit gespielter Begeisterung. Ich weiß, dass Sierra die ganze Woche über nichts anderes reden wird. Um mit der Sache fertig zu werden, ist es am besten, die Sache direkt anzugehen. Wegen ihr und Callum habe ich mir den ganzen Sommer Gedanken gemacht, und ich habe nicht die Absicht, mir jetzt wegen ihr und Jacob einen Kopf zu machen. Das mit Jacob ist nicht so schlimm. Ich kenne ihn ja gar nicht. Jedenfalls rede ich mir das ein.
Sierra strahlt über das ganze Gesicht.
»Gestern Abend habe wir miteinander telefoniert!« Sie holt verzückt Luft. »Wir haben ja so viel gemeinsam …«
»Wenn du ihn heiratest, nennst du dich dann Sierra Carson-Mills-Jones? Oder nur Sierra Jones?« Ich kichere.
»Stellt euch mal vor«, wirft Callum ein, »er hätte auch einen Doppelnamen. Zum Beispiel Jones-Smith oder so. Dann würdest du Sierra Carson-Mills-Jones-Smith heißen! Und wenn eure Kinder jemanden mit Doppelnamen heiraten, dann würden sie Carson-Mills-…«
»Wir haben’s schon kapiert«, falle ich Callum ins Wort und stoße ihm freundschaftlich den Ellbogen in die Rippen. Mir ist aufgefallen, dass ihn Sierras Begeisterung wegen des Treffens mit Jacob überhaupt nicht zu kratzen scheint. Vielleicht hat er Sierra doch nicht geküsst …
Das Gequatsche geht weiter. Sierra liebt so was, Riley weniger. Als ich ihr verkniffenes Gesicht bemerke, muss ich lächeln.
»Wo wollt ihr euch eigentlich treffen?«, mischt Riley sich plötzlich ein.
»Wir dachten, vor Hummingbird Cupcakes, und dann gehen wir was trinken.«
»Wow! Hört sich ja wie ein ganz heißes Date an«, spottet Callum.
»Ich weiß«, erwidert Sierra. »Aber das hab ich so geplant, weil ich das erste Treffen nicht zu lange ausdehnen wollte – für den Fall, dass er sich als Widerling erweist, aber …« Sie legt eine Pause ein und holt tief Luft. »O Mann, ich glaube nicht, dass das ein Problem sein wird.«
»Okay, also dann folgendes Szenario.« Ich werfe Riley einen Blick zu, während Sierra aus dem Fenster schaut und einen der Jungs aus der elften Klasse betrachtet. »Ich gehe am Freitag nach der Schule mit zu Riley.«
»Echt?«, sagte Joel. »Ist ja cool. Dann können wir alle zusammen ein bisschen in den Pool gehen.«
»Danke, dass ihr mich auch eingeladen habt!«, meint Callum.
»Du kannst natürlich ebenfalls vorbeikommen, wenn du willst«, erwidert Riley. »Obwohl das keine Party oder so werden soll.«
Wenn man bedenkt, dass ich erst gestern wegen Jacob und Sierra ausgeflippt bin, ist es ziemlich albern, wie ich mich freue, weil Callum mit dabei sein will.
»Das ist schon in Ordnung. Warum solltet ihr denn an euren alten Kumpel Callum denken?«, sagt Callum. »Aber okay, ich komme«, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu.
Riley verdreht die Augen.
»Also dann zurück zu Sierra und ihrem heißen Date«, sage ich und tippe Sierra, die immer noch auf den Typ draußen starrt, auf die Schulter. »Gleich nach dem Treffen rufst du mich an. Dann verabreden wir uns irgendwo und gehen von dort zu mir nach Hause.«
Sierra nickt. »Hast du es deiner Mum schon gesagt?«
»Nein, werd ich auch nicht. Das ist mir lieber, als zu lügen. Außerdem würde sie Rachel anrufen, wenn sie wüsste, dass du kommst. Komm einfach nach deinem Date mit mir nach Hause, und ich werde behaupten, ich hätte vergessen zu erwähnen, dass du kommst.«
»Ich bin ja soo aufgeregt!«, sagt Sierra. »Ich glaube, bevor der Freitag da ist, platze ich noch vor Aufregung.«
»Das lass mal lieber. Wir wollen ja nicht deine Innereien aufsammeln«, erwidere ich.
Wir beide ignorieren die Kotzgeräusche, die Riley von sich gibt.
Der Tag scheint sich ewig hinzuziehen, bis endlich Schulschluss ist. Ich bin völlig fertig von dem ganzen Happy-Getue und schleppe mich nach Hause. Mum steht in der Küche und bereitet das Abendessen vor. Ich sage »Hi« und bin kurz davor, mich zu entschuldigen, komme aber zu dem Schluss, dass das nicht der richtige Zeitpunkt ist. Vielleicht, wenn wir beim Abendessen zusammensitzen. Mum begrüßt mich, als wäre gestern Abend nichts geschehen. Sie ist nicht nachtragend. Ich gehe in mein Zimmer, ziehe meine Schuluniform aus und fahre den Computer hoch.
