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Am Mittwoch lasse ich den Unterricht über mich ergehen und sondere mich von den anderen ab. Zu Hause verbringe ich den Abend damit, Chatrooms zu durchforsten. Am Donnerstag bleibe ich die ganze Nacht auf, um die Gespräche von Leuten zu lesen und nach Jacob Jones Ausschau zu halten, jedoch ohne Erfolg. Um vier Uhr dreißig morgens sinkt mir der Kopf auf die Schreibtischplatte und ich schlafe ein.

Am Freitag gehe ich nicht zur Schule. Vormittags versuche ich, Mum im Krankenhaus zu erreichen, um ihr Bescheid zu sagen, erfahre jedoch, dass sie bereits Feierabend gemacht hat. Um zehn Uhr? Vielleicht ist sie ja ebenso bedrückt wie ich und von bösen Vorahnungen erfüllt. Seit fast einer Woche ist Sierras Handy nicht benutzt worden, seit fast einer Woche hat niemand sie gesehen. Die Polizei hat endlich eine Pressemitteilung herausgegeben. Gestern Abend habe ich mir das Ganze im Fernsehen angesehen. Sehr ausführlich war es nicht. Eigentlich wurden nur ihr Name und ihr Alter angegeben und gesagt, dass sie vermisst wird. Auf dem Foto, das sie zeigten, war Sierra in ihrer Schuluniform zu sehen, mit zurückgebundenem Haar und ungeschminkt. Ich hatte erwartet, dass sie ein Bild veröffentlichen, auf dem sie eher so aussieht wie an dem Tag, an dem sie verschwunden ist – mit Make-up wirkt sie nämlich wesentlich älter.

Callum ist gestern nicht in die Schule gekommen, und heute Morgen hat er mir per SMS mitgeteilt, dass er heute ebenfalls zu Hause bleibt. Gegen Mittag bringt seine Mum ihn mit dem Auto zu uns und fährt wieder ab, ohne ins Haus zu kommen.

Callum kommt herein.

»Ich hoffe, es ist okay, dass ich hier bin«, sagt er. »Ich … ich wollte nicht allein zu Hause rumsitzen.«

Kurze Zeit herrscht angespannte Stille. Hat er das gesagt, damit ich nicht auf falsche Gedanken komme? Ich gehe nicht darauf ein, weil das nicht der passende Moment ist. Trotzdem bin ich froh, dass er da ist. Ich möchte auch nicht alleine herumzusitzen.

Callum ist schweigsam und unruhig, sodass ich mich frage, ob er ebenso wie ich von bösen Vorahnungen erfüllt ist. Ich traue mich nicht, darüber zu sprechen, fast als würde ich befürchten, das Unheil damit heraufzubeschwören. Callum blättert in Mums Reisezeitschriften herum und zappt sich im Fernsehen durch die Kanäle, doch nichts fesselt sein Interesse.

Mum ist immer noch nicht da. Ich versuche, sie über ihr Handy zu erreichen.

»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, sagt sie.

»Wieso? Ist alles in Ordnung?«

»Wir reden miteinander, wenn ich zu Hause bin.«

Wenige Minuten später kommt Mum mit düsterer Miene herein. Sie setzt sich an den Tisch, steht jedoch sofort wieder auf. Dann läuft sie hin und her und ringt die Hände.

»Mum, was ist denn los?« Ich spüre, wie sich alles in mir verkrampft. Normalerweise sagt sie einfach, was sie beschäftigt. Sie bleibt stehen und sieht mich an.

»Man hat eine Leiche gefunden … in der Nähe von Ballarat.« Ihre Stimme klingt seltsam hohl. »Ein Forstbeamter hat in einer Kiefernschonung einige halb vergrabene Kleidungsstücke entdeckt. Da ihm das verdächtig vorkam, hat er die Polizei gerufen, die dann eine Leiche freigelegt hat.«

»Ballarat?«, wiederhole ich. Das ist zwei Stunden von hier entfernt. »Was für Kleidungsstücke?«

»Rachel und Dave sind hingefahren, um festzustellen, ob es Sierra ist.«

»Was für Kleidungsstücke?«, fragte ich noch einmal.

Mum schluckt schwer. »Ein blaues Top«, sagt sie.

Ein eisiges Gefühl durchströmt mich. Ich kann mich nicht mehr rühren, kann nicht mehr atmen. Es ist, als wäre ich gerade wie in einem Zeichentrickfilm von einer Dampfwalze platt gemacht worden. Ich bin völlig fertig und empfinde nichts als unerträglichen Schmerz. Ich zwinge mich, Atem zu holen und meine Umgebung wieder wahrzunehmen.

Mum starrt mich an. Callum hat die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben.

»Und was machen wir jetzt?«, flüstere ich. Meine Kehle ist so ausgetrocknet, dass mir das Sprechen wehtut. Ich huste.

»Wir warten«, erwidert Mum. Sie setzt sich aufs Sofa, lehnt sich mit geschlossenen Augen zurück und atmet tief durch.

Wir sitzen auf dem Sofa – stundenlang, wie es scheint – und warten darauf, dass das Telefon klingelt. Ich schließe ebenfalls die Augen und zähle meine Atemzüge, was mich ein wenig ablenkt. Mir wird klar, dass mich schon heute Morgen beim Aufwachen ein Gefühl der Trauer befallen hat. Irgendetwas hat sich im Laufe der Nacht verändert, als ich nach Jacob suchte und die Hoffnung verlor. Irgendwie wusste ich da schon Bescheid.

Als das Telefon klingelt, zucken wir alle zusammen. Ich fahre hoch und setze mich gerade hin. In meinem Kopf hämmert es wie wild. Ich sehe Mum an. Sie steht auf, geht mit steifen Bewegungen zum Telefon, nimmt den Hörer ab und presst ihn sich gegen das Ohr.

Sie hört einen Moment zu.

»Ja«, flüstert sie.

Es ist der Anruf.

Ich erhebe mich und trete hinter sie.

»Danke für den Anruf.« Sie legt auf und dreht sich zu mir. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. »Er hat sie erwürgt«, stößt sie mit heiserer Stimme hervor.

Ich umarme Mum und wir brechen in Schluchzen aus.