Callums Mum setzt uns vor dem Schultor ab. Bevor wir reingehen, nimmt Callum mich in die Arme. Es ist schön, ihm wieder so nahe zu sein. Komischerweise kommt es mir jetzt so vor, als hätten wir uns nie geküsst. Es wäre falsch, die Sache jetzt fortzusetzen. Seit dem bewussten Tag hat keiner von uns darüber gesprochen. Es ist, als wären unser Geknutsche und unser Streit nichts als ein Traum gewesen. Diese Geschichte mit Sierra drängt alles andere in den Hintergrund. Manchmal frage ich mich, ob das unsere einzige Chance war und ob wir nie wieder imstande sein werden, darüber zu reden.
»Bist du bereit?«
Ich nicke, hole tief Luft und gehe durch das Tor in Richtung Mensa.
Riley und Joel sind bereits da. Sie sind von Schülern umringt, die Einzelheiten wissen wollen. Izzy ist ebenfalls unter ihnen. Sie umarmt mich. Tränen strömen ihr übers Gesicht.
»Entschuldige, aber ich mach mir solche Sorgen.« Ihre Freundinnen legen die Arme um sie und drücken sie auf ihren Stuhl. Ich bin so außer mir, dass ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll.
Riley sitzt mit eisiger Miene da.
Joel gibt den Beschützer. »Leute, wir wissen auch nicht mehr als ihr. Lasst die Mädchen in Ruhe.« Er scheucht die anderen weg, die ein Stück zurückweichen, aber in der Nähe bleiben, um hören zu können, was wir sagen.
Callum rückt seinen Stuhl neben meinen und schirmt mich vor den Blicken der Menge ab.
»Bist du okay?«, fragte er in so vertraulichem Ton, als wären wir ein Paar. Ich kann sein Rasierwasser riechen. Unsere Beine pressen sich aneinander. Wir sind uns nah – und gleichzeitig sind wir es nicht.
Ich nicke.
»Alle starren uns an«, flüstere ich, als ich den Blick durch die Mensa schweifen lasse. Niemand schaut weg. Ihre Neugier ist stärker als ihre guten Manieren. Es ist ihnen egal, dass sie sich taktlos verhalten.
»Wie sollen wir denn in der Klasse sitzen und uns konzentrieren, wenn das so weitergeht?«, sage ich zu Callum.
»Wenn du es nicht schaffst, gehen wir nach Hause. Ich brauch bloß Mum anzurufen, damit sie uns abholt. Dann versuchen wir es morgen noch einmal«, erwidert er. Mir wird klar, dass seine Mum ihm geraten hat, diesen Vorschlag zu machen.
Über Lautsprecher kommt eine Durchsage.
»Alle Schüler möchten sich bitte in die Aula begeben.«
Das war der Schulleiter. Mir schnürt sich die Brust zusammen. Es geht um Sierra, das weiß jeder. Leise gehen alle den Korridor entlang. Weder Lachen noch Gequatsche sind zu hören, nur Gemurmel und das Schlurfen von Füßen. Das alles ist so unnatürlich, dass es gespenstisch wirkt.
Der Schulleiter steht vorn auf dem Podium. Neben ihm sehe ich unsere Schulpsychologin und Kel. Die Lehrer nehmen auf dem Podium am Rande der Aula Platz. Als alle sitzen, ergreift der Schulleiter das Wort.
»Guten Morgen allerseits.« Er macht eine Pause und blickt umher. »Ich sage Guten Morgen, aber es ist kein guter Morgen … Sicher wissen viele von euch bereits, dass eine unserer Schülerinnen, Sierra Carson-Mills, vermisst wird. Wir kennen noch nicht alle Einzelheiten, die mit Sierras Verschwinden zusammenhängen, aber wir wissen, dass sie sich am Freitag nach der Schule mit jemandem in der Stadt getroffen hat und seitdem nicht mehr gesehen wurde. Die Polizei untersucht den Fall. Das hier ist Oberinspektor Parkinson, der gern ein paar Worte an euch richten würde. Bitte hört gut zu.«
Kel tritt ans Mikrofon. Da er sehr groß ist, muss er den Kopf nach unten beugen. Der Schulleiter stellt ihm das Mikrofon höher.
»Hallo. Ich bin Oberinspektor Parkinson und untersuche das Verschwinden eurer Mitschülerin Sierra.« Er räuspert sich. »Die Polizei macht sich große Sorgen um Sierra. Wir haben Aufnahmen einer Überwachungskamera, auf denen zu sehen ist, wie sie sich am Freitag um siebzehn Uhr vor Hummingbird Cupcakes in der City Mall mit einem Unbekannten unterhält. Anschließend sind die beiden zusammen weggegangen, und seitdem ist Sierra verschwunden. Ich werde eurem Schulleiter meine Telefonnummer geben. Wer Informationen über Sierra, den Mann, mit dem sie sich getroffen hat, oder ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort hat, möchte sich bitte bei uns melden. Teilt uns bitte alles mit, auch wenn ihr die Information nicht für wichtig haltet. Aber vielleicht könnte gerade sie das fehlende Glied in der Kette sein, das uns auf die richtige Spur bringt. Danke.«
Offenbar haben sie keine Ahnung, wo Sierra sich befindet oder wer Jacob Jones wirklich ist.
