Am nächsten Morgen werde ich früh wach, stehe auf und gehe joggen, was mir diesmal viel leichter fällt. Ich fühle mich beschwingt und bin total aufgekratzt. Der Himmel ist so blau, die Sonne so hell. Ich renne an Callums Straße vorbei und überlege, was er wohl gerade macht. Jetzt, da ich ihn ein paar Stunden lang nicht gesehen habe, ist mir die ganze Sache ein bisschen peinlich. Wir sind schon seit Ewigkeiten Freunde. Ich möchte nicht, dass sich daran etwas ändert. Bei der Erinnerung an gestern Abend steigt ein aufgeregtes leises Kichern in mir auf. Ich sehne mich so nach ihm, dass ich ihn jetzt gleich sehen möchte. Wahrscheinlich liegt er noch im Bett. Wie gerne würde ich seine vom Schlaf warme Haut berühren und ihn wieder küssen.
Um zehn setze ich mich an den Schreibtisch, um Hausaufgaben zu machen. Meine Gedanken schweifen ab. Ich checke mein Handy. Keine Nachricht von Sierra. Ich hätte nie gedacht, dass sie mich so lange hängen lässt. Vorübergehend mache ich mir wie Callum Sorgen, doch das gibt sich schnell. Sicher weiß sie, dass ich wütend auf sie bin, und will erst mal abwarten, bis ich mich beruhigt habe, bevor sie anruft. Dann wird sie eine höchst komplizierte Erklärung parat haben, warum sie nicht gekommen ist und warum sie nicht anrufen konnte. Jedenfalls wird es nicht ihre Schuld sein. Sie ist nie an irgendetwas schuld.
Trotzdem versuche ich zum x-ten Mal, sie über ihr Handy zu erreichen, das sofort auf Voicemail schaltet.
Dann probiere ich es bei Riley, die gleich rangeht.
»Hi.«
»Hey.«
»Irgendwelche Neuigkeiten?«
Gibt es, doch ich beschließe, ihr die Sache mit Callum vorerst zu verschweigen. Ich muss erst mal sehen, was passiert, wenn wir uns wieder treffen. Plötzlich bin ich wieder total nervös und unsicher. Was, wenn Callum das Ganze bereut? Was, wenn er gestern tatsächlich wegen Sierra vorbeigekommen ist, sich dann aber aus irgendeinem Grund mit mir abgegeben hat?
»Nein. Und bei dir?«
»Nein. Aber mich würde sie ja ohnehin nicht anrufen.«
»Callum macht sich irgendwie Sorgen …«
»Na ja, er ist ja auch scharf auf sie, da würde er natürlich nie annehmen, dass seine tolle Sierra sich mit einem Typ davonmacht und obendrein auch noch ihre Freunde in die Scheiße reitet.«
Ihr Kommentar versetzt mir einen Stich. Selbst Riley hat bemerkt, dass Callum Sierra mag. Ich hätte es nie zu diesem Kuss kommen lassen dürfen. Ich bin ja so blöd. Natürlich hat er nur deswegen mit mir rumgemacht, weil ich da war, Sierra aber nicht. Es haut mich völlig um, wie sehr ich mit ihm zusammen sein möchte, wie sehr ich möchte, dass er auch mit mir zusammen sein will.
»Hmm«, erwidere ich. »Ehrlich gesagt bin ich inzwischen auch ein bisschen beunruhigt …«
»Das liegt nur daran, dass sie dich ebenfalls um den kleinen Finger wickeln kann. Du verteidigst sie ständig und glaubst immer, was sie sagt, Gott weiß, warum. Sie hat dich schon so oft in Schwierigkeiten gebracht, dass es nicht mehr lustig ist, und du lässt ihr das immer durchgehen. Damit musst du wirklich aufhören, Tay …«
Nach einer Weile legen wir auf. Ich bin total erledigt. Ich gehe zum Bett, krieche unter die Decke und starre zum Fenster raus, um die dunklen Wolken zu beobachten, die am Himmel aufgezogen sind. Wahrscheinlich wird es bald regnen. Ich ziehe mein Kopfkissen nach unten und schlinge die Arme darum.
Mein Handy klingelt. Ich springe aus dem Bett, renne zum Schreibtisch und schnappe es mir. Es ist Callum. Plötzlich habe ich Schmetterlinge im Bauch. Bevor ich rangehe, zögere ich einen Moment.
