8

Mums Gesicht ist aschfahl, als sie das Telefonat beendet. Ihre Augen sind blutunterlaufen, und sie lässt langsam die Schultern kreisen, als sei sie völlig verspannt.

»Gibt’s was Neues?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. Keine Neuigkeiten sind schlechte Neuigkeiten, das wissen wir beide.

»Ich fahre gleich zu Rachel. Sie wäre sonst allein, bis Dave und Cassy aus den Staaten zurückkehren. Die zwei landen heute gegen Mittag.«

Ich nicke. »Ich komme mit.« Ich möchte dabei sein, wenn es Neuigkeiten gibt.

Mum schüttelt den Kopf. »Rachel hat mich gebeten, dich nicht mitzubringen.«

Das trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht.

»Sie ist sehr … wütend. Auf alle.«

Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und starre ins Nichts. Die Vorstellung, allein hier sitzen zu müssen, ist unerträglich. »Würdest du mich anrufen, wenn es was Neues gibt?« Mir versagt die Stimme.

Mum nickt. »Geh nicht aus dem Haus«, instruiert sie mich. »Ich komme bald zurück, um nach dir zu sehen.« Dann macht sie die Haustür hinter sich zu.

Seltsam. Es ist Montag, und eigentlich müsste ich in der Schule sein, aber da wollte ich nicht hin. Um zehn klingelt unser Telefon. Einen Moment lang starre ich es voller Angst an. Dann nehme ich den Hörer ab, so vorsichtig, als wäre er eine Bombe, die jeden Moment hochgehen kann. Ich presse den Hörer ans Ohr, schließe die Augen und warte.

»Hallo?«

Als ich Callums Stimme höre, reiße ich die Augen auf. »Ich dachte, du bist Mum«, sage ich.

»Ich wusste nicht, ob du in der Schule bist. Mum wollte nicht, dass ich heute hingehe.«

»Kannst du rüberkommen? Ich sitze am Telefon. Mum ist bei Rachel.«

»Ich frag mal.« Im Hintergrund höre ich gedämpfte Stimmen. »Mum fährt mich zu euch. Sie will nicht, dass ich allein unterwegs bin.«

Nachdem wir aufgelegt haben, meine ich, ewig zu warten, bis es endlich klopft. Ich renne zur Haustür und reiße sie auf. Neben Callum stehen noch zwei andere Leute. Jemand streckt mir ein Mikrofon entgegen. Kameras blitzen auf.

»Machst du dir Sorgen um Sierra?«

»Taylor, stimmt es, dass du zwei Tage gewartet hast, bevor du die Polizei über Sierras Verschwinden informiert hast?«

Mir klappt der Unterkiefer runter. Reporter vor unserem Haus? Woher wissen sie denn, dass Sierra vermisst wird? Woher kennen sie meinen Namen? Woher wissen sie, wo ich wohne?

Callum tritt einen Schritt vor, um mich vor ihnen abzuschirmen. Dann macht er ihnen die Tür vor der Nase zu.

Ich bin wie gelähmt und kann mich nicht rühren, als das Telefon klingelt. Callum stürzt zum Apparat.

»Hallo, hier ist Callum … Ja. Einen Moment, Josie. Ich geb sie dir.« Er hält mir den Hörer hin. »Deine Mum.«

Ich nehme den Hörer.

»Die Medien sind hier, Taylor«, sagt Mum.

»Hier auch.« Ich breche in Tränen aus.

»Hör zu, Taylor«, fährt Mum fort. »Ich habe mit Oberinspektor Parkinson gesprochen. Er sagt, die Polizei habe noch keine Pressemitteilung rausgegeben. Diese Leute müssen auf eine offizielle Verlautbarung warten, bevor sie etwas veröffentlichen dürfen, aber anscheinend sickern vorher oft Informationen durch. Die Polizei wird dafür sorgen, dass nichts an die Öffentlichkeit kommt.«

»Mum, sie haben mich gerade gefragt, warum ich zwei Tage gebraucht habe, um die Polizei zu benachrichtigen …«

»Du darfst nicht mit ihnen sprechen. Bleib im Haus. Ich bin schon unterwegs.« Sie legt auf.

Ich drehe mich zu Callum.

»Glauben die, dass alles meine Schuld ist?«

Callum geht zum Fenster und beobachtet, wie sich weitere Reporter auf dem Bürgersteig einfinden. »Die Polizei ist da«, sagte er. »Hey, sieh dir mal an, wie sie sie verscheuchen.« Wir pressen beide das Gesicht gegen die Scheibe, um besser sehen zu können. »Na, Gott sei Dank«, sagt er.