Die Schulpsychologin tritt ans Mikrofon. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, bekomme aber mit, dass sie sagt, wie wichtig es sei, dass wir uns gegebenenfalls an sie wenden. Sie teilt uns mit, dass sie im Laufe des Tages jede einzelne Klasse aufsuchen werde und uns jederzeit zur Verfügung stehe, falls wir unter vier Augen mit ihr sprechen wollen.
Ich bin mir nicht sicher, wie viele meiner Mitschüler dazu bereit sind. Nach Dads Tod hat Mum mich zur psychologischen Beratung geschickt. Zu Anfang hatte ich das Gefühl, als würde mein Schmerz dadurch nur noch schlimmer. Ich habe ewig gebraucht, um daran zu glauben, dass Janelle mir vielleicht helfen könnte.
Nach der Versammlung in der Aula verläuft der Tag in etwa so, wie er begonnen hat: Meine Mitschüler starren mich an und stellen mir Fragen, die ich nicht beantworten kann.
Als ich von der Schule nach Hause komme, ruft ein Polizeibeamter an, der mir psychologische Betreuung anbietet. Ich lehne ab und lege auf. Ich habe schon damals lange gebraucht, um Vertrauen zu Janelle zu fassen. Ich würde zwar gern mit jemandem über alles sprechen, aber nicht mit jemandem, den ich nicht kenne.
Mum ist heute zur Arbeit gegangen, aber noch nicht wieder zu Hause – sie besucht Rachel. Ich bin nicht mitgegangen, weil ich weiß, dass Rachel mich immer noch nicht sehen will, ebenso wie ich weiß, dass Mum – auch wenn sie es nicht für richtig hält, dass Rachel mir die Schuld an allem gibt – ihrer Freundin beistehen wird, so wie Rachel auch ihr nach Dads Tod beigestanden hat.
Als Mum nach Hause kommt, erzählt sie mir, dass es gewaltige Spannungen zwischen Rachel und Dave, Sierras Dad, gibt. Offenbar macht sie nicht nur mich für alles verantwortlich, sondern auch sich selbst und Dave, weil sie sich nicht genug um Sierra gekümmert und deswegen nicht mitbekommen haben, was Sierra so alles trieb. Rachel meinte, es habe Warnsignale gegeben, aber sie seien so damit beschäftigt gewesen, die Reise nach Amerika vorzubereiten, und hätten sich dort derart aufs Geschäft konzentriert, dass sie Sierras Probleme gar nicht wahrgenommen hätten.
Ich verstehe nicht ganz, was sie mit Problemen und Warnsignalen meint … Dass Sierra diese Fotos von ihren Brüsten verschickt hat? Aber bei dieser Sache war ich doch dabei! Die Typen wollten unsere Brüste sehen, wie alle diese Typen es wollen. Sierra hatte nur gelacht und gesagt: »Na, dann wollen wir ihnen mal einen schönen Anblick spendieren.« Anschließend schob sie ihr Handy unter ihr Top und schickte das Bild, ohne zu zögern, ab. Heute kommt mir das Ganze blöd vor, aber damals fanden wir es beide einfach nur lustig. Von den Typen haben wir danach nie wieder etwas gehört.
Ich glaube, Rachel sucht nach etwas, das nicht existiert. Sie will eine Antwort oder eine Erklärung, aber es gibt keine.
***
Ich habe mir in der Schule einen Computer ausgeliehen, sodass ich Mums altes, lahmes Ding nicht mehr benutzen muss. Nach dem Abendessen hole ich das Gerät ins Wohnzimmer und setze mich aufs Sofa. Ich rufe die zwei Fotos auf, die Jacob Jones mir geschickt hat, und sehe sie mir genau an. Sie sind wirklich gut gemacht. Und das zweite hat er genau zum richtigen Zeitpunkt gemacht. Was für Fotos er Sierra wohl geschickt hat? Ich gehe auf Cabe Osrics Website und werfe einen Blick auf seine Fotos. Viele australische Motive – Städte, Felder, Landschaften im Outback, wunderschöne Strände, umwerfende Sonnenuntergänge, Gewitterhimmel. Australische Symbole, Flaggen, Gesichter.
Ich stelle den Computer auf den Couchtisch und starre zur Decke. Wenn ich an das denke, was Jacob Jones uns angetan hat, fühle ich mich benutzt und missbraucht. Aber dazu habe ich kein Recht – nicht solange ich hier auf dem Sofa liege, im Wohnzimmer und in Sicherheit bin. Ein brennender, unerbittlicher Schmerz erfüllt mich.
Ich richte den Blick wieder auf meinen Computer.
Jacob Jones hat uns online gefunden. Vielleicht kann ich ihn genauso finden.