»Hallo?«
»Na, Tay, wie geht’s?«, fragte er in einem Ton, der so anspielungsreich ist, dass ich Herzklopfen bekomme. Callum mag mich.
Ich stammle und stottere herum, bevor ich mich wieder im Griff habe. Wir lachen beide.
»Sorry, aber plötzlich bin ich dir gegenüber irgendwie befangen.« Mein Gesicht glüht. Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe. Ich höre mich ja an wie eine Zehnjährige.
»Kann ich vorbeikommen?«
»Ja.« Ich versuche, sexy zu klingen, doch mein Ja hört sich so an, als sei ich heiser. Ich spüre, wie ich wieder knallrot werde. Bin ich froh, dass er mich nicht sehen kann!
»Gib mir zehn Minuten.«
Ich springe aus dem Bett, stecke mein Haar hoch und dusche mich in Rekordzeit. Dann versuche ich, etwas Heißes zum Anziehen zu finden. Nachdem ich ein paar Sachen anprobiert habe, entscheide ich mich für einen kurzen Jeansrock und ein langärmliges T-Shirt. Da meine Brüste so peinlich prall aussehen, ziehe ich noch ein weißes Hemd drüber, das ich aber nicht zuknöpfe. Ich binde mein Haar auf, aber es ist so durcheinander, dass ich es in fünf Minuten nicht schaffen würde, Ordnung reinzubringen. Deshalb stecke ich es wieder hoch. Gerade als ich auf ein paar Pickel am Kinn Abdeckcreme aufgetragen habe, ruft Mum von unten: »Taylor! Callum ist da.«
Nachdem ich mich rasch im großen Spiegel betrachtet habe, hole ich tief Luft und gehe nach unten. Callum sitzt am Küchentresen und trinkt Ananassaft. Mum unterhält sich mit ihm über das gestrige Fußballspiel. Als ihr Gespräch verebbt, geht sie – nicht ohne demonstrativ zu grinsen und die Augenbrauen hochzuziehen. Meine verdammte Veranlagung zum Erröten schlägt wieder voll zu.
Ich schnappe mir ein Glas, schenke mir Saft ein und setze mich neben ihn. Er legt mir den Arm um die Taille, zieht mich an sich und küsst mich lange und leidenschaftlich. Ich kann einfach nicht glauben, wie draufgängerisch er ist, doch diese Selbstsicherheit gefällt mir. Nachdem wir uns geküsst haben, bleiben wir aneinandergeschmiegt sitzen.
»Hast du was von Sierra gehört?«, fragt er.
Enttäuscht lasse ich die Schultern sinken. Rileys Worte schießen mir durch den Kopf, und meine Wut auf Sierra lodert wieder auf.
Ich schüttle den Kopf.
»Du wirst etwas sagen müssen. Das dauert jetzt schon viel zu lange.«
»Aber so etwas hat sie schon einmal gemacht. Das hab ich dir doch erzählt … damals mit Matt …«
»Da ist sie eine Nacht weggeblieben. Riley sollte aufhören, ständig darauf herumzureiten.«
»Immerhin hätte Riley deswegen gewaltigen Ärger bekommen können.«
»Hat sie aber nicht. Riley ist bloß neidisch auf sie, deshalb hat sie ständig etwas an ihr auszusetzen. Dauernd macht sie Sierra schlecht. Das war schon immer so.«
»Was, wenn ich ihre Mum anrufe, ihr die Wahrheit sage und Sierra dann aufkreuzt? Dann handeln wir uns alle für nichts und wieder nichts Ärger ein.«
Er schüttelt den Kopf. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Wieso bist du denn da so sicher?«
»Das alles passt überhaupt nicht zusammen. Selbst dass sie über Nacht weggeblieben ist, ergibt keinen Sinn. Findest du nicht auch, dass das ein bisschen plötzlich kam?«
»Du scheinst ja ausführlich darüber nachgedacht zu haben.« Ich könnte mir auf die Zunge beißen.
»Ja, natürlich. Weil ich glaube, dass da was nicht stimmt.«
»Und was, wenn alles in Ordnung ist? Wenn …«
Er fällt mir ins Wort. »Was, wenn sie entführt worden ist und du durch dein Schweigen irgendeinem Psychopathen zwei Tage Vorsprung verschaffst?«
»Weißt du was? Wir zwei hätten nie was miteinander anfangen sollen. Offenbar bist du immer noch scharf auf Sierra.« Ich kann nicht glauben, was ich da gerade gesagt habe, doch jetzt muss ich dabei bleiben.