»Wie ist es bei dir mit der Polizei gelaufen?«, frage ich. Ob er ihnen wohl von uns erzählt hat?

»Sie haben alles mitgenommen.«

»Bei mir auch«, erwidere ich und wende mich vom Fenster ab. »Das ist alles so unwirklich. Polizei, Medien … Hast du mit Riley oder Joel gesprochen?«

»Mit Joel. Bei ihm und Riley hat die Polizei auch alles mitgenommen.« Er reibt sich mit den Händen übers Gesicht. »Ich kann einfach nicht glauben, was da gerade passiert.«

Ich höre, wie ein Auto auf unsere Auffahrt fährt. Das ging ja schnell. Dann klingelt es. Es ist also nicht Mum …

»Ist denn das zu fassen?«, sprudelt Riley los, sobald ich die Haustür geöffnet habe. Joel folgt ihr ins Haus. Ich winke Rileys Mum zu, die im Auto bleibt.

»O. Mein. Gott. Sie haben alles mitgenommen! Mein Handy, mein iPad und meinen beknackten Laptop. Ich konnte dich nicht mal anrufen, weil ich die Nummer nicht habe. Dabei geh ich noch nicht mal auf die Websites, nach denen sie mich gefragt haben! Was für ein Aufwand wegen nichts.«

Riley hat eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen zupft sie sich an den Haaren herum. Ich bin bestürzt, weil sie sich überhaupt keine Sorgen um Sierra zu machen scheint. Sie blickt mir forschend ins Gesicht.

»Nun erzähl mir bloß nicht, dass auch du auf sie reingefallen bist. Mensch, Taylor, überleg doch mal! Die sitzt jetzt irgendwo und lacht sich kaputt. Sierra liebt es, im Rampenlicht zu stehen – und genau das wird passieren, wenn sie zurückkommt. Jetzt hält sie erst mal alle in Trab … die Polizei, die Medien, ihre Eltern, ihre Freunde …«

Ich hoffe, Riley hat recht. Ihre Zuversicht gefällt mir und verscheucht meine finsteren Gedanken.

»Glaubst du denn, sie ist einfach ausgerissen?«, frage ich.

»Ich glaube, dass sie die ganze Sache inszeniert hat. Um ihre fünf Minuten Ruhm zu bekommen.«

Würde Sierra so etwas tun? Sie hat schon etliche verrückte Sachen angestellt, aber das wäre mit Abstand das Verrückteste, was sie je gemacht hätte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihren Eltern das antun würde. Zumindest einem von uns hätte sie es vorher erzählt«, sage ich. Mir hätte sie es erzählt, denke ich bei mir.

»Sie ist wirklich total scharf auf Aufmerksamkeit«, meint Callum, »was ja kein Wunder ist! Ihre Eltern sind doch nie zu Hause. Vielleicht hat sie gehofft, ihre Eltern auf diese Weise dazu zu bringen, ihr endlich einmal zuzuhören. Ihr ganzes Leben lang haben andere auf sie aufgepasst – ihre Eltern gehen ja ständig zu irgendwelchen blöden Veranstaltungen. Vielleicht ist das ein Hilferuf.« Er steht auf. »O Mann, ich hoffe, dass es so ist.«

Callum blickt aus dem Fenster und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Meine Eifersucht meldet sich zurück. Ich schäme mich augenblicklich.

»Mensch, ist das ein Schlamassel.« Riley setzt sich und stützt das Gesicht in die Hände. »Was, wenn wirklich etwas passiert ist?«, flüstert sie. »Scheiße.«

»Hör auf, Riley«, sagt Callum, der hinter ihr steht und ihr die Hände auf die Schultern legt. Joel, der ebenfalls auf dem Sofa sitzt, rückt näher an Riley heran. Riley atmet tief durch, lehnt sich zurück und lässt den Kopf gegen die Sofalehne sinken.

»O Gott, Sierra, komm doch endlich nach Hause«, sagt sie. Die Veränderung, die mit Riley vor sich gegangen ist – die Tatsache, dass sie sich auf einmal Sorgen um Sierra macht –, jagt mir Angst ein.