Seit ich das mit Sierra und Jacob erfahren habe, habe ich meine E-Mails nicht gecheckt, doch jetzt gewinnt meine Neugier die Oberhand. Keine Nachricht von ihm. Mein Magen krampft sich zusammen, aber das hätte er wahrscheinlich so oder so getan. Rasch wechsle ich das Hintergrundfoto mit den Bootsschuppen aus. Das will ich nie wieder sehen.
Ich gehe nach unten und helfe Mum beim Kochen.
»Wie war dein Tag?«
»Ganz okay.« Ich erzähle ihr, welche Lehrer ich in den einzelnen Fächern habe. »Wie war es auf der Arbeit?«
»Gab viel zu tun«, sagt sie. »Ich hab den größten Teil des Tages in der Notaufnahme gesessen, und die Patienten haben sich praktisch die Klinke in die Hand gegeben.«
Ich liebe Mums Krankenhausgeschichten, doch statt sie weitererzählen zu lassen, rücke ich endlich mit meiner Entschuldigung heraus. »Das gestern Abend tut mir leid.«
Mum nickt lächelnd, erwidert aber nichts. Sie merkt, dass ich noch mehr sagen will.
»Und danke, dass du die Reise gebucht hast. Wenn’s erst mal so weit ist, werde ich den Tag der Abreise sicher kaum erwarten können.« Ich starre zu Boden.
»Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?« Sie drängt mich in solchen Situationen nie. Nach Dads Tod waren wir mehrmals zusammen beim Psychotherapeuten und haben unter anderem gelernt, dass es nichts bringt, einen anderen zum Reden zu zwingen. Der Betreffende muss die Möglichkeit haben, sich über seine Gefühle klar zu werden, ohne dass man ihn zwingt, darüber zu sprechen. Mum ist darin wesentlich besser als ich. Ich reagiere immer noch aggressiv, während sie ruhig bleibt, selbst wenn sie einen schlechten Tag gehabt hat.
»Nein. Eigentlich nicht. Ich meine, Sierra hat im Grunde nichts gemacht …« Dabei belasse ich es. »Am Freitag gehe ich nach der Schule vielleicht mit zu Riley.« Obwohl das keine Lüge ist, kommt es mir wie eine vor.
»Wie geht’s Riley denn?«
»Bestens. Sie ist wieder mit Joel zusammen.«
»Na, Gott sei Dank.« Sie lacht und legt sich die Hand aufs Herz. »Ich habe gebetet, dass sie sich wieder zusammenraufen.«
Ich kichere über ihr theatralisches Gehabe.
»Und was ist mit Callum? Wie geht’s dem?«
»Er hat jetzt perfekte Zähne.« Ich werde rot. »Die solltest du mal sehen. Kannst du übrigens – ich habe nämlich ein Foto gemacht.« Ich hole mein Handy aus der Tasche und zeige ihr die Aufnahme.
»Sieht toll aus. Seine Eltern müssen total begeistert sein.«
»Keine Ahnung. Er ist es jedenfalls. Er hört gar nicht mehr auf zu lächeln.«
»Und was ist mit Sierra? Hat sie sich nach ihrer großen Reise schon wieder akklimatisiert?«
»Ja. Allerdings ist sie immer noch sauer, weil sie nicht ins Internet darf und so.«
»Tja, das kannst du Rachel und Dave nicht zum Vorwurf machen.«
»Vermutlich nicht.«
»Wie lange willst du am Freitag denn bei Riley bleiben? Wenn es schon nach sechs ist, komme ich dich abholen.«
»Mum, da ist es mindestens noch zwei Stunden hell.«
»Ich weiß, aber da die Hauptverkehrszeit dann vorbei ist, brauche ich nicht lange, um zu Riley zu gelangen.«
»Wenn es später als sechs wird, rufe ich dich an.« Das scheint sie zufriedenzustellen. Ich rechne schnell alles durch. Um sechs müsste Sierra zurück sein … nein, wahrscheinlich eher gegen sieben. »Wir haben überlegt, ob wir uns vielleicht eine Pizza bestellen«, füge ich hinzu, doch jetzt, da Mum festgelegt hat, dass sie mich abholt, ist sie ganz gelassen. Ich brauche meine Geschichte nicht weiter auszuschmücken.
Während des Abendessens plaudern wir noch ein bisschen über dies und das. Ich muss ständig an Sierra und Jacob und ihr Date denken. Mir graut vor den kommenden drei Tagen, an denen ich mir alles Mögliche über den Großen Tag werde anhören müssen.