»Was? Wovon redest du denn da? Ich habe Sierra nie gemocht … jedenfalls nicht in dem Sinne.«
»Umso schlimmer. Warum hast du sie dann geküsst? Sei doch mal ehrlich. Wenn Sierra sich nicht mit Jacob eingelassen hätte, wärst du immer noch hinter ihr her.«
»Ich habe Sierra nicht geküsst.«
O Gott. Ich weiß nicht, ob er lügt oder nicht, kann aber keinen Rückzieher machen.
»Taylor«, fährt er fort, »wenn du diese albernen Gerüchte glaubst, dann hast du recht. Dann hätten wir wirklich nie was miteinander anfangen sollen.« Er sieht mich an, doch ich starre ihn so lange an, bis er wegschaut, verschränke die Arme vor der Brust und hoffe, dass er nicht merkt, wie verletzt ich bin. Er schüttelt den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so bist.«
Er wendet sich ab und geht, ohne sich zu verabschieden.
Ich hätte nicht gedacht, dass du so bist … Was heißt das? Neidisch und zickig, wie Riley es manchmal ist? Genau so fühle ich mich. Ich drehe mich um und pralle fast gegen Mum.
Ich schrecke zusammen. Wie viel hat sie gehört?
»Wo ist Callum denn abgeblieben?«
»Er musste los. Ich sehe ihn dann ja morgen.«
Auf dem Weg zu meinem Zimmer gehen mir finstere Gedanken durch den Kopf. Er hat recht. Ich bin neidisch auf Sierra. Ich würde alles dafür geben, wie sie auszusehen, wie sie zu sein, wie sie zu singen, wie sie Reisen machen zu können. Ich wollte, dass Jacob mich mag. Ich wollte diejenige sein, die sich mit ihm in der Stadt trifft. Ich habe Callum vorgeworfen, von Sierra besessen zu sein, stattdessen bin ich von ihr besessen. Es gefällt mir ganz und gar nicht, wo meine Gedanken hinführen.
Das Telefon klingelt. Automatisch gehe ich ran.
»Hallo?«
»Hi, Taylor, wie geht’s denn so? Hier ist Rachel.« Sie hat mich kalt erwischt.
»Oh, gut, danke.«
»Ich muss gleich los. Ich wollte nur kurz mit Sierra sprechen, bevor ich aufbreche.«
»Sierra? Die ist nicht hier«, erwidere ich.
»Wie bitte? Was soll das heißen? Verbringt sie das Wochenende denn nicht bei euch?«
»Nein. Das letzte Mal habe ich sie am Freitag in der Schule gesehen.«
»Hat sie gesagt, wo sie hinwollte?«
»Wir sind alle zu Riley gegangen, aber sie ist nicht mitgekommen«, antworte ich.
»Hast du gesehen, ob sie die Schule mit jemandem verlassen hat?«
»Nein. Ich bin zusammen mit Riley, Joel und Callum los.«
»Sie muss doch gesagt haben, was sie vorhatte.«
»Hat sie aber nicht. Ich dachte, sie wolle nach Hause.«
»Verdammt noch mal«, sagt sie. »Danke, Taylor.« Ihre Stimme klingt leicht zittrig. »Na, die kann was erleben!«
Nachdem ich aufgelegt habe, senkt sich eine düstere Wolke auf mich herab. Dass ich Rachel angelogen habe, bringt mir zu Bewusstsein, in was für großen Schwierigkeiten ich stecke. Ich habe Sierra am Freitagabend nicht begleitet. Ich habe Rachel nicht benachrichtigt, als Sierra nicht zurückgekommen ist. Ich habe Rachel nicht gesagt, dass sie immer noch nicht da ist. Aber was mich am meisten beunruhigt: Was, wenn Sierra wirklich etwas zugestoßen ist?
Callum hat recht. Wenn Sierra könnte, würde sie inzwischen wieder da sein. So lange würde sie nicht wegbleiben. Sicher, damals mit Matt hat sie sich die ganze Nacht spendiert, aber am nächsten Tag war sie wieder da. Das jetzt dauert zu lange. Sierra müsste längst wieder da sein.