Ich sehe, wie Mums Auto die Auffahrt hochkommt. Die Garagentür öffnet sich, und Mum fährt hinein. Mir wird ganz flau im Magen. Niemand sagt ein Wort. Wir alle starren auf die Tür, durch die sie gleich hereinkommen wird. Die Tür geht auf. Mums Gesicht ist ernst. Ihre normalerweise ordentlichen Haare sind total zerzaust. Offenbar hat sie x-mal mit den Händen darin herumgewühlt. Das macht sie immer so, wenn sie unter Stress steht. Unter ihren blutunterlaufenen Augen sind dunkle Ringe zu sehen. Wir warten. Callum ringt die Hände. Riley hält die Luft an. Joel blickt zu Boden.

Die Angst schnürt mir die Brust zusammen.

»Ich habe keine guten Neuigkeiten«, teilt Mum uns geradeheraus mit. »Es gibt immer noch kein Lebenszeichen von Sierra. Die Polizei befürchtet mittlerweile das Schlimmste. Tut mir leid, dass ich euch nichts Erfreulicheres mitteilen kann.«

Panik steigt in mir auf. Mein Augen irren im Raum umher, doch niemand erwidert meinen Blick. Jeder starrt mit zitternder Unterlippe zu Boden. Der Schock hat allen die Sprache verschlagen.

»Aber was Genaues wissen sie nicht, oder?«, sage ich mit viel zu lauter Stimme. »Ich meine, sie könnte doch mit Jacob auf und davon sein.«

»Wie kannst du bloß so dumm sein?« Mums Atem beschleunigt sich. »Er heißt nicht Jacob Jones. Er hat einen falschen Namen benutzt. Das hat die Polizei herausgefunden. Sie ist an einen Pädophilen geraten, Taylor. Und du ebenfalls«, fügt sie mit zittriger Stimme hinzu.

»Aber er hatte doch eine E-Mail-Adresse.« Ich weiß, dass sich das naiv anhört, bin mir aber sicher, dass man E-Mail-Adressen zurückverfolgen kann.

»Seine E-Mail-Adresse lässt sich nicht zurückverfolgen.« Sie macht einen völlig erschöpften Eindruck, weil sie die ganze Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht hat, dass ich an Sierras Stelle hätte sein können. Außerdem hat sie Schuldgefühle, weil sie froh ist, dass es nicht mich getroffen hat.

Ich gehe zu ihr und schlinge die Arme um sie, was dazu führt, dass sie die Beherrschung verliert. Sie umklammert mich so fest, dass ich kaum Luft bekomme, und fängt an zu schluchzen. Ich kann die anderen zwar nicht sehen, nehme aber an, dass sie jetzt lieber nach Hause gehen würden. Mum und ich sind solche Situationen gewöhnt und haben sie schon unzählige Male durchexerziert. Wir wissen, wie man mit Kummer umgeht. All das haben wir nach Dads Tod schon durchgemacht … Trotzdem ist das jetzt irgendwie anders. In mir lauert irgendetwas Finsteres, das ich nicht zu greifen vermag, das mich aber vollständig ausfüllt. Ich verdränge dieses Gefühl, so gut es geht, und als Mums Schluchzen etwas nachlässt, lasse ich sie los.

»Du solltest dich hinlegen«, sage ich. »Du bist völlig fertig.«

Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und sieht die anderen an. »Was sagt ihr denn dazu?«

Ich merke, dass niemand antworten möchte. Unbehagliches Schweigen breitet sich aus.

»Wir hoffen, dass sie tatsächlich mit diesem Typ durchgebrannt ist und unversehrt zurückkommt«, sagt Callum schließlich.

Riley sagt nichts, und Joel ist in Anwesenheit von Eltern ohnehin kein großer Redner.

Mum schaut Callum und die anderen an. Sie spitzt die Lippen und spielt nervös an ihren Händen herum.

»Die Polizei hat von einigen Aufnahmen der Überwachungskameras in der Mall Vergrößerungen gemacht. Der Typ trug ein Baseballcap, sodass sein Gesicht nur schlecht zu erkennen ist, aber zumindest haben sie einen Anhaltspunkt.«

»Wissen sie, wer er ist?«, fragt Callum.

»Weiß ich nicht genau, weil sie nur dies und das angedeutet haben. Ich habe jedoch mitbekommen, was einer der Beamten über Fälle mit Internetstalkern gesagt hat – die er als Phantome bezeichnet hat, vermutlich weil die Täter verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Tut mir leid, Leute, aber ich glaube, falls dieser Typ nicht irgendwann unvorsichtig gewesen ist und zum Beispiel von anderen Überwachungskameras aufgenommen wurde, wird es für die Polizei schwierig sein, ihn zu finden.«